»Zum Donnerwetter, wo bleiben Sie denn so lange? Wir warten. Der Tisch ist gerichtet.«
So sprach mit gereizter Stimme Oedegaard, der lang, dünn und ungeduldig vor ihnen stand, als Reismann die Doppeltür zu dem großen Zimmer geöffnet hatte. Neben ihm stand ein Spieltisch mit Karten und Spielmarken. Doch war es nicht dieser Spieltisch, der beim ersten Blick Krags Interesse weckte, sondern eine gewaltige Leinwand, die an der einen Wand ausgespannt war und von der Decke zur Erde reichte. Was diese Leinwand vorstellte, war nicht leicht zu sehen, jedenfalls aber war eine Menge Farbe darauf verschwendet. Wenn man das Bild eine Weile aufmerksam betrachtet und förmlich die Augen hineingebohrt hatte, glückte es einem, schließlich eine Gestalt zu unterscheiden, offenbar eine seltsam grüngemalte Dame, die im Begriff war, einen Vorhang beiseitezuziehen. Ueber dem Kopf der Dame stand mit großen roten Buchstaben:
Das Geheimnis wird enthüllt!
und unter ihren Füßen war die wenig idyllische Auskunft gemalt, daß das Entree zwanzig Kronen kostete. Die Tatsache, daß Karl-Erich von Brakel, in Malerkittel, mit Pinsel und Palette in der Hand, vor der Leinwand stand, ließ es außer allem Zweifel, wer der Schöpfer dieses Meisterwerkes sei.
Einige Augenblicke herrschte allgemeines Schweigen. Beide Parteien waren erstaunt und verwirrt. Krag war nicht auf dieses Idyll vorbereitet, obgleich er die Nähe des Spieltisches wohl geahnt hatte, und die beiden Künstler hatten alles andere als Krags Person erwartet.
»Wo ist Jos?« fragte Oedegaard.
»Er ist nicht gekommen,« sagte Reismann, »dank eurer verfluchten Sensationslust. Statt dessen haben wir von diesem Herrn Besuch bekommen.«
Von Brakel legte Palette und Pinsel aus der Hand und fragte:
»Spielen Sie Karten, mein Herr?«
Der lange Oedegaard starrte Krag noch eine Weile unbeweglich an. Sein Gesicht verzog sich zu einer seltsamen Grimasse. Dann setzte er sich auf einen Stuhl, beugte sich vor und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Aber Oedegaard,« sagte Reismann, »wer wird denn seinen Verdruß so unverhüllt zu erkennen geben?«
Oedegaards Schultern zuckten, als ob sein ganzer Körper von heftigem Schluchzen geschüttelt würde, und ein eigentümlicher Laut drang durch seine Finger.
Reismann faßte ihn bei der Schulter und rüttelte ihn. Als er die Hände vom Gesicht nahm, sah man, daß er fast vor Lachen erstickte.
»Zum Donnerwetter, was ist denn hier so komisch?« fragte der Maler. »Spielen Sie Karten, frage ich?«
Inzwischen begrüßte Oedegaard seinen alten Freund Krag, obgleich, wie er sich ausdrückte, »es ihn nicht unbedingt freute, ihn hier zu sehen«.
»Aber wie in aller Welt hast du uns gefunden?« fragte er und betrachtete den Detektiv halb bewundernd, halb neugierig.
»Nichts leichter als das,« erklärte Krag. »Ich legte Beschlag auf den Brief, der an Jos gerichtet war, und dieser Brief hat mich hierhergeführt. Aber ich will gestehen, daß ich keine Ahnung von dem Bestimmungsort hatte, bevor ich hier war. Ich fuhr und fuhr nur. Indessen freut es mich, die Herren so wohl und munter anzutreffen.«
Und zum Maler gewandt, fügte er hinzu:
»Ja, ich spiele Karten. Vorher aber wüßte ich gern, was dieses Bild vorstellt. Es ist wahrhaftig sehr originell. Modern, nicht wahr? Die Aufschrift läßt vermuten, daß das Bild mit den Ereignissen, die die Hauptstadt in der letzten Zeit in Aufregung versetzt haben, zusammenhängt.«
»Ja, nicht wahr?« rief Oedegaard froh und eifrig. »Alle Welt redet von uns. Es wird ein Riesengeschäft werden.«
»Geschäft!« Krag legte starken Nachdruck auf dieses Wort. »Also um ein Geschäft handelt es sich? Ist das recht und billig gegen ein gutgläubiges Publikum gehandelt? Auch glaube ich kaum, daß es auf die Dauer ein gutes Geschäft sein wird.«
»Wir wollen nicht an diesem Geschäft verdienen,« versicherten Oedegaard und Reismann gleichzeitig. »Wir haben uns nur im Dienste einer großen Idee geopfert.«
»Eine wunderbare, eine einzig dastehende Idee!« bemerkte der Maler stolz.
Asbjörn Krag stellte sich vor das Bild.
»Wenn ich das Gemälde näher betrachte,« sagte er, »so wird es mir klar, daß die junge Dame dort den Schleier von dem Geheimnis lüftet. Lassen Sie nun auch mich an der Enthüllung teilnehmen.«
»Eigentlich ist es kein Bild, sondern ein Plakat,« bemerkte von Brakel.
Oedegaard fiel ein:
»Wir wollen Krag lieber alles ausführlich erklären,« sagte er. »Ich bin überzeugt, daß er unser Vorhaben billigt, wenn er es im Zusammenhang erfährt. Um so mehr als ganz Christiania es ja morgen früh erfahren soll. Er muß nur unverbrüchliches Schweigen geloben.«
»Ich habe sein Ehrenwort verlangt, aber er wollte es nicht geben.«
»Nachdem ich dieses Plakat gesehen habe, gebe ich es mit Vergnügen,« antwortete Krag.
Oedegaard nahm die Karten und schob die Spielmarken vom Tisch.
»Das Komitee hat Sitzung!« sagte er. »Ich schlage vor, daß wir Herrn Asbjörn Krag als beigeordnetes Mitglied aufnehmen. Herr Wortführer, nehmen Sie Ihren Platz ein.«
Reismann setzte sich auf den angewiesenen Platz und legte einen Haufen Dokumente vor sich auf den Tisch. Auch die anderen Herren nahmen am Tische Platz. Nur Karl-Erich von Brakel sah unzufrieden aus.
»Kartenspielen ist mir lieber,« sagte er. »Diese Komiteesitzungen sind immer so furchtbar langweilig!«
Reismann beschwichtigte ihn.
»Lieber Karl-Erich, die Sitzung kann interessant genug werden, Herr Asbjörn Krag führt auch ein kleines Geheimnis mit sich, das er zu enthüllen versprach. Und dieses Geheimnis betrifft dich, Karl-Erich.«
»Mich?« fragte Karl-Erich erstaunt.
»Ja, Krag hat entdeckt, daß du deine Wäscherechnung zerrissen hast.«
»Meine Wäscherechnung! Sehr möglich.«
»Warum hast du das getan?«
Von Brakel schüttelte den Kopf.
»Was weiß ich.«
»Sehr richtig,« fiel Krag lachend ein, »ich hatte auch angenommen, daß Sie sie zerrissen haben, ohne es zu wissen. Es war in der Nacht, als Sie verschwanden. Ihr Zimmer sah aus, als ob ein entflohener russischer revolutionärer Student darin gewohnt hätte. An den Papierfetzen aber, die herumlagen, konnte ich sehen, daß Sie nur ganz unwichtiges Zeug zerrissen hatten, dazwischen, wie gesagt, die Wäscherechnung. Sie wünschten Ihrer Flucht ein gewisses mystisches Relief zu geben, das Ganze sollte einen lebensgefährlichen Eindruck machen. Aber es war schlecht inszeniert. Von dem Augenblick an, wo ich dies begriffen hatte, konnte ich den Standpunkt Ihrer Freunde, daß die Herren in Gefahr seien, nicht mehr teilen.«
Von Brakel warf Krag einen Seitenblick zu, gähnte und sagte:
»Ich sage ja, Komiteesitzungen sind furchtbar langweilig.«
»Abermals die verfluchte Sensationslust der Herren Künstler!« murmelte Reismann, »damit hättet ihr uns große Unannehmlichkeiten auf den Hals schaffen können. Ich danke Gott, daß wir so weit gekommen sind.«
Er blätterte in seinen Papieren.
»Also, meine Herren, um mit dem Anfang zu beginnen, welches Datum haben wir heute?«
»Den 6. Dezember,« antworteten Krag und Oedegaard. Von Brakel wußte es nicht und schwieg darum.
»Gut! Als Vorsitzender eröffne ich hiermit die Sitzung der Aktiengesellschaft der 7. Dezember. Finden Sie nicht, daß es ein seltsamer Name ist, Herr Krag?«
»Ich wundere mich über nichts mehr. Wie groß ist das Aktienkapital?«
»Das ist noch nicht festgesetzt.«
»Das wäre! Wieviel Aktionäre hat die Gesellschaft?«
»Wir haben ausgerechnet,« antwortete Reismann ernsthaft, indem er in seinen Papieren nachsah, »daß die Aktiengesellschaft der 7. Dezember ungefähr fünftausend unglückliche Aktionäre hat.«
»Unglückliche?« fragte der Detektiv.
»Ja,« antwortete Reismann, »alle Aktionäre der Gesellschaft sind sehr unglücklich.«
»Die Mitglieder der Direktion aber scheinen nichtsdestoweniger bei bester Laune zu sein.«
»Sehr richtig,« antwortete Reismann und sah den Detektiv über seinen Kneifer hinweg fest an, »es ist die Pflicht der Direktion glücklich zu sein.«
Krag dachte bei sich: »Sind denn alle diese Leute verrückt?«