»Um drei Uhr!«
Diese drei Worte hatte Krag mit berechnender Plötzlichkeit hervorgestoßen. In solchen Ueberraschungen war er Meister. Seine Stimme hatte keinen ungewöhnlichen Klang gehabt, und dennoch blieben die Worte noch eine ganze Weile wie ein zweischneidiges Schwert in der Luft stehen. Sie bekamen einen seltsamen Doppelklang, der weder durch die Worte an sich noch durch ihren Sinn hervorgerufen wurde, aber die Art, wie er sie aussprach, machte, daß derjenige, an den sie gerichtet waren, plötzlich aufhorchte, nachdenklich und verwirrt. Es gehörte eine ungewöhnliche Geistesgegenwart dazu, um sich bei solch plötzlichem, unerwartetem Geschoß nicht zu verraten. Und in den Augenblicken, die folgten, beobachtete Krag das Mienenspiel und den Seelenzustand des Angegriffenen aufs schärfste.
Auch in diesem Fall entstand eine Pause zwischen Krags Worten und Surons Antwort, die Krag dazu benutzte, um den Gesichtsausdruck des Finnen mit gespannter Aufmerksamkeit zu studieren. Er verriet ein gewisses Erstaunen, und Krag wollte jede Wette eingehen, daß Suron seine Antwort wohl überlegte.
»Um drei Uhr,« murmelte er, »um drei Uhr, lassen Sie mal sehen. Nein, das kann nicht stimmen. Um drei Uhr war ich zu einer Konferenz in der Börse.«
»Na, vielleicht war es etwas später,« gab Krag lächelnd zu.
Es war nicht Krags Absicht, den Angegriffenen jetzt noch mehr zu beunruhigen. Darum wich er aus.
»Sie haben mich also in meinem Auto gesehen? Vielleicht haben Sie auch meine neue Hupe gehört?«
»Freilich. Eine prächtige Hupe. Ihr Klang geht einem durch Mark und Bein.«
»Mit anderen Worten,« fuhr Suron fort, »wenn Sie die Hupe hören, dann wissen Sie, daß es mein Auto ist. Es ist keine vage Vermutung?«
»Nein, ich weiß es.«
Der Finne lachte.
»Das nenne ich Scharfsinn,« sagte er.
In diesem Augenblick wurde Krag von anderer Seite angerufen und verließ darum Suron und Reismann. In einem Wandspiegel aber konnte er verfolgen, wie uninteressiert der Finne Reismann zuhörte und wie sein Blick ihm die ganze Zeit mit eigentümlicher Wachsamkeit folgte.
Der Spielinspektor hatte Krag gerufen.
»Ich habe meine Bedenken wegen des Spieles,« sagte der Inspektor, indem er Krag an einen Tisch zog, wo sie ungestört sitzen konnten, »und ich habe Ihnen angemerkt, daß auch Sie welche haben.«
»Sie meinen, weil das Spiel so ungewöhnlich hoch war?«
»Es war ungewöhnlich hoch. Aber das ist es nicht, denn unsere Gesellschaft ist ja privat. Nein, Reismann gefällt mir nicht. Sonst pflegt er immer ganz gleichmütig zu sein, ob er gewinnt oder verliert. Heute abend aber behauptet er, daß die Karten, die wir versiegelt hatten, vier Asse waren. Was halten Sie davon?«
»Ich meine, daß Reismann entweder total verrückt sein muß, oder daß er die vier Asse gehabt hat. Und in letzterem Fall hätte er die Partie gegen Stenesens vier Könige gewonnen. Total verrückt aber ist Reismann nicht. Da haben Sie meine Meinung über die Sache.«
»Aber das ist ja entsetzlich. Was will er denn machen?«
»Nichts. Er trägt seinen Verlust, mehr kann man nicht von ihm verlangen. Ich weiß übrigens, daß es einen Augenblick gab, wo er schwankte. Fast hätte er protestiert und Betrug! gerufen. Es spricht für seine Geistesgegenwart, daß er den Verlust vorzog und auf einen Krach verzichtete. Er nahm die versiegelten Karten als eine Tatsache, daß hier eine – Unregelmäßigkeit vorliegt, so wollen wir es bis auf weiteres nennen.«
Der Inspektor sank ganz gebrochen in sich zusammen.
»Haben die Karten während der ganzen Zeit im Geldschrank gelegen?« fragte Krag.
»Ja, und außer mir hat niemand die Schlüssel dazu.«
»Schlüssel zu einem altmodischen Geldschrank nachzumachen, ist keine große Kunst,« bemerkte Krag.
»Aber die Siegel! Ich habe die Karten doch selbst versiegelt, und die Siegel waren intakt.«
Krag zuckte die Achseln.
»Ich bitte Sie, nehmen Sie die Siegel und die Kuverts in Verwahrsam,« sagte er.
»Das habe ich schon getan. Sie sind in diesem Kuvert. Alle drei Umschläge mit ihren Siegeln. Wollen Sie sie haben?«
»Ja, gern.«
»Glauben Sie, daß man Siegel abnehmen und wieder aufsetzen kann?«
»Für einen durchtriebenen Verbrecher ist es eine Kleinigkeit,« sagte Krag. »Wenn ich nach Hause komme, werde ich die Papiere einer gründlichen Prüfung unterziehen. Wann wollen Sie Bescheid haben? Morgen?«
»Ich möchte so schnell wie möglich Gewißheit haben. Ich bleibe bis fünf Uhr heute nacht hier. Wollen Sie mir bis dahin telefonieren?«
»Ja.«
Einige Minuten später stand Krag auf der Straße. Kurz vorher hatte er Billington fortgehen sehen. Reismann saß in einem großen Kreis von Bewunderern und ließ sich ob seines großartigen Spiels huldigen. Er hatte wieder eine ganze Batterie Champagnerflaschen bestellt, so daß er augenblicklich mit seinem Leben sehr zufrieden war. Man konnte ihm sein Behagen über die bedeutende Rolle, die er spielte, ansehen.
Es war in den Tagen, als alle Spekulationen glückten, als alle Papiere, sogar die verachtetsten, stiegen. Die Stadt war voll von Spekulanten, die durcheinanderrannten, halbgeleerte Champagnerflaschen hinterließen, tags an der Börse und nachts in den Klubs hoch spielten und es als einen Eingriff in ihre persönliche Freiheit betrachteten, daß es überhaupt Nächte, dunkle Stunden gab, in denen die Papiere unmöglich steigen konnten. Nächte, die eine veraltete, törichte Tradition zur Ruhe für die Menschheit bestimmt hatte.
Aehnliche Gedanken schossen Krag flüchtig durch den Kopf, während er vor dem Klub auf der Straße stand und wartete. Trotz allem hielt er viel von Reismann, weil dieser im Grunde eine vornehme, gutherzige Bohemenatur war, aufrichtig, kindlich und häufig wehmütig gestimmt.
Der »Unpolitische Freisinnige Klub«, wie der offizielle Name lautete, lag an einer Straßenecke. Vor dem Klub wartete Surons »Excelsior«-Auto. Krag stand hinter der Ecke verborgen und hörte Suron aus dem Hause kommen und dem Chauffeur folgende Anweisung geben: »Zum Telegraphenamt.« Im Vorbeigehen hatte Krag den Chauffeur angesehen. Er hatte keinen roten Vollbart und glich Jonassen überhaupt nicht.
Kurz darauf trat Krag bei dem Nachtbeamten des Telegraphenamtes ein. Suron war soeben weitergefahren.
»Ich muß unbedingt das Telegramm lesen, das der Herr eben aufgegeben hat,« sagte er zum Beamten.
»Sie sind es, Herr Krag,« sagte der Beamte. »Da können wir uns wohl die Formalitäten, die zur Auslieferung eines Telegramms vorgeschrieben sind, sparen. Hier ist das Telegramm. Ich glaube aber kaum, daß es Interesse für Sie hat.«
Krag las:
»Palasthotel
Kopenhagen.
Verspätet. Komme am achten morgens. Zimmer reservieren.
Johs. P. Christensen.«
»Eine ganz gewöhnliche Zimmerbestellung,« sagte Krag. »Sie haben recht, es hat kein Interesse für mich.«
»Außerdem haben Sie wohl die Unterschrift beachtet,« sagte der Beamte. »Joh. P. Christensen ist ja der große Schiffsreeder, den alle Welt ›Jos‹ nennt, nicht?«
»Ja, ja, Sie haben recht. Er hat das Telegramm wohl nicht selbst aufgegeben. Kennen Sie ›Jos‹?«
»Von Ansehen natürlich. Ich habe zu Tausenden Telegramme für ihn aufgenommen, aber selbst hat er sie nie gebracht, er schickt immer seine Lehrlinge, Boten, Hoteljungen oder Dienstmänner, aber selbst kommt er nie.«
»Das ist begreiflich,« sagte Krag. »Aber Sie haben recht, dieses Telegramm hat kein Interesse für mich, ich meinte nur, während ich hier in der Gegend auf Entdeckungsreisen ging, daß der Mann, der das Telegramm aufgab, mit ausländischem Akzent sprach, und wie Sie wissen, muß man heutzutage auf Ausländer ein wachsames Auge haben. Uebrigens habe ich auch ein Telegramm aufzugeben. Auch für Kopenhagen.«
»Sie wollen also selbst ein Zimmer bestellen,« sagte der Beamte, während er Krags Telegramm aufnahm. »So kurz vor Weihnachten kann es schwierig sein. Aber Sie werden wohl eines bekommen.«
Als Krag das Telegraphenamt verließ, konnte er plötzlich konstatieren, daß er ein Verbindungsglied zwischen dem Fall »Jos« und Suron bekommen hatte. Er stellte fest, daß er bereits seit den letzten Stunden eine Ahnung von der Existenz dieser Verbindung gehabt hatte.
Was aber hatte das Ganze für einen Sinn? Jos war ja bereits auf dem Wege nach Kopenhagen! Und warum hatte der Finne ein Telegramm mit Jos' Unterschrift abgesandt?
Der Hauptpunkt blieb indessen das »Excelsior«-Auto und der Brief um drei Uhr, dieser Brief, den alle vergessen hatten.
Und dennoch war es dieser Brief, der Krags Interesse am meisten in Anspruch nahm. Ihm ahnte, daß sich hinter diesem Brief ein Vorhaben verbarg, das jetzt in voller Entwicklung war.