Per
Berlin Marzahn, Sommer 1994
„Rolf möchte, dass du ihn zurückrufst.“
Per verdrehte die Augen. „Weiß Papa schon, dass ich sitzen bleibe?“
„Ja, ich habe es ihm gesagt.“
„Musste das sein? Wahrscheinlich hätte er es nicht gemerkt, wenn du es für dich behalten hättest. Er weiß doch gar nicht, in welche Klasse ich gehe.“
Sonja zog die Augenbrauen hoch. „Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Außerdem ist es dir doch angeblich egal, eine Ehrenrunde zu drehen. Warum macht es dir dann etwas aus, wenn Rolf es weiß?“
Fluchend stapfte Per in sein Zimmer. Leider hatte seine Mutter einen wunden Punkt getroffen. Klar, es könnte ihm egal sein, was sein Erzeuger, der mit einer anderen Familie in einem Berliner Villenviertel lebte, von ihm dachte. War es aber nicht. Rolf war Chefarzt für Neurochirurgie und seine Mutter hatte als Krankenschwester in der Abteilung gearbeitet, als Rolf vor fast achtzehn Jahren den Posten übernommen hatte. Ein Jahr später wurde Pia geboren, doch damals hatte Rolf sich noch nicht zu ihnen bekannt. Sonja war Anfang zwanzig gewesen, Rolf Ende dreißig und er war mit der Tochter seines ehemaligen Chefs verheiratet. Sonja hatte sein Leben nicht zerstören wollen und geheim gehalten, dass Pia Rolfs Tochter war. Zwei Jahre später kam Per auf die Welt und alles hatte sich verändert. Auch wenn nichts an Per an ein putziges Engelchen erinnerte, lächelte seine Mutter jedes Mal, wenn diese Geschichte zur Sprache kam, und behauptete, er sei ihr Engel mit der geheimnisvollen Kraft, Risse zwischen Menschen zu kitten. Seither kümmerte Rolf sich um sie. Sonja ließ zwar nicht zu, dass er ihr Geld gab, doch er durfte Pia und Per Geschenke machen, ihnen einen Urlaub finanzieren, Pias Musikunterricht und Pers Sportverein bezahlen. Außerdem traf er sich gelegentlich mit ihnen und nahm einen gewissen Anteil an ihrem Leben. Auch wenn Per versuchte, sich dagegen zu wehren, war sein Vater eine Person, zu der er aufblickte. Es war lächerlich, aber er war peinlich berührt, dass Rolf ihm wegen der Ehrenrunde den Kopf waschen würde. Er warf sich aufs Bett und schlug mit dem Kopf auf sein Kuschelkissen.
Seine Mutter klopfte. „Ruf ihn an und bringe es hinter dich.“
„Ja“, brummte er und stemmte sich hoch. Sie hatte recht, er würde ohnehin keine Ruhe finden, bevor er das Gespräch geführt hatte.
„Hi, du willst mich sprechen?“, fragte Per, nachdem sein Vater sich wie üblich sehr förmlich gemeldet hatte.
„Hallo Per, schön dass du so schnell zurückrufst. Wie geht es dir?“
„Geht schon.“
„Die Sommerferien fangen Ende nächster Woche an.“
„Ja“, antwortete Per gedehnt. Rolf wollte doch wohl kaum mit ihm über die Sommerferien sprechen.
„Ich habe einen Ferienjob für dich organisiert. Du kannst in der Notaufnahme der Klinik als Aushilfe arbeiten. Die brauchen jemanden, der Botengänge erledigt, zwischendurch aufräumt und sauber macht.“
„Aber ich …“, begann Per Einspruch zu erheben.
Doch sein Vater unterbrach ihn. „Du kannst gleich Montagmorgen anfangen. Sonja hat Frühschicht und nimmt dich mit. Sie zeigt dir, wo du dich melden musst.
Per biss sich auf die Lippe. Das war ein abgekartetes Spiel! Seine Eltern steckten unter einer Decke, um ihm einen Denkzettel zu verpassen. Nun gut, er würde in der Notaufnahme aufkreuzen und sich dort so dumm anstellen, dass man ihn schneller wieder vor die Tür setzen würde, als sein Vater den Golfschläger schwingen konnte. Kein Wort verlor Per gegenüber seiner Mutter und stand bereit, als sie am frühen Morgen seines ersten Ferientages ihre Tasche schulterte und die Wohnung verließ. Wortlos eilten sie durch die kühle Morgenluft und nahmen die U-Bahn in Richtung Berlin Mitte. Sonja brachte ihn in die Notaufnahme und stellte ihn der Dienstleitung vor.
„Ich wünsche dir einen schönen Tag. Wir sehen uns zu Hause.“ Per meinte, ein Zittern in ihrer Stimme zu hören. Er sah ihr hinterher, wie sie durch den Gang hastete und durch eine sich automatisch öffnende Tür verschwand. Er wollte nicht, dass seine Mutter traurig war. War es, weil er sitzen blieb oder weil sie mit der Erziehungsmaßnahme, die sich sein Vater ausgedacht hatte, nicht einverstanden war? Oder belastete es sie möglicherweise, dass er nicht mit ihr gesprochen hatte?
„Schön, dass du uns aushilfst, Per.“ Martha, die leitende Pflegerin riss ihn mit ihrer energischen Stimme aus seinen Gedanken. „Wir können jede Hilfe gut gebrauchen, alle sind chronisch überarbeitet.“
Sie wies auf eine Tür neben der Theke, die wohl die Schaltzentrale der Notaufnahme war. „Da sind der Aufenthaltsraum und die Umkleide. Atilla zieht sich auch gerade um, er zeigt dir alles und du kannst ihn heute begleiten. So bekommst du einen Eindruck von den Abläufen. Um den Vertrag und die Schweigepflichtserklärung kümmern wir uns später.“
Per nickte und ging in den Aufenthaltsraum, wo zwei Frauen mit Kaffeetassen vor sich saßen und plauderten. „Hallo“, begrüßte ihn die ältere der beiden. „Du bist sicher Per. Atilla ist in der Umkleide.“
„Danke.“ Per öffnete eine Tür, auf der ein grünes Männchen abgebildet war. Das Erste, worauf sein Blick fiel, war der knackige Po eines jungen Mannes in einer schwarzen, knappen Unterhose. Der überoptimale Auslöser bedingte ein fröhliches Zucken in seiner Hose. Per leckte sich über die Lippen. Vielleicht sollte er seinen Rauswurf doch noch um ein paar Tage verzögern.
Leider streifte der Mann in diesem Moment eine weite, blaue Hose über. Er drehte sich um. „Hallo, ich bin Attila. Martha sagte, dass du mir heute hilfst.“ Er strahlte ihn an und streckte ihm die Hand entgegen.
„Per.“ Er nahm die Hand und grinste ebenfalls.
Nach einem gemeinsamen Kaffee starteten sie in den Tag. Attila war gesprächig und erzählte ihm, dass er vor einem Jahr die Krankenpflegeschule abgeschlossen hatte und seither in der Notaufnahme arbeitete. In den durch Vorhänge voneinander abgetrennten Kabinen lagen bereits mehrere Patienten, die auf sie warteten. „Die schweren Fälle, die der Notarzt ankündigt, werden direkt in den Not-OP durchgeschoben. Wir kümmern uns mehr um Platzwunden, verstauchte Gelenke und solche Sachen“, erklärte Attila.
„Guten Morgen“, flötete er fröhlich und schob einen Vorhang beiseite. Ein bärtiger Mann in einem schmutzigen, zerrissenen Mantel lag auf der Liege und schlief. Ein widerlicher Gestank ging von ihm aus. Attila ignorierte den Geruch und rüttelte den Mann sanft. „Herr Kowalski, aufwachen.“
Der Mann gab ein gurgelndes Geräusch von sich und schlug die Augen auf. „Hey, was willst du von mir, Kanake?“
„Ich will Ihnen doch nur helfen, Herr Kowalski. Ich bin Krankenpfleger.“
Der Alkoholdunst, den der Mann ausatmete, hätte einen Atemtest sogar noch aus zehn Metern Entfernung grün werden lassen. „Ich brauche keine Hilfe.“
„Sie haben eine Platzwunde am Kopf. Die Polizei hat Sie gebracht.“
Er faste an die Schläfe und betrachtete das Blut an seinen schwieligen Fingern. „Der Kopf tut gar nicht weh. Mein Bein tut weh.“
Attila schob ein Wägelchen zum Bett, auf dem sich Desinfektionslösung und Verbandszeug befanden. „Dann schauen wir uns Ihr Bein auch gleich noch an.“
Ohne weitere Diskussionen ließ Herr Kowalski sich von Attila verbinden und zeigte anschließend auf den linken Unterschenkel. „Weh tut es da.“
Mit Mühe unterdrückte Per ein Würgen, als Attila die Hose des Mannes hochzog und ihm den Schuh auszog. Seitlich am Unterschenkel befand sich eine tiefe, eitrige Wunde. „Das sieht gar nicht gut aus“, bemerkte Attila stirnrunzelnd. „Das muss sich der Arzt ansehen.“
Wenig später saß Dr. Gießler neben der Liege und schnitt mit dem Skalpell fauliges Gewebe von Herrn Kowalskis Bein. Per hatte den Auftrag erhalten, ihm zu assistieren. Er trug Gummihandschuhe, reichte Tupfer an und wischte Blut weg. Nachdem er ein paar Minuten gegen Übelkeit und Würgereiz angekämpft hatte, beruhigte sich sein Magen wieder und er beobachtete fasziniert, wie Dr. Gießler die Klinge durch das Gewebe zog, den Eiter und die abgestorbenen Bereiche wegschnitt, bis Blut aus dem gesunden Fleisch hervorquoll.
„Das nennt man Debridement“, erklärte Dr. Gießler.
„Warum tut ihm das nicht weh?“ Irritiert betrachtete Per Herrn Kowalski, der laut schnarchte. Während sie auf den Arzt gewartet hatten, war er wieder eingenickt.
„Das tote Gewebe hat keine Nerven mehr und außerdem liegt eine fortgeschrittene periphere Neuropathie vor, bedingt durch Alkohol und möglicherweise auch Diabetes.“
„Vorhin sagte er aber, dass er Schmerzen im Unterschenkel hat.“
„Die Beschwerden hat er vermutlich durch die Nervenschädigung. Durch das Entfernen der abgestorbenen Gewebeteile füge ich ihm aber keine weiteren Schmerzen zu.“
„Muss man die Wunde nicht zunähen?“ Zweifelnd fixierte er den offenen Bereich, der viel zu groß war, um die Haut darüber zusammenzuziehen. Wie verschloss man so eine Wunde?
„Nein, die Wunde ist infiziert und man bekommt die Keime nicht aus dem Gewebe. Es muss von unten abheilen.“ Er legte die Instrumente beiseite. „Ich decke sie nur leicht ab. Attila soll die Sozialarbeiterin bitten, mit Herrn Kowalski zu sprechen. Vielleicht findet sie eine Möglichkeit, ihm eine Unterkunft zu verschaffen.“
Per hielt den Wundverband fest, während Dr. Gießler ihn anklebte. „Das hast du gut gemacht. Nebenan muss ich eine Platzwunde bei einem Kind nähen. Kannst du mir dabei auch noch assistieren?“
„Klar.“
Sobald sie die Kabine betraten, begann das Kind zu brüllen wie am Spieß und klammerte sich an seine Mutter. Seufzend bereitete Dr. Gießler den Eingriff vor, während Per sich neben den Jungen auf die Liege setzte. „Hi, wer bist du denn?“
Der Fünfjährige hörte auf zu schreien und schielte unter dem Arm seiner Mutter hervor, antwortete aber nicht. „Das ist Kevin“, stellte ihn seine Mutter stattdessen vor.
„Ich bin Per.“
Der Kleine schälte sich aus der Umarmung und streckte die Hand aus. „Was hast du da?“
„Nicht, Kevin“, mahnte seine Mutter, als er Pers Narbe berühren wollte.
„Schon okay, du kannst die Narbe anfassen.“
Neugierig pikste Kevin mit den Fingerchen in seine Oberlippe. „Bist du auch genäht worden?“
„Ja.“
Er zeigte auf einen Verband an der Stirn. „Ich muss da genäht werden, weil ich vom Klettergerüst gefallen bin.“
„Zeig mal.“
Er zog den Verband von einer klaffenden Wunde ab.
Anerkennend nickte Per. „Wow, reife Leistung.“
„Hat es weh getan, als du genäht wurdest?“
„Mich mussten sie schlafen legen, ich war nicht so ein Superheld wie du.“
„Ich bin Spiderman.“ Kevin zeigte auf sein T-Shirt, auf dem der Spinnenmann im Sprung abgebildet war.
„Habe ich mir schon gedacht.“
„Können wir loslegen?“, fragte Dr. Gießler, sichtlich erleichtert darüber, dass das Geschrei ein Ende gefunden hatte.
„Ist Spiderman bereit für das nächste Abenteuer?“
Tapfer nickte der Kleine und legte sich auf die Liege. Während Dr. Gießler die Wunde desinfizierte und die Lokalanästhesie einspritzte, stellte Per Kevin Fragen über sein geheimes Leben als Spiderman, die der Junge eifrig beantwortete. Es fiel Per schwer, sich auf den Superhelden zu konzentrieren, da er fasziniert von den schnellen, routinierten Bewegungen war, mit denen Dr. Gießler die Wunde verschloss. „So, fertig.“ Zufrieden klebte Dr. Gießler die Wunde ab und räumte die Instrumente weg.
„Das hast du super gemacht“, lobte die Mutter.
Kevin richtete sich auf. „Bekomme ich jetzt auch so eine Narbe wie du?“
Grinsend half Per ihm von der Liege. „Deine wird bestimmt viel superheldenmäßiger als meine.“
Nach seiner Schicht fuhr Per mit der U-Bahn nach Hause. Nachdenklich ließ er den Blick durch die volle U-Bahn schweifen: All die Menschen, die von der Arbeit nach Hause eilten, in ihre Wohnungen, zu ihren Familien, all die Schicksale, die Probleme, die sie mit sich trugen. Per hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, womit er nach der Schule seine Brötchen verdienen wollte. Der Tag, den er in der Notaufnahme verbracht hatte, war erfüllend gewesen. Er fühlte sich ausgelaugt von all dem Neuen, von den Geschichten, die er gehört hatte, von den Anblicken, die sich ihm geboten hatten. Und er war zufrieden, weil er seinen Beitrag geleistet hatte. Dr. Gießler hatte ihn gelobt und Attila hatte ihm zum Abschied auf die Schulter geklopft. „Bis morgen. Schön, dass du dabei bist.“ War das sein Weg? Führte ihn das Schicksal auch in ein Krankenhaus, so wie seine Mutter und seinen Vater? Er hatte noch nie einen Gedanken daran verschwendet, dass es ihm in die Wiege gelegt worden sein könnte, einen medizinischen Beruf zu ergreifen. Ein aufgeregtes Kribbeln machte sich in seinem Magen breit. Wartete da ein Ziel auf ihn? Gab es einen Grund, warum er sich doch anstrengen sollte, um einen halbwegs guten Schulabschluss zu schaffen? Er dachte an Kevins neugierigen Blick auf seine Narbe. Vielleicht hatte sogar die Missbildung, mit der er geboren worden war, einen tieferen Sinn. Sie hatte das Eis gebrochen, Neugier und Anteilnahme geweckt. Sein Defekt überbrückte den Graben zwischen den verletzten, ängstlichen Patienten und ihm, der auf der Seite der Ärzte und Pfleger stand, besser als jedes mitfühlende Wort.
Zu Hause warf er sich aufs Bett, schaltete den Walkman ein und drehte die Lautstärke hoch. Das war zu viel Input für einen Tag. Er musste erst einmal den Kopf wieder frei bekommen. Einige Zeit später riss Pia die Tür auf. „Verdammt, kannst du nicht auch mal aufmachen, wenn es klingelt? Sie war zerzaust und hatte einen Knutschfleck am Hals. Kein Wunder, dass sie darüber verärgert war, gestört worden zu sein. „Es ist Arvid“, knurrte sie und schob den Jungen durch die Tür, der ängstlich den Kopf einzog.
„Iiich wollte dich nicht stören“, stotterte er.
„Tust du nicht. Komm rein.“ Per zeigte auf den Kopfhörer. „Die Klingel habe ich nicht gehört.“
„Wir wollten doch zusammen lernen. Ich habe Mathe dabei.“
Per öffnete den Mund, um Arvid zu sagen, dass es nicht der richtige Tag sei, um sich mit Algebra zu beschäftigen. Als er jedoch das Strahlen in Arvids Augen sah und die Grübchen, die das Lächeln in seine Wangen zauberte, brachte er es nicht fertig. „Okay“, murmelte er und erhob sich schwerfällig.
Die Arbeit in der Notaufnahme war das Beste, was Per seit langer Zeit getan hatte. Mit jedem Tag, den er dort verbrachte, wurde er süchtiger nach dem Krankenhausgeruch, nach der Hektik, dem Drama und der täglichen Erfüllung, etwas Bedeutsames zu leisten. Mit seiner Mutter sprach er nicht darüber und als sein Vater ihn anrief und fragte, wie es denn so laufe, brummte er nur: „Ganz okay.“ Er musste das erst einmal für sich verdauen und überlegen, was er mit der Erkenntnis anfangen sollte, dass er wohl ein Krankenhausjunkie war. Am liebsten assistierte er Dr. Gießler, der seine Arbeit schätzte. Mittlerweile bereitete er alles vor, räumte auf und dokumentierte. Dr. Gießler dankte es ihm, indem er ihm alles erklärte, ihm zeigte, wie man einen venösen Zugang legte und Wunden behandelte. Unter den Augen des Arztes durfte er sogar selbst venöse Zugänge legen. Eines Nachmittags stand Per in einer Kabine neben Dr. Gießler, der eine tiefe Schnittwunde am Bein eines Landschaftsgärtners nähte. Er war ausgerutscht und hatte sich selbst die Vierkantspitze einer Kreuzhacke tief in den Unterschenkel gerammt. Nachdem Dr. Gießler die Wunde gereinigt hatte, begann er, die Wundränder zu adaptieren. Der Vorhang wurde aufgerissen und Attila stürmte herein. „Herzstillstand in der Fünf!“
„Scheiße!“, fluchte Dr. Gießler. „Zieh dir sterile Handschuhe an, Per und halte alles fest, bis ich wiederkomme.“
Per nickte und streifte in Windeseile sterile Handschuhe über. Dr. Gießler hatte ihm gezeigt, wie er es machen musste, damit sie auch steril blieben. Dann setzte er sich auf den Stuhl und nahm Pinzette und Nadelhalter, die Dr. Gießler achtlos auf das grüne Tuch geworfen hatte und die schon dabei waren von der Liege zu rutschen. „Alles in Ordnung?“, fragte Per den Patienten.
„Hoffentlich dauert das nicht so lange. Ich muss zurück. Wir müssen heute noch fertig werden.“
„So lange wird es schon nicht dauern.“ Per betrachtete die klaffende Wunde und die Instrumente in seiner Hand. Es kribbelte ihm in den Fingern. Er zwang sich, woanders hinzusehen. Das überschritt bei weitem seine Kompetenzen und er würde sich einen Haufen Ärger einhandeln, wenn er diesem Zwang nachgab.
Nach zehn Minuten stöhnte der Mann auf der Liege. „Ich muss wirklich weg. Kannst du den Schnitt nicht zunähen?“
„Das habe ich noch nie gemacht“, gab Per zu.
„Aber du weißt, wie es geht?“
„Theoretisch schon.“
„Dann mach. Mir ist egal, wie es aussieht. Ich bin schon verheiratet.“
„Okay.“ Weitere Überzeugungsarbeit benötigte Per nicht. Er tupfte die Wundränder ab und setzte vorsichtig die gebogene Nadel an der festen Schicht direkt unter der Haut an. Mühelos glitt die scharf geschliffene Spitze in das Gewebe und kam exakt da wieder heraus, wo Per sie haben wollte. Konzentriert achtete Per darauf, gleichmäßige Stiche zu machen, damit die Wundränder perfekt aufeinander zu liegen kamen. Seine Hände zitterten nicht, sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig und Per wusste plötzlich, was er mit seinem Leben anfangen würde. Kurz bevor er fertig war, kam Dr. Gießler wieder herein, doch Per ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und nähte die letzten Stiche, während der Arzt ihm über die Schulter blickte.
„Gut. Den letzten Stich machst du in Verlängerung des Schnitts und führst ihn etwa einen Zentimeter vom Wundwinkel entfernt aus der Haut.“
Per folgte den Anweisungen.
„Jetzt den Knoten.“
Er wickelte den Faden um den Nadelhalter und zog eine Schlaufe heraus.
„Noch ein paarmal, damit es hält.“
Nachdem Per den Faden abgeschnitten hatte, reinigte er die Naht noch einmal und klebte sie ab.
„Das ist eine perfekte Naht“, meinte Dr. Gießler anerkennend. Er verlor kein Wort darüber, dass Per nur eine Aushilfe war und sich mit dieser Aktion deutlich zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Am Abend drückte er ihm ein Kästchen aus Metall in die Hand. „Instrumente und abgelaufenes Nahtmaterial. Besorge dir vom Metzger Schweinepfoten und übe. Die Instrumente bringst du mir zurück, bevor du wieder zur Schule musst.“
Pia quietschte entsetzt, als sie ein paar Tage später den Kühlschrank öffnete und darin eine Schweinepfote auf einem Teller vorfand. Per ließ sich von Dr. Gießler ein Buch über Nahttechniken geben, übte Nähte und chirurgische Knoten. Außerdem bat er Arvid, jeden Tag zu kommen, um mit ihm zu lernen. Er hatte ein Ziel und wenn er diesem Ziel näherkommen wollte, musste er sich richtig ins Zeug legen.
Als Per ein paar Tage später gerade die Liege in einer Kabine abwischte, rief Martha ihn zu sich. „Du sollst in den OP gehen, aus Saal Drei hat jemand angerufen und nach dir gefragt.“
„Warum denn?“
„Weiß ich nicht. Ich habe gesagt, dass hier gerade nicht so viel los ist und ich dich schicke.“
Während Per durch die Flure und die Treppe hinunter zum Zentral-OP eilte, stellte er sich die Frage, warum er dorthin zitiert wurde. Aus alter Gewohnheit war sein erster Gedanke, dass er etwas ausgefressen haben könnte. Zumindest war das immer der Grund gewesen, wenn er zum Direktor der Schule geschickt worden war. Einmal, weil er das Haustier einer Freundin, eine Ratte, in die Schule mitgenommen und auf den Schreibtisch der Englischlehrerin gesetzt hatte. Diese hatte so laut geschrien, dass Per danach ein Summen im Ohr hatte und Susi, die Ratte, hatte vor Schreck auf den Schreibtisch gepinkelt. Zweimal hatte er wegen Prügeleien mit dem Direktor sprechen müssen und warum er das vierte Mal dort gewesen war, daran konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Aber was sollte er denn angestellt haben? Außerdem war der Operationssaal nicht der Ort für Strafpredigten. Dann hätte man ihn doch einfach vor die Tür gesetzt, was er vor drei Wochen noch im Sinn gehabt hatte.
In der Umkleide tauschte er seine blaue gegen grüne Kleidung ein, schlüpfte in Gummiclogs, versteckte seine Haare unter einer grünen Haube und band eine OP-Maske am Hinterkopf fest. Das hatte Attila ihm gezeigt, als er einmal mit im Eingriffsraum der Notaufnahme gewesen war. Er trat auf einen langen Gang und blickte sich um. Hier war er noch nie gewesen. In regelmäßigen Abständen führten breite Türen vom Gang in die Operationsbereiche. Die Türen waren nummeriert und Lämpchen leuchteten an den Seiten. Eine Tür schwang auf und ein Patient wurde auf einer Liege herausgeschoben. Per trat zur Seite, als der Trupp passierte und am Ende des Ganges durch eine Tür aus Milchglas verschwand, auf der Aufwachraum stand.
Aus einem anderen Saal trat eine Frau und blickte sich suchend um. Als sie ihn an der Wand stehen sah, nickte sie ihm zu. „Bist du Per?“
„Ja.“
„Ich bin Anna. Hast du dir schon mal die Hände chirurgisch gewaschen?“
„Nein.“
Sie winkte ihn zu sich. „Ich zeige es dir.“
In einem Raum mit großen Waschbecken aus Edelstahl wusch er sich gründlich die Hände und Arme bis zum Ellbogen und bürstete sich die Nägel sauber, so wie Anna es ihm erklärte und desinfizierte sie anschließend.
„Du darfst jetzt nichts mehr anfassen. Die Türöffner kann man mit dem Fuß betätigen.“
Sie führte ihn in einen der Säle, wo zwei in blaue Mäntel gehüllte Gestalten unter einer starken Lampe standen und sich über einen abgedeckten Patienten beugten. Am Kopfende des Patienten saß eine Frau, vermutlich die Anästhesistin und neben einem der Operateure stand auf einem Hocker eine vierte Person, die vor sich einen grün abgedeckten Tisch mit zahlreichen glänzenden Instrumenten stehen hatte.
Einer der Operateure hob den Kopf und Per erkannte mit Mühe seinen Vater, der eine Spezialbrille mit eingebautem Vergrößerungsglas trug. „Da bist du ja, Per. Sven Gießler sagte, du interessierst dich für den OP. Möchtest du mir zusehen? Wir operieren an der Wirbelsäule.“
„Ja, gerne.“ Mit erhobenen Händen, so wie Anna es ihm gezeigt hatte, stand Per im Raum und wunderte sich über den Vorschlag seines Vaters. Wie kam er zu der Ehre?
„Theo kleidet dich steril ein. Anna erklärt dir, wie es geht. Du darfst nichts anfassen.“
„Geht klar.“
Sein Vater runzelte die Stirn und beugte sich wieder über den Rücken des Patienten. Vermutlich bereute er sein Angebot schon wieder.
Per hatte verstanden, dass er sich auf einem Mienenfeld bewegte und achtete darauf, nur langsam und bedächtig allen Anweisungen zu folgen, die Anna ihm gab. Sie nahm ein Päckchen, riss es auf und hielt es Theo so hin, dass er den Inhalt entnehmen konnte, ohne die Verpackung zu berühren. Er stieg von dem Hocker, entfaltete den Stoff und hielt ihn so hin, dass Per hineinschlüpfen konnte. Dann nahm Theo einen Gummihandschuh und hielt ihn ebenfalls so, dass Per ihn anziehen konnte, ohne ihn oder irgendetwas anderes zu berühren. Nachdem er behandschuht war, sollte er sich um seine eigene Achse drehen, während Theo einen Bändel festhielt, so dass der Mantel sich um ihn wickelte. Das war alles sehr durchdacht und gefiel Per. „Nimm jetzt die Hände an deine Brust, dann berührst du nicht versehentlich etwas Unsteriles“, meinte Theo und wies ihn an, sich dicht neben seinen Vater zu stellen.
„Deine Hände kannst du vorsichtig auf die abgedeckte Fläche legen, nur keinen Druck ausüben“, erklärte sein Vater. „Das ist Dr. Braun aus der Neurochirurgie, Theo und Anna hast du schon kennengelernt und die Anästhesistin ist Dr. Abele.“
Die Anästhesistin lugte hinter ihren Instrumenten hervor. „Hallo.“ An den Fältchen um ihre Augen erkannte Per, dass sie ihn anlächelte.
„Hallo“, erwiderte er.
„Per ist mein Sohn“, erklärte sein Vater zu Pers großer Überraschung, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Er bekannte sich zwar zu seinen unehelich gezeugten Kindern, doch dass er ihn an seinem Arbeitsplatz offiziell vorstellte, wunderte Per doch sehr. „Er macht gerade ein Praktikum in der Notaufnahme und möchte sich auch mal im OP umsehen.“
Fasziniert beobachtete Per, wie sein Vater mit flinken Fingern in der Tiefe arbeitete. Zum Einsatz kamen nicht nur Skalpell und Pinzette, sondern auch Instrumente, die wie kleinere Ausgaben der Bestandteile einer Werkzeugkiste aussahen. Knochenstücke wurden abgehobelt und dann wiederum mit Geduld und Präzision an Nervenhäuten gearbeitet. Einen Teil operierte sein Vater, dann übergab er an Dr. Braun und assistierte ihm geduldig. Ohne innezuhalten, erklärte er Per seine Handgriffe. Allerdings verstand Per kaum etwas davon, die Begriffe waren ihm fremd und er hatte keine Ahnung, was genau sein Vater mit der Wirbelsäule des Patienten anstellte.
„So.“ Mit knacksenden Schultern richtete sein Vater sich auf. „Jetzt müssen wir nur noch zumachen.“
Per blickte auf die Uhr, die an der Wand hing. Drei Stunden waren vergangen! Er hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verflogen war. Sorgfältig nähte Dr. Braun die tiefen Schichten zusammen und adaptierte mit Knopfnähten die Schicht direkt unter der Haut. Das kannte Per schon. Dr. Gießler hatte ihm erklärt, dass man diese Nähte an Stellen machte, die stark strapaziert wurden, um die Spannung auf die Haut zu verringern.
„Sven meinte, dass du in der Notaufnahme schon Hautnähte gemacht hast. Möchtest du es versuchen? Ich assistiere dir.“ Sein Vater hielt ihm den Nadelhalter hin.
„Okay.“ Per spannte die Nadel ein und begann zu nähen. In den vergangenen Tagen hatte er stundenlang geübt und die einfache Hautnaht war keine Herausforderung mehr für ihn.
„Sehr gut“, lobte sein Vater. „Du hast ruhige, starke Hände und bist geschickt. Das ist ein Geschenk.“ Nie würde Per den Blick vergessen, mit dem sein Vater ihn ansah. In seinen Augen spiegelten sich Anerkennung und Freude. Nach seiner Geburt war es das zweite Mal, das ein Blick in Pers Gesicht die Einstellung seines Vaters von Grund auf veränderte.
Bis zum Ende seines Praktikums durfte Per noch ein paarmal zu ihm in den OP und kurz vor Beginn des neuen Schuljahres lud sein Vater ihn zum Abendessen ein. „Sven hat dich gelobt und gemeint, du hast in der Notaufnahme gute Arbeit geleistet. Auch Martha war sehr zufrieden mit dir“, erzählte sein Vater ihm, nachdem sie bestellt hatten. „Damit hast du mich sehr überrascht und ich brauche dir nicht zu sagen, wie glücklich es mich macht, dass du goldene Hände hast. Was wirst du damit anfangen?“
Über diese Frage hatte Per in den vergangenen Wochen intensiv nachgedacht. Die Antwort hatte er rasch gefunden, hatte jedoch daran gezweifelt, ob er es auch würde umsetzen können. Das intensive Arbeiten mit Arvid hatte ihm gezeigt, dass er nicht dumm war. Wenn er sich auf den Schulstoff konzentrierte, fiel es ihm nicht schwer, ihn zu verstehen und zu behalten. Er musste sich nur anstrengen und nun, da er ein klares Ziel vor Augen hatte, war er sich sicher, dass er durchhalten würde. „Ich möchte Arzt werden“, meinte er daher unumwunden.
Sein Vater nickte. „Das freut mich mehr, als du dir vorstellen kannst und ich bin mir sicher, dass du alles, was dazu nötig ist, mitbringst.“
„Danke.“ Per schluckte. Das Vertrauen, das sein Vater in ihn setzte, berührte ihn tief und er nahm sich fest vor, ihn nicht zu enttäuschen.
„Du musst das Schuljahr wiederholen.“
„Ja“, gab Per zerknirscht zu.
„Wenn du Nachhilfeunterricht brauchst, gib mir Bescheid. Ich habe keine Zeit, dir selbst zu helfen, aber ich bezahle den Unterricht.“
„Ich denke, dass ich es so schaffe.“ Einen besseren Lehrer als Arvid konnte er sich nicht vorstellen und wenn er hart arbeitete, kam er sicher zurecht.
Wie er es sich selbst und seinem Vater versprochen hatte, hielt er durch. Sein Abiturzeugnis war zwar nicht so exzellent, wie das, das Arvid ein Jahr später in den Händen hielt, doch es war so gut, dass er ohne Wartezeit mit dem Studium beginnen konnte. Der Notaufnahme blieb er treu und arbeitete so oft er konnte in den Ferien mit. Auch heute noch war er dort ein gern gesehener Gast, auch wenn er nur noch gelegentlich auf eine Tasse Kaffee mit Attila, dem Leiter der Notaufnahme, vorbeischaute.