Krags Prophezeiung war richtig. Die Orientaktien stiegen am nächsten Tage riesig. Anfänglich stiegen sie auf vierhundertundsiebzig. Eine Stunde später auf fünfhundert. Kurz vor Schluß der Börse riß man sich darum für fünfhundertfünfunddreißig bis fünfhundertvierzig. Solche Steigerung war sogar in diesen Zeiten ungewöhnlich.
Das Seltsamste war, daß keiner recht wußte, warum diese plötzliche Hausse eingetreten war. Man wußte nur, daß von allen Ecken und Enden gekauft wurde. Das Geheimnisvolle füllte die Luft mit den mannigfachsten Gerüchten und erhöhte die goldenen Möglichkeiten. Es hieß, daß die Orient-Gesellschaft im Begriff sei, ihre großen chinesischen Plantagen zu verkaufen. Andererseits hieß es, daß die Aktiengesellschaft sich zu einem riesigen Trust mit ähnlichen internationalen Unternehmungen zusammentun wollte. Andere wiederum wollten gehört haben, daß die Gesellschaft mit einem großen norwegischen Konsortium unterhandelte. Letzteres Gerücht wurde besonders geheimnisvoll behandelt. Der Direktor der Aktiengesellschaft wurde von Journalisten bestürmt, verweigerte aber jegliche Aussage. Was auch die Ursache sein mochte, der Betreffende, der die Fäden in der Hand hielt, hatte es jedenfalls verstanden, die Sache geheimzuhalten.
Die große Hausse in der D. O. G. wirkte übrigens auf die ganze Börse ein. Alle Papiere stiegen, einige mehr, andere weniger. Die Hausser hatten einen großen Tag. Es war einer dieser schönen Tage, die bisweilen kurz vor Weihnachten mit fast frühlingsmäßiger Wärme eintreffen. Die Stadt hob ihre glänzenden Türme zum blauen Himmel hinauf. Es war, als hätte die gute Laune auf der Börse sich über die ganze Stadt verbreitet. Straßen und Läden wimmelten von Menschen, die Weihnachtseinkäufe machten. Durch den lärmenden Verkehr im Zentrum der Stadt, den Lärm der frohen Stimmen und das eifrige Gedränge der Menschenmassen schien etwas von dem munteren Klang des Goldes zu tönen.
Auch Krag schien von der allgemeinen Sorglosigkeit angesteckt zu sein und hatte offenbar ganz vergessen, daß er hergekommen war, um ein bestimmtes Ziel zu verfolgen und eine bestimmte Arbeit zu verrichten. Die Menschen, die er eigentlich im Auge behalten wollte, schienen ihn gar nicht mehr zu interessieren. Das stellte jedenfalls sein dänischer Kollege, der ihm die verschiedenen Berichte seiner Wachtposten mitteilte, mit Bedauern fest. Er gab seiner Enttäuschung Ausdruck, indem er bemerkte:
»Wie steht's denn mit Ihrer Kriminalsache? Gestern habe ich fast daran geglaubt, als ich Aino Erkos Flucht feststellte. Heute aber interessieren Sie sich für nichts anderes als Ihr Spiel an der Börse.«
»Sie spielen ja auch,« antwortete Krag. »Heute vormittag kauften Sie zu vierhundertfünfundsiebzig. Ich auch. Sie sehen also, daß ich mit meiner Prophezeiung recht hatte.«
»Ohne Zweifel. Und ich fange an, den Zusammenhang zu verstehen. Man flüstert an der Börse von merkwürdigen norwegischen Spekulationen. Wenn ich nun diese Spekulationen mit Jos' und Annebyes Konferenzen in Verbindung bringe, dann haben wir eine Erklärung für das Steigen der Orientaktien. Der juristische Konsulent der Orient-Gesellschaft hat erst heute wieder eine Besprechung mit Jos in seinem Hotel gehabt. Das Manöver geht in tiefster Heimlichkeit vor sich, ich glaube aber doch, daß dieser oder jener eine Ahnung hat. Die Gerüchte nehmen nach und nach festere Form an. Uebrigens eine tolle Hausse heute. Die Börse ist wie wild. Und ich bin überzeugt, daß heute abend jeder einzelne Tisch in den großen Restaurants bestellt ist. Die Restaurateure haben bereits ganze Regimenter von Champagnerflaschen mobil gemacht.«
»Sie sind meinem Rat bisher gefolgt,« sagte Krag, »und sollten ihm fernerhin folgen. Noch können die Aktien der Orient-Gesellschaft mit fünfhundertunddreißig verkauft werden.«
»Fünfhundertundvierzig,« sagte Hansten-Jensen.
»Auch gut. Verkaufen Sie auf alle Fälle. Ich habe meine bereits mit fünfhundertunddreißig verkauft. Das ist doch immerhin ein Gewinn von fünfundfünfzig Kronen per Stück in wenigen Stunden.«
Hansten-Jensen sah seinen Freund unschlüssig an.
»Es wäre doch immerhin möglich, daß die Aktien morgen noch auf sechshundert steigen.«
»Vielleicht gehen die Aktien zu Anfang der Börse noch etwas in die Höhe.« Krag schwieg, als ob er rechnete. »Doch glaube ich, daß sie um die Mittagszeit anfangen werden zu fallen. Und dann fallen sie rapide.«
»Und dann?« fragte der dänische Detektiv.
»Dann,« wiederholte Krag, » dann beginnt meine Arbeit. Die letzten Tage waren Ruhetage; weil ich mich aber ohne Beschäftigung nie wohl fühle, habe ich ein bißchen an der Börse spekuliert. Der reine Zeitvertreib, lieber Freund.«
»Wie ich annehme, hat dieser Zeitvertreib Ihnen etliche tausend Kronen eingebracht.«
»Stimmt. Und wieviel haben Sie verdient?«
»Zwölftausend, wenn ich jetzt verkaufe. Woher wissen Sie mit solcher Bestimmtheit, daß die Aktien fallen?«
»Ich habe ein Telegramm aus Christiania bekommen,« antwortete Krag.
Hansten-Jensen lachte.
»Ihr seid wirklich allwissend dort oben!«
Krag reichte ihm das Telegramm. Hansten-Jensen las es und lachte laut auf.
Das Telegramm lautete:
»Excelsior fährt.«
Keine Unterschrift.
»Soll das das Auto sein?« fragte Hansten-Jensen und lachte sich halbtot.
Krag aber sah ihn ernst an.
»Anstatt sich totzulachen, sollten Sie lieber an Ihr Geld denken. Verkaufen Sie, wenn Sie Ihren Gewinn behalten wollen.«
Der dänische Detektiv überlegte einen Augenblick. Er war abwechselnd munter und ernst. Schließlich sagte er:
»Ich nehme an, daß das Telegramm ein verabredetes Signal ist?«
»Keineswegs, es ist eine tatsächliche Mitteilung. Eine Auskunft. Der Mann, der es abgesandt hat, ahnt nichts von den Spekulationen in den Aktien der Orient-Gesellschaft.«
»Tja, dann verlasse ich mich auf Ihr Wort und verkaufe,« sagte Hansten-Jensen, »ich bin kein Hasardspieler. Hahaha, ›Excelsior‹ fährt! Wie beängstigend!«
Er trat ans Fenster und sah auf die sonnenbeschienene Straße hinunter, die von frohen, sorglosen Menschen wimmelte.
»Ein seltsamer Tag,« sagte er, »ein recht seltsamer Tag.«
»Und der morgige wird noch merkwürdiger,« bemerkte Krag.
Der dänische Detektiv sah seinen Kollegen erstaunt an.
»Sie allein sind so ernst heute,« sagte er.