Alle Wege führen nach – Kopenhagen

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Als Asbjörn Krag am nächsten Morgen aus seinem Schlafcoupé trat, begann sich gerade ein blasser Tagesschein mit den gelben Lampen auf dem Korridor zu vermischen. Der Zug war schon weit in Schweden und näherte sich Helsingborg. Nacheinander kamen die Reisenden zum Vorschein, einige graubleich und übernächtig, andere morgenfrisch. Bald war der Korridor überfüllt. Der Wagen war stark geheizt, und die Passagiere mußten beständig die Feuchtigkeit von den Fensterscheiben wischen, wollten sie die Landschaft betrachten, die der Zug durcheilte, eine durchnäßte Ebene, wo nur hier und dort noch Schneeflocken lagen. Man näherte sich dem nordischen Rivieraklima am Sund.

Krag machte einen hastigen Streifzug durch die Coupés. Einige der Schlafcoupés waren von der Bedienung bereits zurechtgemacht worden, und in einem Abteil erster Klasse für Nichtraucher saß Fräulein Aino Erko, seit langem auf, seit langem in ihrem tadellosen Reisekostüm, noch immer vornehm in eine Ecke zurückgezogen. Das englische Magazin hielt sie jetzt zusammengefaltet in ihrer behandschuhten Hand. Krags Blick suchte die Tasche mit den Dokumenten. Ja, sie hing noch immer an dem Riemen über der Achsel.

Krag grüßte, indem er einen Platz dicht neben dem Korridor einnahm, und sie erwiderte seinen Gruß mit einem kurzen, ungnädigen Kopfnicken, wie, um ihm zu zeigen, daß es ihr ganz gleichgültig sei, ob er da sei oder nicht.

Suron war nicht da. Als er sie am vorhergehenden Abend im Coupé besuchte, hatte er ihr nur den Gepäckschein geben wollen. Sie hatten einige Minuten miteinander gesprochen, worauf der Finne in sein Coupé zurückgekehrt war. Das Ganze war wie ein Höflichkeitsakt gewesen, korrekter konnte man nicht auftreten. Sie waren wie Bruder und Schwester. Außerdem waren sie ja Landsleute, nichts schien darum natürlicher, als daß sie ihre Gesellschaft suchten und sich gegenseitig halfen. Und wenn ein Verhältnis zwischen ihnen bestand, so war auch das das Natürlichste von der Welt. Auf alle Fälle bekam Krag dadurch eine Erklärung für den Umstand, daß Suron an jenem Abend aus Jos' Hause gekommen war. Er mochte oben bei seiner Geliebten gewesen sein, die allein im Bureau saß und auf eine Mitteilung von ihrem Chef wartete. Auf diese Weise war alles leicht zu erklären und Krag fühlte sich wirklich von seiner Rolle als Spion ziemlich bedrückt. Gestern abend hatte er noch festgestellt, daß Suron in dem Wagen saß, der nach Malmö ging. Es war üblich, daß Leute, die morgens gern lange schliefen, über Malmö fuhren, von wo sie die Fähre nach Kopenhagen nahmen, statt die direkten Wagen Helsingborg–Helsingör. Krag hatte einen Augenblick überlegt, welchem von beiden er folgen sollte: Suron oder Fräulein Erko. Hatte dann aber schnell den Entschluß gefaßt, demjenigen zu folgen, der die Dokumente mit sich führte. So kam es, daß Krag nach Helsingborg fuhr, während Suron mit dem Kontinentalzug den Weg über die Ebene von Schonen nahm.

Es war zu der Zeit, als die Paßkontrolle noch sehr scharf war. Krag hatte außer seinem Paß, der auf seinen richtigen Namen lautete und mit seiner Photographie versehen war, noch einige andere Papiere, die ihm gestatteten, alle offiziellen Schranken ungehindert zu passieren. Als der dänische Polizeibeamte Krags Paß mit der Photographie musterte, das energische, glattrasierte Gesicht, und einen bärtigen Herrn von ausgeprägt südländischem Typ vor sich sah, konnte er sich nicht versagen, scherzhaft zu bemerken:

»Das Bild ist aber riesig ähnlich.«

Krag zeigte ihm seine Legitimation.

»Ja, ja, ich verstehe,« sagte der Beamte, indem er seinen Stempel auf das Dokument drückte.

Darauf betrachtete er wieder den maskierten Detektiv und lächelte.

»Eine glänzende Maske,« sagte er, »einfach großartig.« Und mit einer Handbewegung auf die Reisenden fügte er flüsternd hinzu:

»Ist er mit?«

»Ja,« antwortete Krag.

»Dann wünsche ich erfolgreiche Jagd, Herr Krag.«

Als Krag aus dem Zollgebäude trat, blieb er eine Weile stehen und betrachtete den Strom von Reisenden, die mit ihrem Gepäck in der Hand zum Bahnhof eilten. Unter den letzten war Fräulein Aino Erko. Doch folgte sie nicht den anderen Reisenden, sondern bog nach rechts ab und blieb auf dem Marktplatz stehen, wie um sich zu orientieren. Da wurde sie des großen Hotels am Hafen ansichtig, dessen Schild »Eisenbahnhotel« ihr entgegenleuchtete, und schnell entschlossen lenkte sie ihre Schritte dorthin.

Diese kleine Abweichung von der üblichen Route hatte Krag nicht berechnet, doch war sie ihm keineswegs unwillkommen. Eine junge weibliche Angestellte, die eine Reise macht, um ihrem Chef wichtige Papiere zu bringen, und während der Fahrt von ihrem galanten Bräutigam, oder vielleicht nur Verwandten, eskortiert wird – etwas anderes hatte bisher nicht vorgelegen. Plötzlich aber war die Veränderung eingetreten, daß die junge Dame, anstatt ihrem Chef entgegenzueilen, in Helsingör ausstieg und sich dort ins Hotel begab. Und das gab Krag Veranlassung zu Ueberlegungen, die ihm keineswegs unangenehm waren.

Er wartete, bis der Zug nach Kopenhagen abgegangen war, und folgte dann der jungen Dame ins Hotel. In dem großen Eßsaal, dessen Fenster zum Hafen und Kai hinausgingen, wurde das erste Frühstück serviert. Sein Erscheinen konnte zu dieser Tageszeit nicht das geringste Aufsehen wecken. Helsingör, ein großer Handelsplatz, hatte täglich Besuch von zahlreichen Kaufleuten, die, bevor sie ihre Runde durch die Stadt machten, sich mit einem Frühstück in dem renommierten Hotel stärkten. Krag konnte ohne weiteres als ein solcher Kaufmann gelten. Es saßen bereits mehrere Gäste drinnen. Und an einem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters saß Fräulein Aino Erko mit ihrem Kaffee und einer Zeitung. Der Zeitung schenkte sie nicht viel Aufmerksamkeit, sie schien sich mehr für das zu interessieren, was sie vom Fenster aus sehen konnte, diese entzückende Aussicht über den Sund zwischen Dänemark und Schweden. Ueber dem Oeresund liegt eine ähnliche Stimmung wie über anderen großen Verkehrstoren, Gibraltar, Singapore, Calais, durch die die Weltsegler mit Reise- und Abenteuerlust in den Segeln, mit Grüßen aus fernen Ländern hindurchfahren. An diesem Dezembermorgen brütete der Himmel trübe und dunkel über der Landschaft, trotzdem war der Gesichtskreis voll von wimmelndem Leben – dem unaufhaltsamen, glitzernden Tanz der Wellen, Segelschiffen und Dampfern, die vorbeipassierten und schreienden Fischmöwen.

Da fuhr ein Auto beim Hotel vor, ein großes, offenes Privatauto mit einem einzigen Passagier. Er trug einen braunen amerikanischen Automobilpelz und sein Kopf war ausgerüstet, als wollte er eine Fliegertour von dreitausend Meter Höhe unternehmen. Er wickelte sich aus seinen Decken und Plaids und stieg aus, nachdem der Hoteljunge die Tür des Autos geöffnet hatte.

Asbjörn Krag erkannte diesen Mann, den er deutlich durch das Fenster sehen konnte. Es war kein Zweifel möglich. Den graugesprenkelten Spitzbart, das unnatürlich gerötete Gesicht und die hellen, fast weißen Augenbrauen hatte er häufig auf den Straßen und in den Restaurants von Christiania gesehen.

Es war Jos!

Der Schiffsreeder Joh. P. Christensen ging in die Halle des Hotels, wo er mit Fräulein Aino Erko zusammentraf. Sie hatte ihn vom Fenster des Restaurants aus gesehen und war ihm entgegengeeilt. Die Tür blieb einen Augenblick offen und Krag hörte, wie der Schiffsreeder sie freundlich, fast herzlich begrüßte. Er saß zu entfernt, um seine Worte zu verstehen, aber er fing ganz deutlich den singenden Tonfall des Westländers auf.

Bald darauf saßen beide im Auto. Fräulein Erko verschwand fast in dem großen Pelz, in den Jos sie eingewickelt hatte. Der Portier stopfte Decken und Plaids um sie herum – und dann fuhren sie davon. Der Aufenthalt hatte nur einige Minuten gedauert.

»Was kann das bedeuten?« dachte Krag, indem er eine Kombination zu Ende führte: »Aino Erko allein hier ... Suron hat sich unsichtbar gemacht ... Und Jos mit seinem Auto in Helsingör? Solche Aufmerksamkeit pflegt man seinen Angestellten nicht zu erweisen ... Sollte ich einer ganz gewöhnlichen Liebesaffäre auf der Spur sein?« dachte Krag mit einem gewissen Unbehagen.

Dann aber tröstete er sich damit, daß er ja einem Verbrecher auf der Spur sei, der sich durch Falschspiel vierunddreißigtausend Kronen angeeignet hatte. Daß bei dieser Jagd unvorhergesehene Ereignisse eintrafen, war nicht zu verwundern.

»Wohin ging die Reise?« fragte er den Portier, als er in die Halle trat.

»Nach Kopenhagen,« antwortete der Portier, indem er sich behaglich den Bart strich. Er hielt einen hübschen Schein in der Hand.

»Ein Auto,« sagte Krag. »Ich will auch nach Kopenhagen.«