Ein Souper bei Nimb

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Es war ein vortreffliches Souper, wie nur das alte renommierte Restaurant es zu liefern verstand. Krag hatte einen Platz gewählt, von wo aus er das ganze Lokal übersehen und selbst ungestört sitzen konnte. Während der ersten Stunde schien er sich nur für die Speisen und Weine zu interessieren, und Hansten-Jensen, der sich mit gewohnter Pünktlichkeit eingefunden hatte, versuchte vergeblich das Gespräch auf etwas anderes zu bringen. Nicht einmal als der dänische Detektiv ihn darauf aufmerksam machte, daß Suron sich im Lokal befand, schien diese Mitteilung Eindruck auf Krag zu machen. Er nickte nur und sagte:

»Habe ihn schon gesehen. Was wünschen Sie zu dieser leckeren Vorspeise. Ziehen Sie Cocktail oder Schnaps vor. Ich möchte Schnaps empfehlen. Man bekommt hier einen dreißigjährigen Aquavit, leicht gekühlt. Aquavit darf ebenso wie feiner Kognak nicht zu kalt sein. Gut, nehmen wir also den Schnaps.«

Der Schnaps und die kalten Vorgerichte, geschmackvoll auf einer silbernen Schüssel, wurden serviert. Nach der Suppe kam Hummer american, der Krag zu weitläufigen Auseinandersetzungen über die Zubereitung von Hummern hinriß. Hansten-Jensen starrte seinen Kollegen, der mit Behagen eine Paul Roger brut 1906 kostete, verwundert an. Er hatte noch nie gemerkt, daß Krag den Freuden der Tafel dermaßen verfallen war. Und er meinte zu verstehen, daß Krag mit diesen lehrreichen Erklärungen bei jedem neuen Gericht einen bestimmten Zweck verband. Die Aufsicht beim Servieren führte ein alter Oberkellner von englischem Typ, der bei Krags Ausführungen überlegen und zugleich verständnisvoll lächelte. Hansten-Jensen folgte diesem Oberkellner mit den Augen und stellte fest, daß er auch den Tisch beaufsichtigte, an dem Suron in einem Kreis von fröhlichen Freunden und Freundinnen saß. Da begann er zu verstehen ...

Erst beim Schinken in Burgunder mit dem Haut-Brion von 1899 schien Krag auch für andere Dinge als die Freuden der Tafel Interesse zu bekommen.

»Kennen Sie die Gesellschaft dort drüben?« fragte er, als der Oberkellner sich zurückgezogen hatte.

»Außer Suron sitzt dort der norwegisch-russische Kaufmann Güssow, der kleine Mann, der wie ein englischer Jockei aussieht. Man behauptet, daß er seine Zimmer mit Geldscheinen tapeziere. Ferner ist da der dänische Rechtsanwalt und Börsenspekulant Henriksen. Von dem wird behauptet, daß er in den Boden seines Tanzsalons mechanische Musikinstrumente hat einlegen lassen, so daß die Apparate auf melodiöse Weise den Bewegungen der Tanzenden folgen, anstatt umgekehrt. Dann kommt der schwedische Baron Grip, der in vierzehn Tagen vier Millionen verdient haben soll. Ferner der reiche Rubensohn, dessen letzte Extravaganz ein Auto zum Transport für sein Rennpferd ›Endymion‹ ist, in dem das Pferd von und zur Rennbahn gefahren wird. Er ist erst neunzehn Jahre alt. Neben ihm sitzt seine Freundin, Fräulein –«

»Um Gottes willen, hören Sie auf,« unterbrach Krag ihn. »Da – Suron hebt sein Glas und grüßt zu uns herüber.«

Krag beantwortete den Gruß mit übertriebener Freundlichkeit und mit einer Miene, als ob er ihn jetzt erkenne.

»Jetzt erzählt er den anderen, wer ich bin,« sagte Krag. »Er beugt sich vor und teilt es ihnen leise mit, und sie sehen hierher. Wie gefällt Ihnen Suron, lieber Freund?«

»Er sieht wie ein Boxer aus,« meinte Hansten-Jensen.

»Das ist er auch. Er ist ein regelrechter Athlet. Hat sicher in Amerika als Kohlentrimmer oder draußen auf den Prärien gearbeitet. Man kann es an seinen Händen sehn, die er vergeblich zu verbergen sucht. Wenn Sie ihm aber jemals begegnen sollten, dann geben Sie auf seine Augen acht. Ich habe selten jemanden getroffen, dessen Physiognomie so viel Willensstärke und Kraft ausdrückt.«

»Er hat ein Gesicht, das Frauen gefällt,« sagte Hansten-Jensen, »er betört sie und macht sie unglücklich. Ich begreife, daß sie weint.«

»Sie meinen Aino. Weinte sie wirklich?«

»Ja.«

»Heute abend?«

»Ich hätte es Ihnen schon früher erzählt, aber Sie waren ja nicht von den herrlichen Weinen und Speisen abzubringen. Im übrigen verstehe ich Ihr Benehmen jetzt. Wenn der englische Oberkellner oder ein anderer neugieriger Gast gefragt worden wäre, wovon wir uns unterhielten, was sollte er dann antworten?«

»Was er wahrscheinlich geantwortet hat, daß wir uns ausschließlich vom Essen unterhalten. Warum aber weinte Aino?«

»Sie versuchte heute abend zu fliehen,« berichtete Hansten-Jensen. »Vor wem, weiß ich nicht. Vielleicht hat Jos sie erschreckt. Vielleicht Suron. Die Wahl ist ja auch nicht leicht. Auf der einen Seite die große Energie, auf der anderen die vielen Millionen. Ich traf sie vor einer Stunde bei der Paßkontrolle. Stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich zwischen der Schar der Reisenden Fräulein Erko entdeckte, in einem schwarzen Reisepelz, mit einer Tasche von Krokodilleder in der Hand. Ich stellte mich neben den Paßkontrolleur, und in dem Augenblick, als sie ihren Paß zeigte, griff ich ein. ›Ihr Paß ist nicht in Ordnung, mein Fräulein,‹ sagte ich, ›wir können Sie nicht passieren lassen.‹ Ich weiß nicht, wer in diesem Augenblick erstaunter war, sie oder der Paßbeamte, der Paß war nämlich ganz in Ordnung. ›Sie sehen wohl,‹ sagte ich streng zum Beamten, ›daß der Stempel der Staatspolizei fehlt.‹ Das war etwas, das ich im selben Augenblick erfand. Petersen aber war nicht dumm, er stellte mit Bedauern die Unzulänglichkeit ihres Passes fest. Sie versuchte es mit Bitten, aber es half ihr nichts. Da griff sie zum Taschentuch, aber auch das nützte nichts. Es tat mir wirklich leid, so unerbittlich zu sein. Jetzt sitzt sie in ihrem Zimmer im Palasthotel und weint. Ich begleitete sie nämlich dorthin und versprach ihr, den Paß bis morgen in Ordnung zu bringen.«

»Ich fürchte, daß ›der Stempel der Staatspolizei‹ nicht so schnell zu beschaffen sein wird. Welchen Grund zur Flucht kann sie gehabt haben?«

»Vielleicht wollte sie der Wahl entfliehen,« meinte Hansten-Jensen.

»Nein, es bedeutet, daß wir uns der Katastrophe mit Riesenschritten nähern. Sie weiß, was geschehen soll, und versucht im letzten Augenblick zu entkommen.«

Von einem neuen Gedanken ergriffen, fragte der Detektiv:

»Sahen Sie ihre Fahrkarte?«

»Ja, sie hatte eine Fahrkarte nach Christiania. Noch dazu ohne Schlafwagen. Sie hatte offenbar größte Eile.«

Asbjörn Krag war sehr nachdenklich geworden.

»Nach Christiania,« murmelte er. »Die Kleine hat Mut. Sie wollte dorthin zurück –«

»Vielleicht wollte sie nach Christiania, um mit dem ›Excelsior‹-Auto zu fahren,« bemerkte Hansten-Jensen scherzend.

Krag nickte zustimmend. Er sah seinen Kollegen sehr ernst an.

»Lieber Freund,« sagte er, »Sie halten es für Scherz und wissen nicht, wie ernst es ist. Eben deshalb wollte sie nach Christiania

Hansten-Jensen trank Krag zu und lachte herzlich.

»Ich sehe ein,« sagte er, »daß Sie heute abend alles ins Lächerliche ziehen, mit Ihnen ist nicht zu reden. Wir wollen uns darum wie alle anderen amüsieren. Sehen Sie, jetzt beginnt der Tanz zwischen den Tischen. Ihr Freund Suron hat den Ball eröffnet.«

»Und morgen steigen die Orientaktien,« sagte Krag. »Mich soll es nicht wundern, wenn sie um ganze hundert Kronen in die Höhe gehen.«