Baisse

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Es kam genau, wie Krag vorausgesagt hatte.

Zu Anfang der Börse standen die Aktien in fünfhundertundvierzig. Zuerst war die Nachfrage enorm, und der Kurs sprang von fünfhundertfünfundvierzig – fünfhundertfünfundfünfzig – fünfhundertsechzig. Die Artikel der Morgenzeitungen über die Orient-Gesellschaft hatten das Interesse für dieses Papier noch gesteigert. Alle Börsenhabitués waren sich einig, daß etwas Besonderes gärte, und einige hatten sogar eine Ahnung, daß es sich um eine große norwegische Spekulation handelte. Es wurde offen angedeutet, daß die Gesellschaft im Begriff sei, ihre Plantagen zu verkaufen. Eine besonders skrupellose Zeitung hatte sogar gewagt, die Kaufsumme zu nennen – fünfunddreißig Millionen Kronen! Etwas, das die Spannung noch in hohem Maße steigerte, war der Umstand, daß die Direktion der Orient-Gesellschaft unverbrüchliches Schweigen beobachtete. Sie leugnete weder, noch bestätigte die Gerüchte. Die schlauen Spione der Börse aber hatten doch ermittelt, daß sich unter den Käufern der Aktien Personen befanden, die der Direktion erstaunlich nahestanden, und bald sickerte das Gerücht durch, daß die Direktion selbst kaufte.

Sogar der Umstand, daß die Zeitungen verschiedene und widersprechende Mitteilungen brachten, verstärkte die Hausse. Das war ja ein Beweis dafür, daß niemand etwas Bestimmtes wußte und etwas Ungewöhnliches im Gange sei.

Während der ersten Stunden hatte die Börse einen ganz amerikanischen Eindruck gemacht. Der nervöse Eifer und Lärm verpflanzten sich bis zu der spekulationslustigen Menge, die sich draußen drängte, um etwas zu erfahren, und weiter bis zu den Kontoren der inneren Stadt. Während der ersten Stunden wurde von nichts anderem gesprochen, geschrien, telephoniert und telegraphiert als von den D. O. G. Die Börse hatte wieder einmal einen ihrer großen Tage, was bedeutete, daß ein Haufe sonst ganz vernünftiger Menschen während einiger Stunden wie von einer Hypnose oder Tollheit besessen war.

Obgleich niemand etwas Bestimmtes wußte, beteiligten sich alle an der Hausse. Nicht der geringste Zweifel stieg in aller Köpfen auf, die von dem einen Gedanken beherrscht waren: »Kaufen, nur kaufen!« Ein beruhigendes oder warnendes Wort würde in diesem wilden Hexentanz nicht die geringste Beachtung gefunden haben. Die Aktien wurden willig zu sechshundert gekauft, als um zwei Uhr herum eine Pause in der Steigerung eintrat. Plötzlich konnte man über sechshundert nicht hinwegkommen. Als ob ein Schiff zu hart eingeklemmt läge und nicht drehen konnte. Die Aktien fielen kurze Zeit auf fünfhundert, konnten dann aber wieder auf sechshundert getrieben werden, wo sie eine Weile stehenblieben, begannen dann aber wieder zu fallen.

Wie geschehen solche Veränderungen? Die Mitspielenden hätten ebensowenig hierauf, wie auf den Umstand, weshalb sie vor einer halben Stunde fieberhaft geboten hatten, eine Erklärung geben können. Man schien erstaunt, disorientiert. In den aufgeregten Lärm mischte sich ein Ton nervöser Angst. »Börsenmanöver!« Kaum war das Wort ausgesprochen, als es sich lautlos durch die Menge fortpflanzte. Die Bedeutung dieses Wortes setzte sich wie ein bestimmter Verdacht in den Köpfen der Anwesenden fest, und wie Staub von Wind aufgewirbelt wird, so flog dieser Verdacht weit aus dem Börsensaal hinaus.

Plötzlich wußte man etwas Bestimmtes: Börsenmakler Winther hatte verkauft. Massenhaft, wahnsinnig verkauft! Winther war Gerichtsadvokat Annebyes Bankier, und Annebye war der Vertrauensmann der Orient-Gesellschaft!

Die Aktien fielen mit reißender Geschwindigkeit. Fünfhundertundfünfzig, fünfhundert! Ein wildes Stöhnen ging wie ein Ausdruck von Schmerz oder Schreck durch die Börse.

In der letzten Stunde war wirklich etwas Besonderes passiert. Um ein Uhr war Gerichtsadvokat Annebye in sein Auto gestiegen, das vorm Palasthotel hielt, und war direkt zum Kontor der Orient-Gesellschaft gefahren, wo er sich, blaß und verstört, mit der Direktion der Aktiengesellschaft eingeschlossen hatte.

Herr Annebye hatte sich ungefähr um zwölf Uhr mit seiner Aktenmappe unterm Arm im Palasthotel eingefunden. Zwischen zwölf und ein Uhr hatte er unausgesetzt mit seinem Bureau in Verbindung gestanden. Um ein Uhr aber war er vom Hotel fortgefahren.

Die Bedeutung des Geschehenen geht am besten aus den wenigen Worten hervor, mit denen der Generaldirektor der Gesellschaft ihn empfing, als er sich dort einfand.

»Die Frist ist um,« sagte der Generaldirektor, »das Geschäft ist also gestrandet?«

Was war es für ein Geschäft und warum war es gestrandet?

Gerichtsadvokat Annebye war ins Palasthotel gekommen, um Jos zu sprechen. Der norwegische Schiffsreeder aber hatte sich nicht gezeigt.

Seit dem gestrigen Abend war Joh. P. Christensen nicht auf seinem Zimmer gewesen, und niemand wußte, wo er sich befand.

Nachmittags wandte sich das Kontor des Gerichtsadvokaten Annebye an die Detektivabteilung der Polizei. Da der diensttuende Detektivkommissar wußte, daß Hansten-Jensen eine norwegische »Affäre« bearbeitete, gab er diesem den Auftrag, mit Herrn Annebye zu verhandeln.

Als Hansten-Jensen sich dort einfand, ahnte er nicht, was vorlag, und konnte sein Erstaunen kaum unterdrücken, als Joh. P. Christensens Name genannt wurde.

Herr Annebye teilte ihm folgendes mit:

»Wie Sie wohl in der Zeitung gelesen haben, ist in den letzten Tagen lebhafte Nachfrage nach den Aktien der Orient-Gesellschaft gewesen.«

»Das soll ich meinen,« dachte Hansten-Jensen bei sich, »dadurch bin ich um einige tausend Kronen reicher geworden.«

»Der Grund zu dieser Nachfrage«, fuhr Herr Annebye fort, »war ein gewisses Gerücht, das durchgesickert ist, und worüber ich mich nicht weiter auslassen möchte. Nur soviel will ich sagen, daß die Aktiengesellschaft mit einem norwegischen Konsortium wegen Verkaufs einiger ihrer transatlantischen Besitztümer in Verhandlung gestanden hat. Es handelt sich um eine Kaufsumme von ungefähr fünfundzwanzig Millionen. Indessen muß dieses Geschäft jetzt als gestrandet betrachtet werden. Falls Sie also«, fuhr der Gerichtsadvokat nicht ohne Galgenhumor fort, »unter dem Eindruck der allgemeinen Kauflust spekuliert haben, dann rate ich Ihnen dringend, vorsichtig zu sein.«

»Ich spekuliere nie,« antwortete der Detektiv kühl, »und ich nehme an, daß man mich nicht gerufen hat, um mir diesen Wink zu geben, für den ich unter anderen Umständen dankbar gewesen wäre.«

»Natürlich nicht,« antwortete Annebye schnell, »wir haben Sie hergebeten, weil wir – oder richtiger ich – um das Schicksal unseres norwegischen Geschäftsfreundes besorgt sind. Es handelt sich um den bekannten Schiffsreeder Joh. P. Christensen aus Christiania.«

Bei Nennung dieses Namens zuckte Hansten-Jensen zusammen, und Annebye fragte neugierig:

»Sie kennen ihn?«

»Mir ist, als ob ich diesen Namen schon einmal gehört hätte. Vielleicht habe ich ihn in der Fremdenliste gelesen.«

»Höchstwahrscheinlich. Die Presse hat nichts über ihn gebracht. Es lag uns nämlich viel daran, die Verhandlungen geheimzuhalten, und deshalb sind sie auch bisher ausschließlich zwischen Herrn Christensen als Vertreter des norwegischen Konsortiums und mir als Vertreter der Orient-Gesellschaft geführt worden.«

»Wie ist dieser Herr Christensen?« fragte Hansten-Jensen vorsichtig.

»Um Gottes willen,« rief Annebye, »glauben Sie nur nicht, daß wir uns an die Polizei gewandt haben, weil wir uns über Herrn Christensen beklagen wollen. Im Gegenteil, Herr Christensen ist die ganze Zeit äußerst korrekt und fair aufgetreten. An seinem Ansehen in Norwegen ist nicht zu rütteln und er hat uns die feinsten Referenzen und Bankverbindungen vorgelegt. Er hat eine Art, zu verhandeln, die fest, schnell und korrekt ist, er ist im Besitz einer fast amerikanischen Energie und Entschlußfähigkeit.«

»Heißt das, daß er ohne Einwendungen bereit war, auf die Bedingungen der Orient-Gesellschaft einzugehen?«

Der Gerichtsadvokat wurde plötzlich reserviert.

»Nun,« meinte er, »von Herrn Christensens Standpunkt aus gesehen, sind unsere Bedingungen sicher sehr annehmbar gewesen. Auf alle Fälle haben die Unterhandlungen keine Schwierigkeiten gemacht. Heute vormittag um zwölf Uhr sollte das vorläufige Abkommen unterfertigt werden. Wie vereinbart, stellte ich mich mit den Papieren im Hotel ein. Herr Christensen aber erschien nicht. Und das ist der Grund, weshalb wir uns an Sie gewandt haben. Der norwegische Vertreter ist ohne ein Wort der Erklärung ausgeblieben. Das beunruhigt uns. Aus dem Vorhergesagten werden Sie ersehen haben, daß Herrn Christensens Fernbleiben nur durch die zwingendsten Gründe zu erklären ist. Ich fürchte, daß unserem Freund heute nacht ein Unglück zugestoßen sein muß. Und rein zufällig habe ich eine Nachricht bekommen, die diese Auffassung bestätigt.«