Kapitel 6

Per

Berlin, 2019

Ein langes Wochenende lag vor Per und er hatte keine Ahnung, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Er konnte nicht jedes Wochenende Dienst machen und die Zeiten, in denen seine Neffen sich gefreut hatten, wenn er etwas mit ihnen unternommen hatte, waren auch vorbei. Dazu kam noch, dass er, seit Arvid mit seiner Familie vor drei Wochen zurück nach New York geflogen war, zunehmend schlechte Laune entwickelte. Er hatte gedacht, einfach nur einen Job erledigt zu haben, als er Madeline operiert hatte. Er hatte getan, was er immer tat, operiert und nebenbei einem alten Bekannten einen Gefallen erwiesen. Doch die wenigen Minuten, die er mit Arvid verbracht hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Ständig geisterte er durch seine Gedanken, Arvids ernster Blick, seine schlanke, hochgewachsene Gestalt, wie er in dem maßgeschneiderten Anzug dagestanden und wie er die Hand seiner Frau gehalten hatte. Tag und Nacht verfolgten Per diese Bilder und er ärgerte sich, wie kühl und distanziert Arvid ihm gegenüber aufgetreten war. Ja, Arvid hatte ihn um Hilfe gebeten und sie hatten sich zwanzig Jahre lang nicht gesehen, doch es war kein persönliches Wort zwischen ihnen gefallen. Keine einzige Erinnerung hatte Arvid mit ihm geteilt und mit keiner Geste und keinem Blick versucht, die Vertrautheit, die sie verbunden hatte, wieder herzustellen. Am meisten ärgerte Per sich über sich selbst, weil er es nicht schaffte, Arvid gegenüber gleichgültig zu sein. Er brauchte eine Ablenkung und er musste sich dringend darum kümmern, seinen Hormonhaushalt in Ordnung zu bringen. Dazu gab es drei Möglichkeiten. Entweder er traf sich mit Konrad, vereinbarte einen Termin bei Marcel oder er besuchte das Dusters , was allerdings nur die Notlösung wäre. Er mochte die Atmosphäre im Dusters , doch wenn er so unter Druck stand, vermied er einen Aufenthalt dort, um sich nicht von der aufgeheizten Stimmung zu einem One-Night-Stand hinreißen zu lassen. Genau dreimal hatte er diesen Fehler begangen und sich anschließend schmutzig und schlecht gefühlt. Er war nicht der Typ für anonymen Sex und es war schon schlimm genug, dass seine Beziehung zu Konrad sich seit über zehn Jahren heimlich und hinter verschlossenen Türen abspielte. Er zückte sein Smartphone und tippte eine Nachricht ein.

 

Badminton am Wochenende?

 

Wenige Minuten später erschien Konrads Antwort auf dem Display.

Sind bei den Schwiegereltern eingeladen. Nächstes Wochenende?

 

Per antwortete umgehend.

Geht klar.

 

Bis zum kommenden Wochenende würde Per es nicht mehr aushalten. Aber zumindest hatte Konrad sich zügig gemeldet. Das tat er eigentlich immer, wenn er sich mit ihm zum Badminton verabredete. Sie schlugen sogar Federbälle über ein Netz, doch dabei handelte es sich nur um das Vorspiel zu dem anschließenden Vergnügen zwischen den Laken. Konrad war ein zuverlässiger Liebhaber und Per wusste, dass er mit ihm regelmäßiger verkehrte als manch anderes lang verheiratete Paar, auch wenn sie sich heimlich treffen mussten.

Per sprach Marcel eine Nachricht aufs Band und fuhr dann mit Bruno einkaufen, der zwar murrte, ihn aber begleitete. Nachdem sie den Großeinkauf erledigt und verstaut hatten, setzte Per sich mit einer Tasse Kaffee auf den Ohrensessel in seinem Wohnzimmer und zückte das Handy. Konrad hatte ihm noch eine Nachricht hinterlassen, dass er sich auf ihr Treffen freue und dringend wieder einmal sportliche Betätigung brauche. Lächelnd schickte er ein Smiley zurück. Mit Schlägern und Federbällen hatte das, was sie wohl beide benötigten, nicht viel zu tun. Dennoch fühlte Per sich nicht in der Lage, bis zum kommenden Wochenende zu warten, und war erleichtert, dass Marcel ihm eine Sprachnachricht hinterlassen hatte, dass er um acht Uhr kommen könne. Bis dahin waren es noch vier Stunden, die würde er überstehen.

 

Wenige Minuten vor der vereinbarten Zeit klingelte Per an der Praxistür. Marcel war Physiotherapeut und bot außerhalb der regulären Öffnungszeiten spezielle Massagen an. Pers Friseur Silvio, der gelegentlich im Dusters Massagen anbot, hatte ihm den Kontakt vermittelt. Nachdem Per ein paarmal sein Verwöhnprogramm im Dusters in Anspruch genommen hatte, war Silvio direkt geworden.

„Könnte es sein, dass du mehr brauchst?“

„Wie bitte?“, hatte Per konsterniert gefragt.

„Intimmassagen mache ich nicht.“

„Danach habe ich doch gar nicht gefragt.“

„Du hast es gestöhnt.“

Es kam selten vor, dass Per peinlich berührt war, doch in diesem Moment war er froh, dass die schummrige Beleuchtung alles ohnehin in ein rötliches Licht tauchte. „War ich so deutlich?“

Silvio nickte. „Da draußen warten die Kerle nur darauf, dass du dich mit ihnen abreagierst. Aber das ist wohl nicht dein Ding.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe es probiert.“

„Mein Physiotherapeut bietet Tantramassagen an. Er ist einfühlsam und diskret. Ich gebe dir seine Nummer.“

Ein paar Wochen lang hatte Per hin und her überlegt. Zu dem Zeitpunkt war er wieder einmal ziemlich frustriert von seiner Beziehung zu Konrad gewesen, der mit seiner Familie vier Wochen lang mit dem Wohnmobil unterwegs war. Er hasste es, nicht mehr als eine Affäre zu sein. Und er hasste es, dass Konrad seit Jahren seine Frau mit ihm betrog. Trotzdem war es die beste Lösung für sie beide. Per wollte mit Konrad keine richtige Beziehung führen. Er liebte ihn nicht. Vielleicht konnte er keinen anderen Mann mehr lieben, nachdem er sein Herz einmal verschenkt hatte. Er gab Konrad, was er in seiner Ehe nicht bekam, und Konrad sorgte dafür, dass er seine Bedürfnisse befriedigen konnte. Per verbrachte gerne Zeit mit Konrad, der immer gut gelaunt war, ihn nicht nur regelmäßig zum Orgasmus, sondern auch zum Lachen brachte und zuverlässig war.

Der Türöffner brummte und Per trat ein. „Marcel?“, rief er ins Dunkel.

„Ich bin schon im Massageraum.“

Nirgendwo brannte Licht, doch Per kannte den Weg und trat in den mit weichen Matten ausgelegten Raum. Das übliche Tamtam wie Kerzen, Buddhastatuen und Bilder an den Wänden, womit in Wellnessbereichen eine Wohlfühlatmosphäre erzeugt werden sollte, fehlte. Geschuldet war die nüchterne Einrichtung sicher Marcels Retinitis pigmentosa, die ihn vor einem Jahr komplett hatte erblinden lassen. Dafür lief leise Musik, und zwar nicht irgendeine Musik, sondern die Playlist, die Per extra für die Massagen zusammengestellt hatte.

„Hallo, Per“, begrüßte Marcel ihn mit dieser umwerfenden Stimme, die ihn alle Zweifel hatte vergessen lassen, als er ihm das erste Mal gegenübergetreten war. Tief und melodisch versetzte sie seine Eingeweide in Schwingungen und führte fast augenblicklich dazu, dass ein Teil der Anspannung, die er mit sich trug, von ihm abfiel.

„Danke, dass du dir so schnell Zeit für mich genommen hast.“ Hinter einem Vorhang legte er seine Kleider ab und hüllte sich in einen kuscheligen Bademantel. Natürlich hätte er auch gleich nackt vor Marcel treten können, der ebenfalls einen Bademantel trug, doch Per mochte die Berührung durch den Stoff und die Art und Weise, wie Marcel ihn langsam aus dem Mantel schälte.

„Gerne. Hattest du eine harte Woche?“

„Die Woche war nicht das Problem.“

„Ärger mit Konrad?“

„Das ist es auch nicht.“ Marcel war zwar kein Psychotherapeut und auch kein richtiger Freund, denn Per bezahlte ihn für seine Dienstleistungen, doch nachdem er ein paarmal bei ihm gewesen war, hatte er ihm in der Trance, in der er sich nach der Behandlung befunden hatte, von seinen Problemen erzählt. Das hatte er auch nicht bereut, denn es war eine Entlastung für ihn, einer neutralen Person von dem Dilemma berichten zu können, in dem er sich befand. Marcels diskrete Zurückhaltung machte es Per leicht, sich ihm anzuvertrauen.

„Lass dich erst einmal in Ruhe verwöhnen“, schlug Marcel vor und stellte sich vor ihn auf die Matte. Er streckte die Arme aus, um Pers genaue Position zu ertasten. Langsam strich er ihm über die Brust und die Oberarme. Per schloss die Augen und atmete tief durch. Manchmal brauchte er das einfach. Er wusste, dass in seinem Leben etwas Entscheidendes fehlte, doch es gab niemanden, der diese Lücke füllen konnte. Das war nun mal so und er würde deswegen nicht jammern. Er konnte froh sein, dass es Konrad und Marcel gab.

Marcel umrundete ihn langsam und legte die Arme von hinten, unter seinen Armen hindurch auf seine Schultern und übte sanften Druck aus, wodurch er gegen Marcels Körper gepresst wurde. Er schenkte ihm eine Umarmung und gab ihm eine Stütze. Arvid war weit weg, zurück in New York bei seiner Familie und seinem nervenaufreibenden Job. Sicher warf er keinen Blick zurück zu seinem alten Freund und hatte keine Ahnung, was Per für ihn empfand. Das war auch gut so und Per musste loslassen. Erleichtert lehnte er sich gegen Marcel und ließ die Anspannung aus sich herausfließen. Marcels Hände fuhren unter den Bademantel und legten sich auf seinen Brustkorb. Er konzentrierte sich auf die Wärme, auf seinen eigenen Körper und seinen Atem, der langsam und gleichmäßig floss.

 

„Danke!“, seufzte Per. Sein Kopf lag auf Marcels Schoß, der seinen Frotteemantel ebenfalls abgelegt hatte und sanft seine Schläfen massierte. Die letzten Wellen des Höhepunktes liefen durch Pers Körper und er genoss, wie seine Glieder schwer in die Matte sanken.

„Möchtest du reden?“, fragte Marcel.

„Dafür wirst du doch nicht bezahlt“, feixte Per.

„Wenn du darauf bestehst, stelle ich es dir in Rechnung“, gab Marcel schlagfertig zurück.

„Ich möchte nicht wissen, welche schmutzigen Geheimnisse du deinen Kunden schon entlockt hast.“

„Mag sein, dass das eine oder andere Geheimnis dabei war. Ich bin der Meinung, eine Tantramassage wäre effektiver, um jemanden zum Reden zu bringen, als ihn zu foltern.“

Per lachte. „Du musst es ja wissen.“

„Wenn es nicht die Arbeit oder Konrad waren, was hat dich dann so aufgewühlt?“

„Du lässt nicht locker, oder?“

„Es ist nur ein Angebot. Ich dränge mich nicht auf.“

„Eigentlich wollte ich es vergessen, aber das funktioniert ohnehin nicht. Vielleicht hilft es, darüber zu sprechen.“ Per seufzte. „Ein alter Freund aus meiner Jugend ist aufgetaucht. Es überrascht mich selbst, wie sehr mich das aus der Bahn wirft.“

„War er deine erste große Liebe?“

Per schnaubte. „Das war er wohl. Allerdings weiß er nichts davon.“

„Dann wart ihr nicht zusammen?“

„Nein, waren wir nicht. Und jetzt ist er verheiratet, lebt in New York und hat mich gebeten, seine Tochter zu operieren.“

„Er ist extra aus New York angereist, um seine Tochter von dir behandeln zu lassen? Das ist ein enormer Vertrauensbeweis. Er muss große Stücke auf dich halten.“

„Möglicherweise hat mich genau das in Verwirrung gestürzt. Ja, ich bin ein guter Operateur, aber ich bin mir sicher, in New York gibt es bessere. Warum ist er zu mir gekommen?“

„Vielleicht, weil er wusste, dass du mit dem Herzen dabei bist und all deine Energie und dein Können investieren würdest, um dem Mädchen zu helfen.“

„Nachdem er aus Berlin wegzog, habe ich versucht, Kontakt mit ihm zu halten. Er hat all meine Bemühungen ignoriert und zwanzig Jahre lang nichts von sich hören lassen. Ich war mir sicher, dass er mich vergessen hat.“

„Offensichtlich hat er das nicht.“

„Wer weiß. Jedenfalls ist er jetzt mit seiner Familie wieder in New York und lässt mich genauso verletzt und verwirrt zurück wie vor all den Jahren. Als hätte ich nichts dazugelernt.“

„Du bist eben eine treue Seele“, meinte Marcel und strich noch einmal sanft über Pers Brust.

Schweren Herzens erhob sich Per. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich noch eine Weile von Marcel streicheln und trösten lassen. Er konnte das besser als jeder andere. Sonst war Per immer derjenige, der stark sein musste, um die anderen zu stützen. In seiner Familie sowieso, doch auch in seiner Beziehung zu Konrad war er der dominante Part, sowohl körperlich als auch emotional. So fröhlich und unbeschwert Konrad sich meist gab, litt er doch darunter, Bedürfnisse zu haben, die er nicht unterdrücken konnte und die ihn dazu zwangen, seine Familie zu hintergehen. Immer wieder brach diese Verzweiflung aus ihm heraus und dann war Per derjenige, der ihn tröstete, beruhigte und ihm versicherte, dass er niemals das Lügengebäude, das Konrad aufgebaut hatte, zum Einsturz bringen würde.

„Nochmals vielen Dank“, meinte Per, nachdem er geduscht, sich angezogen und noch einen Tee mit Marcel getrunken hatte. „Du hast mich eine Zeitlang alles vergessen lassen und ich bin jetzt viel entspannter.“ Er tätschelte Astors Kopf, der zwischen ihnen lag. Marcel hatte seinen Blindenhund aus dem Büro gelassen, wo er auf ihn gewartet hatte. In der Praxis brauchte er ihn nicht, doch wenn er aus dem Haus ging, dann nur in Astors Begleitung.

„Danke dir, du bist ein sehr angenehmer Kunde.“

„Ich bin froh, dass ich Silvios Rat befolgt habe und zu dir gefunden habe. Du hilfst mir enorm, ausgeglichen zu bleiben.“

„Sicher brauchst du das sowohl für deinen Job als auch, um so unermüdlich für deine Familie da zu sein.“ Marcel wusste nicht nur über Konrad Bescheid, sondern auch von Karstens Unfall und den Schwierigkeiten, die seine Einschränkungen für die Familie mit sich brachten. Wenn er so darüber nachdachte, schuldete er Marcel tatsächlich noch das Honorar für die psychotherapeutische Begleitung. Oder er war eben doch mehr als ein Dienstleister und aus ihrer geschäftlichen Beziehung war so etwas wie Freundschaft geworden.

„Hast du denn einen Partner?“, wagte Per ihn zu fragen.

„Nein, habe ich nicht. Wenn man schwul, blind und anspruchsvoll ist, findet sich der Richtige nicht so leicht.“

„Auch ohne blind zu sein, ist es schwierig.“ Per seufzte. „Manchmal hat man den Richtigen vielleicht schon getroffen, aber der Zeitpunkt war falsch oder man hat zu viele Fehler gemacht, nicht gesagt, was man empfindet, und dann zieht die Chance an einem vorbei.“

„Sprichst du von deiner ersten Liebe, die jetzt wieder in New York ist?“

„Ja. Die Begegnung mit ihm hat mir leider deutlich vor Augen geführt, dass ich jeden Mann an ihm messe. Er war noch ein Kind, als ich mich in ihn verliebt habe und es ist dumm von mir, mich so einschränken zu lassen. Aber ich kann nicht anders. Noch immer füllt er mein Herz und es ist kein Platz für eine neue Liebe.“

„Wie tragisch und schön zugleich! Wer wünscht sich nicht, einen Menschen zu haben, für den man nicht zu ersetzen ist.“

„Das mag romantisch klingen, aber mich lässt es als traurige Witzfigur zurück.“

„Mit Sicherheit nicht. Deine Treue ehrt dich und vielleicht wird sich deine Beharrlichkeit doch noch auszahlen.“

Bitter lachte Per auf. „Ich wüsste nicht, wie.“

Marcel zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, was das Schicksal für dich bereithält.“

Per stand auf und klopfte Marcel auf die Schultern. „Dann lasse ich mich mal überraschen. Und ansonsten habe ich ja dich und Konrad.“

Lächelnd erhob Marcel sich ebenfalls. „Meine Tür steht dir immer offen.“

 

Wesentlich gelöster schlenderte Per durch die Stadt und beschloss spontan, essen zu gehen. In dem italienischen Restaurant, das er auswählte, war er nicht der Einzige, der allein am Tisch saß. Marcel schaffte es auch trotz des Singledaseins, sich seinen Optimismus zu bewahren, obwohl es für ihn noch schwieriger war, einen Gefährten zu finden. Per zwang sich, das Smartphone in der Tasche stecken zu lassen, und konzentrierte sich auf die Pasta, die er bestellt hatte. Sein Leben war reich und gut, es gab keinen Grund sich zu beschweren, auch wenn er gerne einen Partner hätte, nicht nur, um nicht bezahlen oder betrügen zu müssen, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Es wäre schön, jemanden zu haben, mit dem er seine Sorgen teilen und seine Zukunft planen konnte. Vielleicht behielt Marcel recht und das Schicksal hielt doch noch eine Überraschung für ihn bereit.