Der letzte Brief

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Das Faktotum Paulsen mir seinem unerschütterlichen Ernst und seiner tadellosen Livree zeigte sich in der Tür. Sein Blick schweifte forschend durch den Raum, wo der hellblaue, duftende Zigarettenrauch sich durch den Luftzug der offenen Tür in transparenten Spiralen über dem Tisch bewegte.

»Ich wußte ja, daß er nicht da sei,« sagte Paulsen. »Hier ist ein Brief für ihn.«

»Für wen?«

»Für Schiffsreeder Christensen.«

Doktor Ovesen eilte auf ihn zu.

»Ein Brief,« rief er. »Lassen Sie mal sehen.«

Paulsen zeigte ihn. Es war ein Brief in einem dicken Kuvert, wie Banken ihn bei Geldsendungen zu verwenden pflegen. Doktor Ovesen fühlte sich offenbar erleichtert, als er die Farbe des Briefes sah.

»Gott sei Dank!« murmelte er, indem er zu seinem Platz zurückkehrte. »Ich fürchtete schon, es sei ein neuer Scherz.«

»Sie vergessen,« sagte Krag, »daß Jos seine Mitteilung schon bekommen hat.«

Der Detektiv streckte die Hand nach dem Brief aus.

»Geben Sie ihn mir,« sagte er, »wir erwarten Herrn Christensen jeden Augenblick.«

Paulsen reichte ihm zögernd den Brief.

»Aber es wird auf Antwort gewartet,« sagte er.

»Antwort? Wer wartet auf Antwort?«

»Ich weiß nicht. Einer, der draußen in einem Auto hält.«

»Gut! Sagen Sie ihm, daß die Antwort sogleich kommen wird.«

»Wenn Herr Christensen aber jeden Augenblick kommen kann, wäre es doch wohl das beste, ich gäbe ihm den Brief selbst.«

»Herr Christensen ist hier im Hotel,« antwortete Krag, »er ist in einem der Zimmer zu einer Konferenz und kommt dann direkt zu uns.«

»Gut. Dann will ich dem Mann im Auto Bescheid sagen.« Damit ging Paulsen hinaus.

Krag drehte den Brief hin und her. Er trug folgende Adresse:

»Herrn Schiffsreeder
Joh. P. Christensen,
Hotel Continental,
Zimmer Nr. 4.
Sofortige Antwort erbeten.«

»Mich dünkt, daß Sie eine ziemlich kühne Behauptung aufstellten, als Sie sagten, daß Jos sich hier im Hotel aufhielte,« sagte Doktor Ovesen.

»Mein lieber Doktor,« antwortete Krag, »das war gar keine Behauptung, das war eine regelrechte Lüge.«

»Wozu aber diese unnötige Lüge?« fragte Doktor Ovesen spitz.

Krag antwortete:

»Weil ich den Mann im Auto veranlassen wollte zu warten.«

»Da kann er lange warten,« fiel hier Davidsen ein. »Ich bin überzeugt, daß Jos nicht kommt. Eher glaube ich, daß Oedegaard oder Karl-Erich von Brakel plötzlich durch die Tür treten.«

Krag betastete den Brief prüfend, wie ein Bankmann, der einen verdächtigen Schein untersucht.

»Ein seltsamer Brief,« sagte er. »Wirklich, ein seltsamer Brief. Es ist sehr kalt draußen, nicht wahr?«

»Kalt! Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, wir sollten nicht unmenschlich sein. Wir können den Mann draußen im Auto nicht so lange warten lassen.«

Damit nahm Krag schnell sein Messer aus der Tasche und schnitt den Brief auf.

Doktor Ovesen fuhr in die Höhe.

»Anderer Leute Briefe öffnen!« rief er. »Das geht doch wirklich nicht an. Das ist eine strafbare Handlung.«

Krag guckte in das Kuvert hinein und lächelte.

»Dachte ich es doch,« murmelte er, »ich habe es von außen gefühlt. Es ist ein merkwürdiges Kuvert, meine Herren, ein zweiter Brief liegt drin.«

Er zog mit den Fingern einen Brief heraus. Es war ein hellblaues Kuvert – genau wie diejenigen, die das Verschwinden der drei Freunde, Reismann, von Brakel und Oedegaard, veranlaßt hatten.

»Das reine Taschenspielerkunststück,« sagte er, »immer ein Brief in dem anderen. Der Absender liest die Zeitungen, meine Herren, er ist sehr vorsichtig geworden. Er weiß, welches Aufsehen die Sache geweckt hat. Würde er einen hellblauen Brief abgeben, riskierte er gleich, verhaftet zu werden, und darum steckt er ihn in dieses unauffällige, graue Bankkuvert. Es sieht aus, wie eine jener kleinen Geldsendungen, die Herrschaften bisweilen in den Einzelzimmern des Hotels empfangen, wenn ihnen beim Poker die Moneten ausgegangen sind. Betrachten wir die Aufschrift. Richtig, genau dieselbe Handschrift wie auf den anderen Briefen.«

Krag warf den hellblauen Brief auf den Tisch.

»Wir haben Glück gehabt,« sagte er. »Irre ich mich nicht, sind wir in der Lage, das Rätsel zu lösen. Dort liegt ein hellblauer Brief, den wir allen Grund haben zu öffnen.«

Die anderen Herren starrten den Brief an wie etwas, das man nicht anzurühren wagt. Besonders Rechtsanwalt Davidsen sah urkomisch aus, als er sich mit einer Miene über den Tisch beugte, als stehe er vor einem Aquarium und betrachte ein kleines tückisches Ungeheuer aus der Tiefe des Meeres. An der Adresse war übrigens nichts Ungewöhnliches. Da stand nur:

» An Jos! Eilt

»Die Verbrecher erlauben sich einen merkwürdig vertraulichen Ton,« sagte Krag. »›An Jos‹ – das klingt ja ganz freundschaftlich. Nun fragt es sich, ob wir hier bis in alle Ewigkeit sitzen und uns gegenseitig ansehen, oder ob wir zur Veränderung mal einen Blick auf den famosen Brief werfen wollen. Ich schlage vor, daß wir uns unverzüglich ins Heiligtum begeben. Meine Herren, ich übernehme die Verantwortung,« sagte Krag und ergriff den Brief.

Doktor Ovesen war nervös geworden und versuchte eine Einwendung.

»Wenn nun aber Ihre Theorie von einem Geheimnis richtig ist, wenn der Brief wirklich ein Geheimnis von Jos enthüllt, das zu erfahren wir keine Berechtigung haben? Auf alle Fälle ist es juristisch eine sehr ernste Sache, den Brief eines anderen zu öffnen. Darauf möchte ich die Herren doch aufmerksam machen.«

»Auch juristisch übernehme ich jede Verantwortung,« sagte Krag und schnitt das Kuvert auf – irritierend langsam und vorsichtig, schien es Davidsen, als ob er ein kostbares Buch aufschnitte. »Und was die moralische Seite anbelangt,« fuhr Krag fort, »so kann man unsere Handlung unmöglich ein Unrecht nennen. Wir tun es doch einzig und allein, um unseren Freunden in der Not zu Hilfe zu kommen. Nun ist es geschehen, meine Herren, hier ist der Brief.«

Krag entfaltete den Brief. Es war ein halber, hellblauer, unliniierter Bogen.

Krag sagte:

»Wenn der Brief ein persönliches Geheimnis von Jos enthält, stecke ich ihn wieder ins Kuvert, und keiner von Ihnen, meine Herren, soll je erfahren, was er enthielt. Wie ich sehe, scheint er aber kein Geheimnis zu enthalten, das nicht auch Sie erfahren können. Hören Sie, was hier steht.«

Krag las vor:

» Komm sofort. Wir brauchen einen vierten Mann

Der Detektiv reichte den Brief über den Tisch. Davidsen griff zuerst danach.

»Bei allen Teufeln!« rief er. »Wahrhaftig, es steht nichts weiter darin.«

Auch Doktor Ovesen las es und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse von Unwillen und Mißbehagen.

»Wir scheinen es hier mit einem Spottvogel zu tun zu haben,« sagte er.

Auch Rechtsanwalt Davidsen fiel ein, indem er seine gewaltigen Fäuste auf dem Tisch ballte:

»Mit dem Scherzvogel werde ich mich mal unterhalten, wenn ich ihn treffe.«

Krag sagte:

»Gewiß, manches deutet darauf, daß man uns hier einen Schabernack spielen will. Aber ich bin dafür, daß wir auf den Scherz eingehen. Wir riskieren zu viel, wenn wir es unterlassen. Es hat aber auch den Anschein, als ob unsere geheimnisvollen Gegner sich in einen unerwarteten Widerspruch verwickelt hätten. Dies ist der zweite Brief an Jos. Der Absender hat nichts davon gewußt, daß Jos bereits einen hellblauen Brief bekommen hatte, der ihn fortrief. Es ist eine falsche Masche in das Gewebe geraten. Wo ist nun die falsche? In diesem oder in dem ersten Brief? Nehmen wir an, daß die Fälschung ein Scherz war, obgleich ein Scherz oft die Möglichkeit eines tragischen Endes in sich trägt. Das, was mich beunruhigt, ist das ständige, unnatürliche Schweigen unserer verschwundenen Freunde. Es ist unsere Pflicht, jede Gelegenheit, die uns Aufklärung bringen kann, zu ergreifen. Der Mann draußen im Auto wartet. Von diesem Augenblick an bin ich ›Jos‹. Und habe die Absicht, ihm zu folgen.«