Krag hatte Zeit, über die neuesten seltsamen Geschehnisse nachzudenken. Nichts störte ihn. In der Dunkelheit konnte er weder etwas sehen noch hören.
»Wo geht die Fahrt hin?« fragte Krag sich selbst. Er dachte daran, daß der Brief, den Rechtsanwalt Davidsen wegen des Geldes bekommen hatte, aus Moß abgesandt gewesen war. Dies war der Weg nach Moß, vielleicht war das das Ziel.
Asbjörn Krag waren seit der Abfahrt vom Hotel Continental zwei Umstände aufgefallen, die ihn in Erstaunen setzten.
Erstens die Art, wie der Chauffeur sich den beiden Verfolgern Ovesen und Davidsen entzogen hatte. Ohne sich mit seinem Passagier zu beraten, hatte er die hübsche Falle in dem Hof arrangiert. Das bewies, daß er seine ganz bestimmten Befehle hatte, und daß derjenige oder diejenigen, die ihm diese Befehle gegeben hatten, sich über die Gefahr einer Verfolgung klar gewesen waren. Andererseits aber hatte die vertrauliche Art des Chauffeurs gezeigt, daß von einer Entführung oder einem Zwang nicht die Rede sein könne. Im Gegenteil, der Chauffeur hatte ja sogar gegen eventuelles Einschreiten der Polizei Schutz bei ihm gesucht. Waren die anderen Herren auch mit eigenem Wissen und Willen entführt worden, und was bedeuteten in solchem Fall die Briefe? Und der ganze mystische Apparat? Krag konnte nur feststellen, daß der Chauffeur ihn nicht kannte, sondern ihn für Jos hielt. Wem mochte dieses Auto gehören, und auf wessen Befehl fuhr der Chauffeur?
Als die Zeit verstrich und nichts sich ereignete, machte Krag es sich im Auto bequem. Er zündete sich eine Zigarre an. Wie er in seiner Tasche nach Streichhölzern suchte, stieß er gegen seinen Revolver. Er mußte inwendig lachen bei dem Gedanken, wie wenig diese Fahrt einer Entführung glich. Von seinem Platz aus konnte er jederzeit mit dem Revolver den Chauffeur unschädlich machen und seine Stelle am Steuer einnehmen. Nicht der Entführte war machtlos, sondern der Chauffeur. Würde das ganze Abenteuer auf dieselbe friedliche, liebenswürdige Weise verlaufen? Unmöglich! Das Entsetzen der anderen beim Empfang der Briefe war doch zu unbegreiflich ...
Plötzlich aber fiel Krag von Brakels Wäscherechnung ein. Er rechnete sich die einzelnen Posten halblaut vor: Pyjamas zwölf Kronen, Kragen á vierzig Oere ... Welche Verbindung mochte Krag zwischen dieser alltäglichen Wäscherechnung und der geheimnisvollen, nächtlichen Automobilfahrt im düsteren Walde suchen?
Endlich schien etwas zu geschehen. Am Wege tauchte der gelbe, verschwommene Lichtschein einer Laterne auf, die an einem Pfahl am Wege aufgehängt war, und der Chauffeur bog in einen schmalen Seitenweg ein. Er konnte kaum vorwärts kommen wegen der hohen Schneewehen, die hier zusammengefegt waren. Das Auto hielt auf einem offenen Platz, wo die schattenhaften Konturen einiger Hofgebäude sich von dem verschneiten Wald abhoben. Der Chauffeur verließ seinen Platz und öffnete die Tür, indem er sagte:
»Wir sind da. Das war 'ne tolle Fahrt.«
Krag stieg aus und blickte sich um.
Als sein Auge sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte er den Ort.
Dort, geradevor, lag das Hauptgebäude, und dort der Stall.
Es war das alte Wirtshaus Tyrihöhe, ein bekannter Ort in der Nähe von Christiania, wo man in alten Zeiten ein Stück Volksleben sehen konnte, wenn die Bauern sich mit ihren dampfenden Gläsern niederließen, und der Hof voll von Schlitten und Pferden war. Hin und wieder kamen auch Gäste aus Christiania, verschlossene Wagen mit Paaren, die sich heimlich ins Wirtshaus schlichen, oder offene Wagen mit ausgelassenen Menschen, von einem Fest in der Stadt.
Dies alles aber gehörte verflossenen Zeiten an. Krag wußte allerdings, daß man noch besonders bevorzugte Gäste empfing; daß das alte Wirtshaus aber noch ein Ausflugsziel für Städter war, das war ihm neu. Aus dem Gebäude erklang auch nicht, wie in früheren Zeiten, festlicher Lärm, nur aus einigen Fenstern fiel matter, gelber Lichtschein über den Schnee.
Der Chauffeur fragte:
»Heute nacht soll ich wohl nicht mehr fahren?«
»Ich denke kaum,« antwortete Krag und fügte auf gut Glück hinzu:
»Die vorigen Male sind Sie doch noch später unterwegs gewesen.«
»Da war das Wetter aber auch nicht so schlimm.«
»Hier haben wir also den Sünder,« dachte Krag bei sich. Laut aber sagte er:
»Zeigen Sie mir bitte den Weg.«
Der Chauffeur ging auf das Haus zu. Ein schmaler Pfad war durch den fußhohen Schnee geschaufelt.
»Kann man hier etwas zu essen bekommen?« fragte Krag.
»Ja, gewiß,« antwortete der Chauffeur eifrig. »Ich bin erst heute vormittag in der Stadt gewesen und habe Proviant geholt. Schnaps und Champagner und viele gute Dinge. Die Tür steht offen. Sie werden oben erwartet.«
Er öffnete eine Tür zu einem schmalen Gang, der von einer Lampe unter der Decke spärlich erleuchtet wurde.
Der Chauffeur rief nach oben:
» Halvar! Halvar! Er ist da!«
Gleich darauf ertönten schwere Schritte über ihnen, und eine breite Gestalt tauchte auf der Treppe auf – ein älterer, vierschrötiger Bauer, dessen Gesicht von grauem Haar und Bart eingerahmt war. Krag meinte in ihm den alten Wirt wiederzuerkennen.
»Willkommen, Herr Christensen,« rief der Bauer hinunter. »Kommen Sie nur herauf. Nehmen Sie Ihren Pelz ab, Herr Christensen, hier oben ist's warm und schön. Sie haben sich sehr verändert, Herr Christensen, aber es ist auch lange her, seit man Sie hier draußen gesehen hat. Bitte hier, Herr Christensen, hier ist ein kleiner Raum zum Abnehmen.«
Er führte Krag in einen Raum, wo bereits mehrere Pelze hingen. Der Detektiv benutzte einen günstigen Augenblick, um seinen Revolver aus der Tasche des Ulsters in die seines Jackettanzuges zu schmuggeln. Vorsicht war geraten. Trotz der außerordentlichen Höflichkeit, die man ihm bewies, hatte dieses große öde Gebäude doch etwas Unheimliches, das ihn beunruhigte.
Er hörte den Wirt durch den langen, schmalen Korridor rufen:
»Herr Christensen ist da.«
Krag wartete auf dem Korridor. Auf jeder Seite lagen vier Zimmer – die Gaststuben des alten Wirtshauses. Am Ende des Korridors führte eine Doppeltür zu einem größeren Zimmer.
Plötzlich wurde diese Tür geöffnet, und ein Herr erschien auf der Schwelle.
Es war Reismann, der verschwundene Direktor des Tanzetablissements »Die blaue Eule«.
Als er Krag sah, blieb er starr und verwundert stehen. Im nächsten Augenblick aber zog er die Tür hinter sich zu, als wollte er verhindern, daß Unbefugte einen Einblick ins Zimmer bekommen sollten.
»Herr Krag,« sagte er, »Sie hier?«
»Es scheint Sie in Erstaunen zu setzen,« sagte der Detektiv. »Offenbar haben Sie mich nicht erwartet?«
»Nein, wahrhaftig nicht. Was wollen Sie hier?«
»Ich wollte der vierte Mann sein, der hier fehlte,« antwortete Krag.
»Wo in aller Welt aber ist Jos?« fragte Reismann.