Krag blickte sich im Zimmer um und fand seine Vermutung nicht unberechtigt.
Sogar Direktor Reismanns sonst so gleichgewichtige Persönlichkeit hatte etwas Nervöses und Gejagtes. Er wühlte in dem Dokumentenhaufen, der vor ihm lag, als suchte er nach einem Papier, das er nicht finden konnte.
Der lange Oedegaard starrte mit großen matten Augen in einem grauen, müden Gesicht vor sich hin. Von Brakel sah man an, daß er längere Zeit von seinen Toilettensachen getrennt gewesen war. Seine sonst so tadellose Gestalt hatte einen Anflug jener Eleganz, die stark nach Erneuerung verlangt. Außer der lächerlich großen Leinwand, die die ganze eine Wand einnahm, sah man noch andere Malereien und Zeichnungen rings im Zimmer, einige waren an die Wände gestiftet, andere lehnten gegen Spiegel und Stühle. Alle hatten jenen seltsamen Charakter, der bei einer feierlichen Ausstellung zu sinnreichen Analysen herausfordert, in dieser Umgebung aber das Sinnverwirrende noch erhöhte. Zwischen Malgerätschaften und halb ausgedruckten Farbentuben, deren Inhalt über Stuhlsitze und Tischdecken geschmiert war, standen oder lagen Gläser verschiedenartigsten Formats, Whisky- und Champagnerflaschen. Auf dem Fußboden stand ein leerer Champagnerkorb, und Strohhüllen, Zigarren- und Zigarettenstummel, Kragen und kassierte Kartenspiele lagen überall herum. Mittendrin aber saß, um den grünen Spieltisch vereint, die glückliche Direktion der fünftausend unglücklichen Aktionäre der »Aktiengesellschaft der 7. Dezember«! Krag konnte sich mit Recht die Frage stellen: »Bin ich in eine Gesellschaft von Verrückten geraten?«
»Ist es den Herren hier draußen nicht langweilig geworden?« fragte er.
»Ja, wir haben uns etwas geödet,« antwortete Oedegaard, »der vierte Mann hat uns gefehlt. Bevor ich kam, war es aber noch schlimmer,« fügte er selbstbewußt hinzu.
Jetzt ergriff der Vorsitzende das Wort.
»Meine Herren,« sagte er, »die Sitzung ist eröffnet, und Unterbrechungen sind nicht am Platz. Gestatten Sie mir, daß ich, der einstimmig gewählte Vorsitzende, vortrage, was die ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ bisher ausgerichtet hat.«
Alle gaben durch Nicken ihren Beifall zu erkennen, worauf der Direktor Reismann fortfuhr:
»Die Aktiengesellschaft wurde eines Abends vor ungefähr vierzehn Tagen im Grand Hotel gegründet.«
»War es sehr spät am Abend?« fragte Krag.
»Da das neue Direktionsmitglied extra Aufschlüsse verlangt,« antwortete der Vorsitzende, »sei es mir gestattet, ihn darüber aufzuklären, daß der Beschluß morgens um vier Uhr gefaßt wurde. Sollte die Frage des geehrten Interpellanten eine schlecht verhehlte Beleidigung enthalten, so weise ich sie hier aufs entschiedenste zurück. Ich glaube, daß die Idee der Gründung ursprünglich von Oedegaard herrührte. Sie ehrt seine Phantasie und sein Mitgefühl, das er stets für unglücklich gestellte Aktionäre gehabt hat. Der Vorschlag wurde einer Versammlung vorgelegt, die, außer aus mir und Herrn Oedegaard, aus Herrn von Brakel und unserm lieben Jos bestand, der leider augenblicklich nicht gegenwärtig ist. Daß keine anderen bei jener Gelegenheit zugegen waren, hat seinen Grund ausschließlich darin, daß wir in jener Nacht zu einem äußerst angenehmen Bridge mit hohem Einsatz versammelt waren.«
Hier sah der Vorsitzende auf seine Uhr, als ob es von größter Wichtigkeit sei, daß er keine Sekunde an gleichgültige Dinge verschwende.
»Warum siehst du denn beständig nach der Uhr?« fragte Oedegaard.
»Weil ich aufpassen muß, daß wir nicht zu spät bei den Zeitungen ankommen. Ich habe mir bei allen Zeitungen für heute nacht Platz offenhalten lassen, sowohl im redaktionellen wie im Inseratenteil.«
»Das hast du getan?« rief Oedegaard erschrocken. »Dann wissen ja alle Zeitungen, daß wir in Sicherheit sind, und die ganze Sache ist ins Wasser gefallen.«
»Rege dich nicht auf, lieber Freund,« antwortete Reismann. »Du vergißt meine Verbindung in Christiania. Durch diese ist alles besorgt worden. Die Zeitungen ahnen nichts.«
»Ach so, du meinst Billington,« sagte Oedegaard beruhigt. »Fahre fort, lieber Freund.«
»Billington,« dachte Krag bei sich. »Das ist Jos' Geschäftsführer. Er war also eingeweiht.«
Ohne sich anmerken zu lassen, daß der Name ihm aufgefallen war, ließ er Reismann in seinem Bericht fortfahren. Reismann sprach in einem ernsten, geschäftsmäßigen Ton, als ob er vor einer tausendköpfigen Versammlung spräche. Hin und wieder ließ er seinen Blick über den Raum schweifen, als ob er sich die Aufmerksamkeit und den Beifall der Menge sichern wollte. Die verzerrten Formen auf von Brakels Gemälden störten ihn nicht.
»Wie Sie sich erinnern werden, meine Herren,« fuhr Reismann fort, »unterbreitete ich Ihnen bei jener Gelegenheit meinen Plan, eine Weihnachtsvorstellung für die Notleidenden zu arrangieren. Diese Vorstellung sollte in meinem Tanzlokal stattfinden, das zweitausend Personen faßt, und ich äußerte die Besorgnis, daß das Unternehmen wegen der zunehmenden Gleichgültigkeit des Publikums gegen Wohltätigkeitsveranstaltungen nicht genügend Beteiligung finden würde. Da machte mein vortrefflicher Freund Oedegaard den Vorschlag, die ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ zu gründen. Wie Ihnen bereits aus den Zeitungen bekannt ist, meine Herren, ist der 7. Dezember der Tag, an dem die Vorstellung vom Stapel gehen sollte, und das soll sie auch, obgleich die Zeitungen pessimistisch voraussagen, daß das Fest wegen des unerwarteten und unerklärlichen Verschwindens des Hauptunternehmers nicht stattfinden wird.«
Obgleich Reismann die ganze Zeit wie zu einem großen Publikum sprach, war es Krag dennoch klar, daß die Ausführungen nur ihm galten. Oedegaard hörte müde, und von Brakel unendlich traurig zu.
»Da war es, daß mein Freund Oedegaard auf den Gedanken kam, daß wir des guten Zweckes wegen eine riesige Sensation machen wollten. Eine Sensation, von der Christiania tagelang sprechen und die schließlich mit der Vorstellung am 7. Dezember kulminieren sollte. Leider ist das Publikum bereits mit Sensationen so überfüttert, daß wir uns etwas ganz Besonderes ausdenken mußten. Wir einigten uns, daß wir eine Aktiengesellschaft bilden wollten, das heißt, wir vier wollten die Direktion sein, und die Aktionäre sollten aus den fünftausend Notleidenden bestehen, die unsere Hilfe nötig haben. Mit anderen Worten, meine Herren, die Aktionäre haben keine anderen Verpflichtungen, als die Einnahmen der Aktiengesellschaft entgegenzunehmen. Nun ist ja bei Wohltätigkeitsveranstaltungen gang und gäbe, daß man bekannte Künstler gewinnt, die das Publikum locken sollen. In letzter Zeit aber sind die Leute so blasiert geworden, daß es uns von vornherein klar war, daß die Mitwirkung von Kabarettisten, Filmstars, Sängerinnen und rezitierenden Poeten nicht genügen würde, sondern daß wir etwas ganz Besonderes bringen mußten, wollten wir einen Erfolg erzielen, der meinem Namen und meinem Etablissement ansteht. Damit das Geheimnis nicht bekannt wurde, einigten wir uns, daß nur wir vier und ein Vertrauensmann davon wissen sollten. Dieser Vertrauensmann ist Jos' Geschäftsführer Billington. Meine Herren, bisher hatten wir allen Grund, mit unserem Unternehmen zufrieden zu sein. Auf äußerst mystische Weise haben wir uns entführen lassen, einer nach dem anderen, und haben uns hier versammelt, um in Ruhe, doch unter Wahrung gewisser gesellschaftlicher Formen« – er wies auf die geleerten Flaschen und den Champagnerkorb – »über die Strategie des Feldzuges zu beraten. Jetzt ist alles fertig: Plakate, Zeitungsnotizen, Anzeigen, Reklame. Ich brauche Ihnen nur diese kleine Notiz vorzulegen, die morgen in allen Zeitungen stehen soll, um Ihnen die besondere Form unserer Sensation zu erklären.«
Damit schob Reismann ein Stück Papier zu Krag hinüber und lehnte sich befriedigt in den Stuhl zurück.
»Lesen Sie vor!«
Krag las:
» Das Schicksal der Verschwundenen.
Das Rätsel, das seit mehreren Tagen allgemeines Gesprächsthema war, hat, wie wir erfahren, gestern eine glückliche Lösung gefunden. Smart wie immer, will Direktor Reismann das Ereignis benutzen, um ein großes Publikum zu der Wohltätigkeitsvorstellung heranzuziehen, die heute abend in seinem Vergnügungsetablissement ›Die blaue Eule‹ stattfindet. Die verschwundenen Herren, die ein Abenteuer, das in unserer friedlichen Stadt einzig dastehend ist, glücklich überstanden haben, wollen dem Publikum heute abend davon berichten, anstatt es der Allgemeinheit durch die Zeitungen bekanntzugeben. Wir müssen uns also bis heute abend gedulden und verweisen im übrigen auf das Inserat.«
Kaum hatte Krag zu Ende gelesen, als Oedegaard auf den Tisch schlug und ausrief:
»Da kommt Jos!«
Alle horchten auf.
Draußen arbeitete sich ein Auto durch den Schnee. Gleich darauf erklangen schnelle und polternde Schritte auf der Treppe, und die Tür wurde aufgerissen.
Es war nicht Jos. Es war ein Herr, den Krag nicht kannte.
»Billington, Sie?« sagte Reismann erstaunt. »Was soll das bedeuten?«
Billington blieb in der Tür stehen, von Schnee triefend, eifrig und nervös.
»Ist Jos hier?« fragte er.
»Nein.«
»Er muß hier sein,« sagte Billington.
»Er ist nicht hier und ist auch nicht hier gewesen.«
»Dann ist ein Unglück geschehen.«
»Pfui, wie blaß der Mensch aussieht!« sagte von Brakel.
Krag dachte bei sich: »Keiner der würdigen Herren hat bisher mit dem neuen Glied in der Kette: dem Brief, der um drei Uhr kam, gerechnet. Also ist doch noch zum Schluß aus dem Spiel Ernst geworden.«