Kapitel 10

 

Arvid

New York City, 2009

„Ich habe noch eine weitere Bitte“, meinte Arvids Boss und legte das Besteck sorgfältig auf dem Teller ab.

„Ja, natürlich.“ Arvid nickte dienstbeflissen. Noch immer war es ungewohnt für ihn, mit Isaac Stern, dem charismatischen Gründer und Inhaber von Stern Global in einem der teuersten Restaurants der Stadt zu Mittag zu essen. Seit etwas mehr als zwei Jahren arbeitete er in dem Unternehmen und hatte sich von Abteilung zu Abteilung hochgearbeitet, bis er vor sechs Monaten von Isaac gefragt worden war, ob er sich vorstellen könne, sein persönlicher Assistent zu werden. Keine Sekunde lang hatte Arvid gezögert. Es gab niemanden, von dem er mehr lernen konnte und dem er auch nur annähernd so viel Bewunderung entgegenbrachte. Wie sich herausstellte, war die Stelle als persönlicher Assistent deutlich anspruchsvoller, als Arvid es sich vorgestellt hatte. Isaac erwartete von ihm, dass er rund um die Uhr zur Verfügung stand und hatte ihn schon häufiger mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt, weil ihm etwas eingefallen war und Arvid umgehend diesbezüglich recherchieren sollte. Auch am Wochenende war er im Einsatz, um Isaac bei gesellschaftlichen Verpflichtungen zu begleiten. Seine Aufgaben reichten vom Kaffeekochen, über den Transport von wichtigen Dokumenten rund um den Erdball bis hin zum Vorbereiten von Akquisitionen größeren Ausmaßes. Das Anspruchsvollste war allerdings, dass Isaac ihn ständig nach seinen Ansichten fragte. Wenn er diese nicht gut begründen konnte, erntete er ein missbilligendes Stirnrunzeln von seinem Chef. „Du kannst es dir nicht leisten, Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu treffen“, tadelte er ihn dann. „Informiere dich und bilde dir eine fundierte Meinung, bevor du dich äußerst.“ Daher nutzte Arvid jede freie Minute, um zu lesen und um sich weiterzubilden. Er war heilfroh, dass er ein so gutes Gedächtnis hatte. Nach wenigen Wochen wurde Arvid klar, dass Isaac mehr von ihm erwartete, als von einem Angestellten. „Deine Tischmanieren lassen zu wünschen übrig“, meinte er unverhohlen, als er ihn zum ersten Mal zum Lunch in ein teures Restaurant mitnahm.

„Das tut mir leid“, stammelte Arvid mit hochrotem Kopf und starrte auf seinen Teller.

„Sieh mich an“, forderte Isaac und Arvid zwang sich, seinem bohrenden Blick zu begegnen. „Ich weiß, wie und wo du aufgewachsen bist.“ Erst in diesem Moment wurde Arvid klar, dass Isaac ihn niemals einfach so als persönlichen Assistenten eingestellt hätte. Gründlich wie er war, hatte er Nachforschungen über ihn angestellt und wusste vermutlich mehr über ihn, als Arvid lieb war. „Es gibt keinen Grund, sich deshalb zu schämen. Im Gegenteil. Du hast dich aus eigener Kraft hochgearbeitet und viel erreicht. Du bist zäh und zielstrebig. Und ich weiß auch, wie ehrgeizig du bist. Aber jetzt bist du an einem Punkt angelangt, wo du nicht weiterkommst, wenn du dich in der Gesellschaft nicht bewegen und behaupten kannst.“

Arvid fühlte sich nackt und durchschaut. Mit aller Kraft hatte er versucht, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und nie wieder zurückzublicken. Doch so leicht ließ sich die eigene Geschichte nicht abschütteln.

„Wenn du es zulässt, werde ich dir beibringen, was du können musst.“

Er hielt Isaacs Blick stand. „Warum solltest du das für mich tun?“

„Es ist nichts weiter als ein Geschäft“, meinte Isaac. „Ich investiere in dich und du zahlst es mir mit Gewinn zurück, indem du die Company noch größer und erfolgreicher machst.“

Trotz der harten Worte und dem eisernen Blick hatte Arvid erkannt, dass er in Isaac einen Menschen gefunden hatte, der an ihn glaubte, der es ihm zutraute, Großes zu erreichen, und der noch ganz andere Pläne mit ihm hatte, wie er an diesem Mittag erfahren sollte.

„Ich möchte, dass du mit meiner Tochter ausgehst.“

Verzweifelt kämpfte Arvid mit dem Bissen, der ihm im Hals stecken geblieben war. „Wie bitte?“, krächzte er, nachdem er sich mit einem großen Schluck Wasser vor dem Ersticken gerettet hatte.

„Das war eine klar verständliche Anweisung.“

„Aber …“

„Wir diskutieren das jetzt nicht. Ich habe für Samstagabend bereits einen Tisch auf deinen Namen reservieren lassen und werde Estha heute Abend sagen, dass du mich gebeten hast, ob du mit ihr ausgehen darfst.“

Es fiel Arvid schwer, sich an den darauffolgenden Tagen auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er konnte nur hoffen, dass Estha sich weigerte, mit dem Assistenten ihres Vaters auszugehen. Doch wer würde Isaac Stern schon die Stirn bieten? Er hatte es ja auch nicht getan, obwohl es seine Pflicht gewesen wäre, Isaac mitzuteilen, dass er sich darauf nicht einlassen wollte. Arvid hatte nicht die Absicht, sich zu outen. Dass er schwul war, ging niemanden etwas an. Er hatte keinen Partner und würde auch niemals wegen eines Mannes sein berufliches Fortkommen aufs Spiel setzen. Aller Aufgeklärtheit zum Trotz war es noch immer ein Hemmnis, homosexuell zu sein, wenn man Karriere machen wollte. Außerdem befürchtete er, dass Isaac, der sehr konventionell den jüdischen Traditionen verbunden war, ihn fallen lassen würde, wenn er davon erfuhr.

Estha bot ihm leider keinen Ausweg aus der Situation und so saß er am Samstagabend in seinem besten Anzug an dem Tisch, den Isaac reserviert hatte und wartete auf sie. Vom Sehen kannte er die junge Frau, die etwa in seinem Alter war. Die zierliche, dunkelhaarige Tochter seines Chefs wirkte kühl, distanziert und wechselte kaum ein Wort mit ihm, wenn er die Familie am Wochenende auf Wohltätigkeitsveranstaltungen begleitete, wo er sie mit Getränken versorgte und die großzügigen Spenden abwickelte, die Isaac bei diesen Gelegenheiten vergab. Vielleicht war es Arroganz, vielleicht nur Unsicherheit, doch Arvid hatte nicht den Eindruck, dass Estha ihm einen zweiten Blick geschenkt hätte. Vermutlich würde sie ihn auf der Straße noch nicht einmal erkennen.

Zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit traf Estha ein und ließ sich zu seinem Tisch bringen. So, wie er es von Isaac gelernt hatte, erhob er sich höflich, begrüßte sie und schob ihr den Stuhl zurecht. „Möchtest du einen Champagner trinken?“, fragte Arvid.

„Warum nicht.“ Ihre Stimme klang emotionslos.

Verzweifelt versuchte Arvid ein Gespräch in Gang zu bringen. Doch nachdem er ihr ein Kompliment zu ihrer Handtasche gemacht und das Menü besprochen hatte, breitete sich unangenehmes Schweigen aus.

„Wie läuft es in der Galerie?“, fragte er und hoffte, sie aus der Reserve locken zu können. Ansonsten würde es ein sehr verkrampfter Abend werden, der ihn womöglich seine Stelle bei ihrem Vater kostete. Wenn Estha zu Hause erzählte, was für ein unfähiger Langweiler er war, würde Isaac sich vielleicht einen anderen persönlichen Assistenten suchen, den er nebenbei noch mit seiner Tochter verkuppeln konnte. Dabei hatte sie das gar nicht nötig. Sie war attraktiv, die Nase vielleicht ein wenig zu groß, die Züge etwas zu markant für die gängigen Ideale, doch Arvid fand Frauen ohnehin schöner, die sich von dem Einheitsbrei auf den Hochglanzmagazinen abhoben und ein Gesicht mit Charakter und Wiedererkennungswert hatten.

„Ich bin zufrieden“, erwiderte sie kurz angebunden.

Leider hatte Arvid keine Ahnung von Kunst und kannte keinen der angesagten Maler der New Yorker Szene. Das hatte Isaac schon bemängelt und gemeint, er müsse sich auch mit den schöngeistigen Dingen des Lebens wie Kunst, Musik oder Weinen auskennen, um in der Gesellschaft zu bestehen. Bislang hatte er weder Zeit noch Nerv gefunden, um sich damit auseinanderzusetzen. Daher konnte er keine interessierten Nachfragen stellen. Schweigend verspeisten sie den ersten Gang. Arvid bemerkte, dass Esthas Hand zitterte, als sie schließlich das Besteck zur Seite legte. Womöglich war sie gar nicht überheblich, sondern fühlte sich genauso in die Enge getrieben wie er selbst. Innerlich seufzte er. Das konnte er ihr nicht zumuten. Egal, welche Absichten ihr Vater hatte, letzten Endes war er es auch Isaac schuldig, seiner Tochter diese Demütigung zu ersparen. „Dein Vater hat dieses Treffen eingefädelt. Es tut mir leid.“

„Das habe ich mir schon gedacht.“ Sie senkte den Blick und wirkte resigniert.

Erschrocken betrachtete er ihr schmales, blasses Gesicht. Von Selbstbewusstsein oder gar Arroganz war dort keine Spur zu finden. Womöglich dachte sie, dass er sie so wenig anziehend fand, dass er nicht mit ihr ausgehen wollte, obwohl sie eine so gute Partie war. „Es liegt nicht an dir.“

„Natürlich nicht.“ Nun hörte er sogar eine gewisse Verbitterung aus ihrer Stimme. Wie konnte es sein, dass eine schöne, junge Frau aus so vermögenden Verhältnissen verbittert war?

„Ich bin homosexuell“, gestand er rasch, bevor er genauer darüber nachdenken konnte, dass dieser Satz ihn wohl seine Karriere kosten würde. Alles, wofür er in den vergangenen fünf Jahren so hart gearbeitet hatte, stand auf der Kippe, weil er Mitleid mit der Tochter seines Chefs hatte. Insgeheim verfluchte er sich und bereute den Satz, noch bevor der Nachhall verklungen war.

Überrascht blickte sie auf. „Weiß mein Vater davon?“

Er schüttelte den Kopf. Mit dem heutigen Abend würde sich dieser Sachverhalt wohl ändern.

„Warum hast du es ihm nicht gesagt?“

„Ich lebe in keiner Partnerschaft und habe auch nicht vor, offen schwul zu leben. Warum sollte ich mir dann das Leben schwerer machen als notwendig?“

„Du hattest nicht vor, es ihm zu sagen, um deiner Karriere nicht zu schaden?“, hakte sie nach. Mit einem Mal war ihr Blick wach und interessiert.

„So ist es.“

Nachdenklich schlang sie ihre Finger ineinander. „Die homosexuellen Maler, die ich kenne, haben kein Problem damit, sich zu outen. Für einen Künstler stellt es heutzutage kein Hindernis mehr da. Allerdings sieht das in der Welt, in der mein Vater und du sich bewegen, anders aus.“

Er nickte.

„Du bist sehr ehrgeizig“, stellte sie fest und sah ihn prüfend an.

„Ja“, stimmte er ihr zu.

„So ehrgeizig, dass du bereit bist, dein privates Glück für die Karriere zu opfern?“

„Das ist eine sehr persönliche Frage.“ Auf eine solche Inquisition war er nicht gefasst gewesen. Alles an Stumpfheit und Verschlossenheit war von ihr abgefallen.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich, sah ihn aber weiter fragend an.

Er seufzte. Jetzt war es auch schon egal, was er ihr erzählte. „Ich bin in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und weiß, wie wertvoll ein guter Job und finanzielle Sicherheit sind. Außerdem glaube ich nicht an die große Liebe. Zwischenmenschliches ist immer kompliziert und schwierig und ich verwende meine Kraft lieber für mein berufliches Fortkommen. Ich arbeite gerne, bin gut darin und sehe keinen Grund, mich davon ablenken zu lassen.“

Sie lachte auf. Ein glockenreines, helles Lachen, das ihn unwillkürlich mitlächeln ließ. Ihm schoss durch den Kopf, dass er dieses Lachen gerne häufiger hören würde. „Das war eine ehrliche Antwort.“ Sie legte den Kopf schief. „Und warum hast du es mir gesagt? Wenn ich es nachher meinem Vater erzähle, dann waren die Bemühungen, deine Homosexualität zu verheimlichen, umsonst.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Du hast es mir erzählt, weil du mich aus der unangenehmen Situation befreien wolltest“, folgerte sie messerscharf. „Du hast alles aufs Spiel gesetzt, um es für mich einfacher zu machen?“

Ja, das war dumm gewesen. Aber jetzt war es zu spät.

Ein erstauntes, bewunderndes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Danke.“

In diesem Moment wurde das Hauptgericht serviert und sie widmeten sich schweigend dem Fischfilet. Arvid hatte Schwierigkeiten damit, die Bissen zu schlucken, obwohl der Fisch schmackhaft und zart war. Immer wieder fühlte er Esthas forschenden Blick auf sich. Ihre ganze Körperhaltung hatte sich verändert, sie wirkte gelöst und entspannt.

„Interessierst du dich für Kunst?“, fragte sie, nachdem die Teller abgeräumt worden waren.

„Ich habe immer sehr viel gearbeitet und hatte noch nie die Zeit, mich damit zu beschäftigen.“

„Zurzeit überlege ich, Bilder eines noch unbekannten Künstlers in meiner Galerie auszustellen, bin mir aber unschlüssig.“ Sie griff nach ihrer Handtasche. „Fotos seiner Werke habe ich dabei.“ Sie reichte ihm Abzüge im Postkartenformat.

Arvid sah sich die Fotos an. Menschliche Figuren mit verzerrten Gesichtern und unnatürlich verbogenen Gliedmaßen waren darauf zu erkennen. Teilweise gingen sie in die Gestalt eines Tieres über und die grellen Farben, die der Künstler verwendet hatte, ließen sie aggressiv und lebendig wirken.

„Wie wirken die Bilder auf dich?“

„Abstoßend und faszinierend zugleich. Wenn sie vor einem in Originalgröße an der Wand hängen, müssen sie fast schon furchteinflößend wirken.“

Ein Lächeln umspielte Esthas Lippen, als sie die Fotos wieder entgegennahm. „Das tun sie. Sie berühren, aber auf eine unangenehme Weise. Als wollten sie einem mit den eigenen Ängsten oder verbotenen Wünschen konfrontieren. Sie erinnern mich an die Werke von Leonor Fini, sind aber doch ganz eigen.“

„Wirst du sie ausstellen?“

„Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Eigentlich würde ich sie gerne zeigen, doch meine Kunden suchen in der Regel Gemälde für ihre Wohnzimmer. Dort möchte man nicht ständig an seine Ängste erinnert werden.“ Noch einmal blätterte sie durch die Fotos. „Was meinst du?“

„Die Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich. Manche finden es vielleicht befreiend oder erfüllend, ihren Ängsten ausgeliefert zu sein.“

Fragend blickte sie auf, doch Arvid hatte nicht die Absicht, weiter auf seine Aussage einzugehen. An diesem Abend hatte er sich schon viel zu weit aus dem Fenster gelehnt. Ein Sturz schien unvermeidbar zu sein.

 

Während der darauffolgenden Tage befand Arvid sich in einem Zustand dauernder Anspannung. Jedes Mal, wenn er Isaac begegnete oder seine Nummer auf dem Display des Handys erschien, erwartete er, zur Rede gestellt zu werden oder sogar seine Kündigung überreicht zu bekommen. Doch nichts geschah. Hatte Estha sein Geheimnis bewahrt? An dem verhängnisvollen Abend hatten sie sich noch über belanglose Dinge unterhalten und direkt nach dem Essen hatte sie sich verabschiedet. Allmählich beruhigte er sich und ging seiner Arbeit wieder mit voller Konzentration nach. Knapp vier Wochen nach dem arrangierten Treffen saß er in Isaacs Büro und notierte, welche Projekte er in den nächsten Monaten in Angriff nehmen wollte. Wie üblich ließ Isaac seinen Gedanken freien Lauf, monologisierte, stellte Arvid Fragen und warf Vorschläge in den Raum. Mittlerweile hatte Arvid es perfektioniert, aus den zahlreichen Ideen, diejenigen sofort auszusortieren, die unausgegoren waren, und Stichworte zu den vielversprechenden Ansätzen zu notieren. Am Wochenende würde er recherchieren, weitere Ideen aussortieren und Details zu den übriggebliebenen erarbeiten. Isaac erwartete eine genaue Analyse spätestens Montagmorgen in seinem Postfach.

Isaac lehnte sich im Schreibtischstuhl nach hinten und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Estha möchte sich mit dir treffen“, meinte er unvermittelt.

Erschrocken hob Arvid den Kopf.

„Warum schaust du wie ein in die Enge getriebenes Kaninchen?“, fragte Isaac mit einem Stirnrunzeln.

„Iiich befürchte, dass ich keine besonders unterhaltsame Gesellschaft für deine Tochter war“, stotterte er.

„Estha sagte, es sei ein netter Abend gewesen und du seist ein interessanter Mann. Sie braucht nur immer eine Weile und ich wollte sie nicht drängen.“

Insgeheim dachte Arvid, dass Isaac doch derjenige war, der sie beide von vornherein in diese Situation manövriert hatte.

„Sie möchte dich am Sonntagnachmittag in einem Café treffen. Da ihr so unorganisiert wart und noch nicht einmal die Telefonnummern ausgetauscht habt, habe ich ihr deine aufgeschrieben. Sie wird dich anrufen und dir die Details durchgeben.“

 

Estha hatte ein gemütliches Café ausgesucht, wo sie in einer Nische auf bequemen Sesseln saßen. „Schön, dass du gekommen bist“, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln. „Wie trinkst du deinen Kaffee? Oder möchtest du lieber Tee?“ Sie bestellte Kaffee und eine Etagere mit herzhaften und süßen Schnittchen im Stil eines britischen five o’clock tea.

„Ich bin überrascht, dass du dich nochmal mit mir triffst“, kam Arvid gleich zum Punkt. Über das Stadium des Smalltalks waren sie bereits bei ihrem ersten Treffen hinweggekommen.

„Auch du hast mich überrascht. Unser Abendessen ist mir nicht aus dem Kopf gegangen und ich habe noch ein paar Fragen, die ich dir gerne stellen würde.“

„Welche Fragen?“ Was um Himmels willen wollte Estha von ihm? Er hatte die Hosen doch schon vor ihr heruntergelassen und hatte nicht die Absicht, ihr noch mehr Munition in die Hand zu geben, die sie im Zweifelsfall gegen ihn verwenden konnte.

„Mein Vater hält große Stücke auf dich. Mehrfach schon hat er erwähnt, dass er noch nie einen so intelligenten, lernwilligen und tüchtigen Assistenten hatte.“

„Danke“, meinte Arvid irritiert. Was hatte das mit ihr zu tun?

„Möchtest du langfristig im Unternehmen meines Vaters bleiben oder hast du andere Pläne?“ Sie legte die Fingerspitzen aneinander. „Ich weiß, dass das eine unverschämte Frage ist, die mich nichts angeht. Sie ist jedoch wichtig für mich und ich versichere dir, dass ich deine ehrliche Antwort darauf genauso für mich behalten werde, wie deine anderen Geheimnisse.“

Wie schaffte es diese Frau nur, ihn so in die Enge zu treiben? Es musste das Erbstück ihres Vaters sein, dass sie in der Lage war, aus einem harmlosen Treffen zum Kaffee eine Inquisition zu machen. „Diesbezüglich gestatte ich mir keine Zukunftspläne. Das Unternehmen deines Vaters ist faszinierend und vielfältig und ich könnte mir keinen besseren Arbeitsplatz vorstellen. Doch die Finanzbranche ist schnelllebig und ich muss anpassungsfähig bleiben.“

„Du hast keine konkreten Pläne, Stern Global zu verlassen, und sollte es sich ergeben, wäre es denkbar für dich, langfristig im Unternehmen zu arbeiten?“

„Das ist richtig.“ Warum beantwortete er ihr diese Fragen? Er sollte sich höflich verabschieden und das Weite suchen.

Mit zufriedenem Gesichtsausdruck lehnte Estha sich zurück und taxierte ihn wie ein Händler einen Gaul auf dem Pferdemarkt. „Ich habe eine sehr verwegene Idee, die möglicherweise einige Probleme aus der Welt schaffen würde, mit denen wir beide uns herumschlagen.“

„Und die wäre?“

„Könntest du dir vorstellen, eine Partnerschaft mit mir einzugehen?“

Arvid schnappte nach Luft.

Abwehrend hob sie die Hand. „Ich möchte nicht, dass du mir sofort darauf antwortest. Die Partnerschaft würde nichts Körperliches beinhalten, sondern nur dir und mir die entsprechenden sozialen und gesellschaftlichen Vorteile verschaffen.

„Warum solltest du eine solche Verbindung eingehen wollen?“ Arvid brachte die Frage kaum hervor. Nie hätte er mit einem solchen Angebot gerechnet und er hatte auch keine Ahnung, was er davon halten sollte.

„Ich habe meine Gründe“, antwortete sie kurzangebunden.

„Das ist unfair“, meinte Arvid. „Du kennst meine Gründe.“

Sie nickte. „Ich bitte dich, mir diesen Vorteil zu lassen. Eines Tages werde ich dich vielleicht wissen lassen, welche Vorteile du mir bieten kannst.“

Fragend hob Arvid die Schultern. „Wie hast du dir das vorgestellt?“

„Wenn du meinen Vorschlag nicht von vornherein ablehnst, könnten wir uns erst einmal besser kennenlernen. Wir tun, was Paare so tun und treffen uns.“

Da die Situation Arvid komplett überforderte, geschah alles so, wie Estha es vorschlug. Am darauffolgenden Wochenende trafen sie sich zum Mittagessen und anschließend zeigte Estha ihm ihre Galerie. Sie konnte zu jedem der Werke eine Geschichte erzählen und ihre Liebe zur Kunst schwang in jedem Wort mit. Nach anfänglicher Nervosität ließ Arvid sich von ihr in die Welt der Formen und Farben entführen. Nie wirkten ihre Ausführungen belehrend und Arvid stellte mit Erstaunen fest, dass er sich in Esthas Gesellschaft wohl fühlte. Seit sie ihm ihre Absichten mitgeteilt hatte, war sie freundlich und ungezwungen. Für den Abend hatte Estha Konzertkarten besorgt und als Arvid einige Stunden später im Bett lag, war er so gelöst und entspannt wie seit Jahren nicht. Wann hatte er zuletzt einen ganzen Tag lang nicht gearbeitet? Estha hatte in ihm das Bewusstsein dafür geweckt, dass es noch andere Dinge im Leben gab, als Ehrgeiz und berufliches Vorankommen. Es war, als habe sich eine Tür auf dem Pfad seines Lebens geöffnet, an der er bislang achtlos vorbeigeeilt war. Sein ganzes Leben lang hatte er alles beiseitegeschoben, was ihn von dem gradlinigen Weg zum Erfolg ablenken könnte. Vielleicht war er an einem Punkt angekommen, wo er auch einmal einen Blick nach rechts und links werfen durfte, um die Vielfalt zu erkunden, die die Welt zu bieten hatte. Eine Verbindung mit Estha würde ihm ungeheuer viel Freiheit verschaffen. Niemandem gegenüber würde er sich rechtfertigen müssen und mit ihr an seiner Seite wäre seine Position in der Firma gesichert. Er würde sich ohne Angst entfalten und den einen oder anderen Vorschlag machen können, den er im Kopf hatte. Er hatte Schwächen entdeckt und Verbesserungsvorschläge, doch bislang hatte er sich noch nicht getraut, sie Isaac gegenüber zu erwähnen. Doch was hatte Estha davon? Warum wünschte sie sich eine derartige Zweckverbindung? Warum suchte sie sich nicht einen richtigen Partner, der ihr alles gab, was eine Frau von einem Mann erwartete? Sie war attraktiv, intelligent, unterhaltsam und zudem noch eine der wohlhabendsten Junggesellinnen New Yorks. Es sollte ein Kinderspiel für sie sein, einen passenden Gefährten zu finden. Außerdem gab es da noch etwas in seiner Persönlichkeit, das er bislang vor allen Menschen verborgen gehalten hatte. Sicher würde Estha die Beine in die Hand nehmen und davonrennen, wenn sie davon erfuhr. Was sollte Arvid tun, wenn Estha tatsächlich diese Verbindung eingehen wollte? Vielleicht war es nicht mehr interessant für sie, wenn sie ihn näher kennenlernte. Doch was, wenn sie sich in seiner Gesellschaft genauso wohl fühlte, wie er sich in ihrer? Durfte er ihr seine größte Schwäche verschweigen? Es kam ihm nicht richtig vor. Sie musste wissen, auf wen sie sich einließ, auch wenn es nur eine Zweckverbindung war.

 

„Nächste Woche beginnt das Laubhüttenfest. Wir sind bei meiner Tante eingeladen. Könntest du mich begleiten?“, fragte Estha ihn ein paar Wochen später. Zwischenzeitlich hatten sie sich noch mehrmals getroffen und Arvid freute sich jedes Mal auf ihre Verabredungen. Dennoch wunderte er sich darüber, dass sie ihn bereits zu einer Familienfeier mitnehmen wollte. Bislang hatten sie sich nur zum Essen, ins Kino, Theater oder zu Konzerten getroffen. Sie wohnte in der Villa ihrer Eltern und als er sie eines Abends nach Hause begleiten wollte, lehnte sie dies höflich, aber bestimmt ab. Auch sein Angebot, sich auf einen Kaffee in seiner Wohnung zu treffen, bevor sie sich eine Ausstellung ansehen wollten, schlug sie aus. Dabei hatte er extra ein paar Dekorationsgegenstände für seine Wohnung gekauft, um sie wohnlicher zu gestalten. Außer den notwendigen Möbeln, etwas Geschirr und Besteck, einem Fernseher und einem Computer war sie leer gewesen.

„Ich begleite dich gerne.“

„Danke.“ Estha wirkte erleichtert.

„Muss ich etwas beachten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Kommst du zu uns? Dann fahren wir gemeinsam mit meinen Eltern.“

„Natürlich“, versprach Arvid, obwohl ihm beim Gedanken daran, gemeinsam mit seinem Chef bei der Verwandtschaft vorzufahren, mulmig war. Er hatte die Familie zwar schon auf Veranstaltungen begleitet, doch da war seine Rolle als Isaacs Assistent klar definiert gewesen. Isaac hatte ihre erste Verabredung zwar eingefädelt, doch Arvid hatte ein schlechtes Gewissen, weil sein Chef sicher nicht im Sinn gehabt hatte, dass er Estha ausnutzte. Und so fühlte es sich für Arvid an, schließlich wusste er noch immer nicht, welchen Vorteil Estha aus der Verbindung ziehen konnte.

Isaac und seine Frau Nuriel empfingen Arvid freundlich und boten ihm etwas zu trinken an, während sie auf Estha warteten. Wenige Minuten später kam sie in einem hellblauen Kleid aus Chiffon die Treppe herunter und nickte ihm wie üblich zu. Zu Beginn hatte er ihr einmal die Hand reichen wollen, doch sie hatte seinen ausgestreckten Arm einfach ignoriert, worauf er ihn unangenehm berührt wieder zurückgezogen und sich gefragt hatte, ob ihm schon wieder ein Fehler in den Umgangsformen unterlaufen war. Fahrig griff sie nach einem Glas und wirkte nervös. Hoffentlich bereute sie es nicht schon, ihn eingeladen zu haben. Angestrengt überlegte Arvid, wie er ihr die Möglichkeit geben konnte, ihn wieder auszuladen, ohne dass es peinlich wurde. Vielleicht bot sich unterwegs eine Gelegenheit. Als sie die Stufen von der Eingangstür in den Hof nahmen, wo eine Limousine auf sie wartete, blieb Estha mit dem Absatz hängen und verlor das Gleichgewicht. Rasch griff Arvid um ihre Taille, um sie zu stützen. Zu Arvids Überraschung, stieß sie einen kleinen Schrei aus und wehrte sich vehement gegen seinen Griff. Sie schlug fast schon auf ihn ein, bis Arvid, der so verdattert war, dass er nicht sofort reagierte, sie losließ. „Geht es dir gut?“, fragte Arvid leise, sobald er sich von seinem Schreck erholt hatte. Isaac und Nuriel waren bereits zum Wagen gegangen und gaben vor, den peinlichen Zwischenfall nicht bemerkt zu haben.

„Tut mir leid“, hauchte Estha.

„Hast du dir weh getan?“

Sie schüttelte den Kopf und stieg in die Limousine, wo sie während der ganzen Fahrt angestrengt aus dem Fenster blickte. Die Gedanken in Arvids Kopf drehten sich im Kreis. Was war da gerade geschehen? Warum hatte Estha so panisch auf sein Hilfsangebot reagiert? Er konnte sich nicht vorstellen, dass es an ihm gelegen hatte. Würde sie ihn so abstoßend finden, hätte sie ihm doch nicht den Vorschlag gemacht, eine Verbindung mit ihr einzugehen. Was, wenn sie generell keine Berührungen ertrug? War das der Grund, warum sie ihn, einen schwulen Mann ausgesucht hatte? Vorsichtig schielte er zur Seite, wo Estha nervös ihre Hände knetete. Ihre Eltern saßen ihnen gegenüber und unterhielten sich eine Spur zu angeregt. Arvid fing einen besorgten Blick ihrer Mutter auf, als sie den Kopf zur Seite drehte. Wussten Esthas Eltern von ihrem Problem? Warum hatte Isaac ein Treffen zwischen Arvid und seiner Tochter arrangiert, wenn er ihre Schwierigkeiten kannte? Arvid verstand nicht, was hier gespielt wurde, und es schien ihm auch belanglos. Es schmerzte ihn, Estha so leiden zu sehen. Er wusste, wie es sich anfühlte, anders zu sein. Wie konnte er ihr nur helfen? Als der Wagen hielt und der Chauffeur ihnen dienstbeflissen die Tür öffnete, ließ Arvid Isaac und Nuriel zuerst aussteigen. Dann drehte er sich zu Estha. „Lass mich dir aus dem Wagen helfen.“ Er bot ihr seine Hand an. „Nur deine Hand. Ich verspreche dir, dich sonst nirgendwo zu berühren.“

Langsam hob sie den Kopf. Er versuchte, alles in diesen Blick zu legen: seine Zuneigung, sein Verständnis, sein Mitgefühl und die angedeutete Information, dass auch er noch Geheimnisse in sich trug, die ihn zu einem Menschen machten, der das Schamgefühl wegen der Bedürfnisse, die man hatte oder eben nicht hatte, mit ihr teilte. Ihre Finger zitterten, als sie ihre eiskalte Hand in seine legte. Langsam umschloss er ihre Hand. „Mehr nicht. Ich respektiere das.“

Sie nickte und ließ sich von ihm aus dem Wagen und ins Haus ihrer Tante helfen. Der Abend wurde furchtbar für Estha, denn ihre Tante wurde nicht müde zu betonen, dass es an der Zeit war, dass sie sich endlich einen Mann suchen und ihre Eltern mit Enkeln versorgen müsse, so wie ihre Kinder es schon lange getan hatten. Stolz präsentierte sie ihre rotznasigen Enkel, die auf dem riesigen Balkon der Luxuswohnung mit dem Großvater eine Laubhütte aus Ästen und Zweigen aufstellten, der die Juden an den Auszug aus Ägypten und das Leben auf der Flucht erinnern sollte.

Arvid wurde von Esthas Tante nur mit abfälligen Blicken bedacht und sie ließ es sich nicht nehmen, zu erwähnen, dass es weder von gutem Geschmack noch von Klasse zeuge, mit dem ungläubigen Assistenten des Vaters, der zu allem Übel auch noch Deutscher war, bei ihr aufzukreuzen. Isaac und Nuriel übergingen sowohl die Kommentare zu Arvid als auch die Forderungen nach den zu zeugenden Enkeln geflissentlich. Vermutlich hatte Isaac von seiner Schwester schon viel zu hören bekommen und sich irgendwann dazu entschlossen, nicht mehr darauf einzugehen. Das entsprach zwar so gar nicht seiner Natur, doch intrafamiliäre Dynamiken konnten ungeheuer komplex sein. Auch Arvid war in seiner Familie in eine Rolle gedrängt worden, die er sich nicht ausgesucht hatte und aus der er erst entkommen konnte, nachdem er sich von ihr losgesagt hatte.

Mit aller Kraft versuchte er, es für Estha leichter zu machen, indem er sie hofierte, versuchte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und von der Galerie erzählte. Auch wenn Esthas Tante sich demonstrativ mit einer ihrer Töchter unterhielt, während Arvid sprach, bemerkte er doch, dass sie die Ohren spitzte, als er ihrem Mann und den zwei Schwiegersöhnen berichtete, mit welchem Geschick Estha es geschafft hatte, einen eigenwilligen und exzentrischen Künstler für ihre Galerie zu gewinnen, der seine Bilder bislang noch so gut wie nie ausgestellt hatte. Esthas Ausstellung hatte einen begeisterten Aufschrei in der New Yorker Kunstszene bewirkt, der den Künstler selbst überrascht hatte. „Estha hat ein ungeheures Gespür dafür, welche Bilder die Menschen bewegen. Außerdem kann sie sehr gut mit den Künstlern umgehen, die teilweise recht schwierig sein können, wie ich mittlerweile gelernt habe. Bevor ich Estha kennenlernte, war die Malerei ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Ich hätte nie gedacht, wie sehr die Beschäftigung mit Kunst mein Leben bereichern würde.“ Tatsächlich hatte Arvid mittlerweile mehrere Bilder erstanden und in seiner Wohnung aufgehängt. Darunter auch eines der Bilder mit den verstörenden Gestalten des Künstlers, von dem Estha ihm bei ihrem ersten Treffen erzählt hatte. Fast täglich stand er davor und versank in den Details der Darstellungen. Sie sprachen ihn auf genau der Ebene an, die er zu verbergen versuchte, und es gefiel ihm, das Gemälde offen in seiner Wohnung aufhängen zu können. Sein Geheimnis blieb, was es in ihm auslöste, wenn er sich mit den Figuren identifizierte, und der tägliche kurze Gedankenausflug verschaffte ihm eine gewisse Erleichterung. Sein letzter Flug nach Berlin lag schon zu lange zurück.

 

„Danke für deine Rettung heute Abend.“ Estha schenkte ihm ein schmallippiges Lächeln. Nachdem sie bei ihrer Tante selbstbewusst und stark aufgetreten war, wirkte sie nun, da sie allein vor der Villa ihres Vaters standen, wieder unsicher und nervös.

„Dass du mich mitgenommen hast, verstehe ich als großen Vertrauensbeweis.“

Sie zögerte und biss sich dann auf die Lippen. Offensichtlich wollte sie nicht darüber sprechen, was sie unbeabsichtigt enthüllt hatte.

„Gute Nacht.“ Er nickte und wandte sich zum Gehen.

„Arvid!“, rief sie ihn zurück. „Darf ich noch einmal deine Hand nehmen?“ Er streckte den Arm aus und sie legte ihre blasse, schmale Hand in seine. „Das geht“, meinte sie und seufzte erleichtert. „Deine Hand ertrage ich.“

Er lächelte. „Das freut mich.“

Zwei Wochen lang hörte er nichts von Estha und hielt es für besser, sie nicht zu bedrängen. Sollte ihr alles zu viel geworden sein, würde er ihr die Möglichkeit geben, sich ohne viel Aufhebens von ihrem Angebot zurückzuziehen. Doch schließlich rief sie ihn an und bat ihn, sich mit ihr zum Abendessen zu treffen.

„Nun weißt du, welchen Vorteil mir eine Verbindung mit dir bringen könnte“, meinte sie, nachdem die Vorspeise abgeräumt worden war. Sie hatte ihren Salat nicht angerührt.

„Möchtest du es denn noch, jetzt, wo wir uns besser kennengelernt haben?“

Sie schluckte sichtbar. „Noch mehr als zuvor. Aber vermutlich möchtest du es nicht, da du nun weißt, wie gestört ich bin.“

„Ich habe dir noch nicht alles über mich erzählt.“

Fragend blickte sie ihn an.

„Ich bin nicht nur schwul, sondern auch devot veranlagt.“

„Wie meinst du das?“

„Gelegentlich brauche ich einen Mann, der mich demütigt, mich anschreit und schlägt.“ Die Worte kamen Arvid unendlich schwer über die Lippen, doch er konnte nicht ertragen, dass Estha sich schämte und für gestört hielt, wo er doch viel abartigere Bedürfnisse hatte.

„Erleichtert es dich?“, fragte sie zu seiner Überraschung. Bedingt durch ihre ungewöhnliche Veranlagung hatte sie sich vermutlich auch Gedanken darüber gemacht, welche Bedürfnisse andere Menschen hatten.

„Ja, es bringt mich auf den Boden zurück, es erdet mich. Wenn ich es zu lange nicht bekomme, werde ich unausgeglichen und nervös.“

„Wer verschafft dir diese Befriedigung?“

„In Berlin gibt es einen professionellen Master, dem ich mich vor ein paar Jahren anvertraut habe. Er spürt genau, was ich brauche.“

„Wann hast du ihn zuletzt aufgesucht?“

„Vor mehr als sechs Monaten.“ Er zögerte. „Eigentlich ist es schon zu lange her.“

Sie blickte ihm tief und lange in die Augen. „Dann kennst du dich mit seltsamen Wünschen und Ängsten aus.“

Er lächelte. „Ich bin auch einer von denen.“

Schweigend beschäftigten sie sich mit der Hauptspeise, die Estha nun auch nicht verschmähte. „Wir geben ein seltsames Paar ab“, meinte sie schließlich.

„Ja, aber das bleibt unser Geheimnis.“

Wenige Wochen später schenkte Estha ihm ein Flugticket nach Berlin. Sie sorgte dafür, dass er zwei bis dreimal im Jahr die Möglichkeit fand, sich mit dem Master zu treffen, der es jeweils schaffte, Arvid sein inneres Gleichgewicht zurückzugeben. Er wiederum leistete ihr Gesellschaft, bot ihr seine Unterstützung, seine Hand und befreite sie aus der Einsamkeit, in die ihre Angst vor Berührung sie manövriert hatte. Allmählich wurde aus der Zweckgemeinschaft eine tiefe Freundschaft. Nie hätte Arvid für möglich gehalten, sich einem Menschen so verbunden zu fühlen. Sie heirateten im Mai des darauffolgenden Jahres. Esthas Vater richtete eine pompöse Feier aus und Arvid musste sich daran gewöhnen, dass sein eigenes Gesicht ihn aus den Hochglanzmagazinen anstarrte.

Schon vor der Hochzeit hatte Estha ihm gestanden, dass sie sich ein Kind wünschte. Als sie die Flitterwochen in einem luxuriösen Resort auf den Seychellen verbrachten, offenbarte sie ihm, dass der Wunsch danach immer drängender wurde.

„Früher hätte ich nicht davon zu träumen gewagt. Aber mit dir scheint es mir ein natürlicher Wunsch zu sein“, erzählte sie ihm, als sie mit einem Cocktail in der Hand nebeneinander auf Liegestühlen saßen und auf das tiefblaue Meer blickten, das sich am Horizont im strahlenden Blau des Himmels verlor. „Ich habe das Bedürfnis danach. Da ich sonst keine Bedürfnisse spüre, ist es für mich umso drängender. Allerdings habe ich auch furchtbar große Angst. Angst vor einer Schwangerschaft und davor, überhaupt schwanger zu werden. Eine Geburt kann ich mir schon gleich gar nicht vorstellen. Und was, wenn ich das Kind auch nicht berühren kann?“

„Wir könnten ein Kind adoptieren. Und wenn du es wirklich physisch nicht berühren kannst, wirst du es mit deiner Liebe berühren.“

„Aber ein Kind braucht körperliche Nähe.“

„Ich bin doch auch noch da.“ Tatsächlich hätte Arvid gerne mehr körperlichen Kontakt zu Estha. Auf sexueller Ebene begehrte er sie nicht, doch er fühlte sich ihr so nahe, dass er sie ab und zu gerne in den Arm nehmen würde. Er mochte Körperkontakt, das wusste er, seit er als Junge in Pers Armen geschlafen hatte. Er spürte gerne die Wärme eines anderen Menschen, seinen Atem, seine Haut auf der eigenen. Bei Per hatte er noch so viel mehr empfunden, doch das hatte er nicht zulassen können. Es hätte ihn schwach gemacht, verletzlich und es hätte ihn daran gehindert, seinen Weg zu gehen, der ihn aus Berlin herausführen musste.

„Du wärst ein wundervoller Vater.“

„Das weiß ich nicht, aber gemeinsam mit dir würde ich es mir zutrauen, ein Kind großzuziehen.“ Von sich aus hätte Arvid nie den Wunsch gehabt, sich um ein Kind zu kümmern. Doch er konnte sich vorstellen, dass ihre zwar ungewöhnliche, aber wundervolle Partnerschaft durch ein Kind noch bereichert werden könnte. Zumindest würde dieses Kind niemals die Zurückweisung und Verachtung zu spüren bekommen, unter der er als Kind gelitten hatte. Geborgen und geliebt würde es bei Estha, ihm und seinen Großeltern aufwachsen.

„Ich möchte ein leibliches Kind“, erklärte Estha. „Und es soll auch dein leibliches Kind sein. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ Es war das erste Mal, dass sie sich gegenseitig ihre Liebe gestanden. Es war eine andere Ebene der Zuneigung, doch eindeutig Liebe. Er griff nach ihrer Hand. Das war das einzige Zugeständnis, das sie an seinen Wunsch nach körperlicher Nähe machte. Gelegentlich ergriff sie sogar selbst die Initiative und nahm seine Hand, wenn sie spazieren gingen.

„Möchtest du eine künstliche Befruchtung machen lassen?“, fragte er nach einer Weile.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich könnte es überhaupt nicht ertragen, wenn fremde Menschen mit irgendwelchen Instrumenten in mich eindringen. Ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber dir vertraue ich. Ich möchte, dass du es machst.“

Arvid schluckte. Er konnte sich nicht vorstellen, mit Estha zu schlafen, zumal jede Berührung sie noch immer panisch zurückzucken ließ. Doch wenn Estha sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war sie nicht so leicht davon abzubringen. Sie hatte eine sehr einfühlsame Frauenärztin, die ihre Ängste kannte. Arvid begleitete Estha zu einem Beratungstermin bei der Ärztin, die ihnen einen Fruchtbarkeitscomputer und die Einnahme von Vitaminen und Spurenelementen empfahl. Wenige Wochen später war es dann so weit. Estha bat ihn, es in seinem Schlafzimmer stattfinden zu lassen, da sie ihr eigenes Schlafzimmer nicht mit unangenehmen Erinnerungen belasten wollte.

„Ich möchte dir nicht wehtun“, versuchte Arvid verzweifelt, sie doch noch davon abzubringen. Ihm war nicht wohl bei der Sache. Er hatte Sorge, dass der Übergriff, der es letztlich war, ihre Ehe nachhaltig belasten könnte. Er hätte die Anonymität einer künstlichen Befruchtung bevorzugt, auch wenn ihm natürlich klar war, dass es für Estha eine noch größere Überschreitung ihrer Grenzen bedeuten würde.

„Ohne Schmerzen wird es wohl nicht gehen.“ Realistisch wie sie nun einmal war, versuchte Estha nicht, den Vorgang der sexuellen Vereinigung zu beschönigen. Natürlich war sie noch Jungfrau und Arvid wusste auch, dass Estha sich nicht selbst befriedigte. Sie hatte kein Bedürfnis danach und es war ihr unangenehm, sich selbst an der Scheide zu berühren. Er würde sie also entjungfern und dabei nach Möglichkeit auch gleich noch schwängern müssen. In Vorbereitung auf den Abend hatte er sich mit der weiblichen Anatomie befasst und wenig Begeisterung dafür entwickeln können. Er hoffte nur, es so schnell wie möglich hinter sich bringen zu können, ohne ihre Beziehung damit nachhaltig zu belasten. Sie legte sich auf sein Bett und er versuchte, sie im Dunkeln unter dem Rock und zwischen den zusammengekniffenen Oberschenkeln zu erreichen. Sie biss sich auf die geballte Faust, um Panik und Schmerz zu unterdrücken. Doch als er mit dem Zeigefinger vorsichtig in ihre Enge eindrang, schrie sie auf und stieß ihn weg. „Tut mir leid“, wimmerte sie gleich darauf und schlug die Hände vors Gesicht.

Betroffen setzte er sich auf die Bettkante. Ihre Verzweiflung zerriss ihm das Herz. „Estha, Liebling. Das hat keinen Sinn. Nicht nur von deiner Seite. Auf diese Weise bekomme ich nie eine Erektion.“

Eine Weile lang hingen seine Worte in der Luft. „Ich weiß, dass ich dich nicht errege. Und das ist auch gut so. Alles andere wäre schwierig für mich“, sagte sie schließlich, vielleicht nur, um ihn zu beruhigen.

„Es ist nicht nur das. Dir wehtun zu müssen, macht es unmöglich für mich.“

Sie richtete sich auf. Minutenlang saßen sie schweigend nebeneinander. Verzweifelt überlegte Arvid, wie er Estha trösten könnte. Sie seufzte und straffte die Schultern. „Wir müssen es besser vorbereiten. Bis zu meinem nächsten Eisprung werde ich versuchen, mich selbst wenigstens ein kleines bisschen zu dehnen. Und dann nehme ich ein Beruhigungsmittel. Für dich besorgen wir Viagra.“

Arvid stöhnte. „Ist das wirklich der richtige Weg? Es kommt mir falsch vor.“

Sie sah ihn an und runzelte die Stirn. „Hast du einen besseren Vorschlag?“

Das hatte er nicht und schluckte daher vier Wochen später eine rautenförmige, blaue Pille. Estha hatte ein Beruhigungsmittel genommen und Alkohol getrunken. Benommen wankte sie in sein Zimmer und ließ sich auf sein Bett sinken. Als er nochmals Einwände hervorbrachte, war sie jedoch noch klar genug im Kopf, energisch von ihm zu verlangen, was sie besprochen hatten. Wie ein Vergewaltiger kam Arvid sich vor, als er so vorsichtig, wie es ihm möglich war, in sie eindrang. Er bemühte sich, sie sonst nirgendwo zu berühren und Estha starrte apathisch an ihm vorbei die Wand an. Trotz der gefäßerweiternden Substanz dauerte es eine ganze Weile, bis Arvid seinen Samen loswerden konnte. Er schloss die Augen und rief sich in Erinnerung, wie sich die Fesseln an seinen Handgelenken anfühlten, wie die barsche Stimme des Masters ihn zum Zittern brachte und wie der Rohrstock ein brennendes Gefühl auf seiner Haut hinterließ. Erleichtert zog er sich aus Estha zurück, nachdem er sich endlich in sie ergossen hatte. Sie zog die Beine an und rollte sich auf die Seite. Sorgfältig deckte er sie zu und setzte sich neben ihr aufs Bett. „Bleib liegen und ruhe dich aus.“

Ihre Augen blieben geschlossen und sie antwortete nicht.

Panik kroch in Arvid hoch. Vielleicht bereute sie es bereits und der Schmerz und der Ekel, den sie empfinden musste, nagten an ihrer Beziehung. Er wollte sie nicht verlieren. Sie war seine Freundin, seine Vertraute und der einzige Mensch, vor dem er sein wahres Ich nicht verstecken musste. „Es tut mir leid“, wisperte er. „Ich hätte das nicht tun dürfen. Es muss schrecklich für dich gewesen sein und ich habe Angst, dass wir unsere Ehe damit belasten.“

Schwerfällig schlug sie die Augen auf und griff nach seiner Hand. „Du bist das Beste, was mir passieren konnte, Arvid. Danke, dass du dich darauf eingelassen hast.“

Er konnte es kaum fassen, als Estha ihm zwei Wochen später einen positiven Schwangerschaftstest präsentierte. Hatte es wirklich beim ersten Versuch geklappt? Inständig hoffte er, dass alles gutgehen würde, denn er wusste nicht, ob er noch einmal dazu in der Lage wäre, den Akt der Vereinigung zu wiederholen.

Für Esthas zarten Körper war die Schwangerschaft eine große Herausforderung. Übelkeit, Erbrechen und Kreislaufprobleme fesselten sie wochenlang ans Bett. Arvid begleitete sie zu jeder Vorsorgeuntersuchung, die für Estha jedes Mal eine immense Belastung darstellte, wenn die Ärztin auch rücksichtsvoll mit ihr umging. Isaac, der sich sehr auf sein Enkelkind freute, aber große Sorge um seine Tochter hatte, ermöglichte es Arvid, für Estha da zu sein, wann immer sie ihn brauchte. Die Schwierigkeiten und die Sorge um ihr ungeborenes Kind schweißten Estha und ihn noch stärker zusammen. Seine Sorge um sie überschattete alles und so blieb das Baby für Arvid abstrakt, trotz der vielen Ultraschalluntersuchungen und Erläuterungen der Ärztin. Je runder Esthas Bauch wurde, desto größer wurde ihre Angst vor der Entbindung. Sie schlief kaum noch, hatte Panikattacken und Arvid verbrachte viele Nächte neben ihr, um ihre Hand zu halten. Während dieser Zeit ließ sie sich zum ersten Mal von ihm in den Arm nehmen. Er strich ihr über den Rücken und sie stieß ihn nicht weg, sondern seine Berührung schien sie zu beruhigen. Der einzige Weg, das Kind auf die Welt zu bringen, war für Estha ein Kaiserschnitt in Vollnarkose. Und so saß Arvid am frühen Morgen eines wunderschönen Maitages, an dem man sogar in New York den Frühling riechen konnte, in einem Zimmer des Kreißsaals und wartete voller Anspannung auf Nachricht von Estha, die im nebenan gelegenen Operationssaal von ihrer Tochter entbunden wurde. Die Tür zu dem Zimmer öffnete sich und eine in bunt bedruckte OP-Kleidung gehüllte junge Frau trat ein. Im Arm trug sie ein in Tücher gewickeltes Bündel.

„Ihre Tochter, Herr Stern“, sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, das Arvid sofort erkennen ließ, dass alles gut gelaufen war.

Erleichtert seufzte er auf. „Geht es meiner Frau gut?“, versicherte er sich dennoch.

„Sie wird noch zugenäht und es wird eine Weile dauern, bis sie aus der Narkose aufwacht. Aber bisher ist alles komplikationslos verlaufen.“ Sie blickte auf das Bündel in ihrem Arm. „Wenn Sie Ihr Hemd aufknöpfen, lege ich Ihnen Ihre kleine Tochter auf die Brust. Ihre Körperwärme und Ihr Herzschlag sind beruhigend für sie.“

„Natürlich.“ Mit zitternden Fingern knöpfte Arvid das Hemd auf und lehnte sich in dem Sessel zurück, auf dem er gewartet hatte. Die junge Frau wickelte das winzige Baby aus und legte es nackt auf Arvids Oberkörper. Sorgfältig deckte sie es zu und zeigte ihm, wie er es am besten halten konnte. Dann ließ sie ihn mit Madeline allein. Tränen liefen über Arvids Wangen, als er unter den warmen Tüchern die kleinen Füßchen streichelte und sicherstellte, dass sie auch dort schön warm war. Die Kleine rekelte sich auf seiner Brust und schlug die Augen auf. Noch ohne etwas fixieren zu können, wanderte ihr Blick langsam hin und her. Mehr als eine Stunde verbrachte Arvid allein mit seiner Tochter in dem kleinen Raum. Während dieser Zeit in der Ruhe und Abgeschiedenheit verschob sich Arvids ganzes Leben. Das winzige Wesen auf seiner Brust wurde zum Zentrum seines Daseins. Ihr Herzschlag wurde zu seinem Metronom und Arvid wusste, dass er, ohne zu zögern, sein Leben für ihres geben würde. Alles, was ihm bislang wichtig war und wofür er so hart gearbeitet hatte, diente nur noch dem Zweck, für sie zu sorgen und ihr ein gutes Leben zu ermöglichen.

 

Zwischendurch schaute die junge Frau kurz bei ihm vorbei, um nach Madeline zu sehen. „Ihrer Frau geht es gut, nur die Narkose hängt noch etwas nach. Sobald sie aufgewacht ist, bringen wir sie zu Ihnen.“

„Danke.“

„Ich habe Ihnen ein Fläschchen für die Kleine mitgebracht.“ Sie zeigte ihm, wie er den Saugreflex bei Madeline auslösen konnte. Es dauerte nicht lange, da verschwand der Gummiaufsatz in ihrem Mündchen und Arvid hörte ein leises Schmatzen. Sein Herz war so weit, dass es schmerzte, während er die Schluckbewegungen beobachtete. Bereits im Vorfeld hatte Estha sich dazu entschlossen, es mit dem Stillen gar nicht erst zu versuchen. Sie konnte sich nicht vorstellen, ein Baby an ihrer Brust saugen zu lassen.

Estha wirkte noch ganz benommen, als sie in einem Bett liegend in den Raum geschoben wurde.

„Möchtest du sie nehmen?“, fragte Arvid.

„Gib mir noch einen Moment“, erwiderte Estha.

„Natürlich.“

Eine Kinderärztin betrat den Raum und untersuchte Madeline unter einer Wärmelampe. Arvid sah dabei zu, wie sie Herz und Lunge abhörte, den kleinen Körper inspizierte und abtastete. Anschließend half die Hebamme Arvid dabei, Madeline eine Windel anzuziehen. Vom Bett aus sah Estha ihnen zu. Arvid kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie Angst hatte. Angst vor dem ersten Kontakt mit Madeline und Angst davor, wie sie auf ihre eigene Tochter reagieren würde. Nachdem die Hebamme gegangen war, wickelte Arvid Madeline in die Tücher, mit denen er sie auf seiner Brust zugedeckt hatte und setzte sich mit dem Bündel im Arm auf die Bettkante.

„Hast du Schmerzen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Darf ich dir unsere Tochter vorstellen?“ Er lächelte Estha an. „Sie ist wunderschön, genau wie du.“

Da Estha weiterhin stocksteif im Bett lag, fuhr er das elektrische Kopfteil ein kleines Stück nach oben, nahm Esthas Arm und legte ihn auf die Bettdecke. Vorsichtig bettete er die Kleine in ihre Armbeuge und achtete dabei sorgfältig darauf, keinen Körperkontakt herzustellen. Lange Zeit betrachtete Estha Madeline, ohne sich zu rühren. Einzig die Tränen, die über ihre Wangen rollten, verrieten wie aufgewühlt sie war. Endlich hob sie die Hand und strich mit den Fingerspitzen über Madelines Wange.

„Sie ist ein Wunder.“

„Das ist sie.“ Arvids Herz quoll über vor Dankbarkeit. Er war nicht mehr allein auf der Welt. Er hatte eine kleine Familie! Menschen, für die er verantwortlich war, die er liebte und zu denen er gehörte.