Dramatische Ueberraschungen liebte Krag, nicht allein, weil sie ihm eine rein persönliche Befriedigung gewährten, sondern weil der Moment der Ueberraschung von Wert sein konnte. Bei dem Unerwarteten verraten die Menschen sich leichter, als wenn sie Zeit haben, ihre Lage zu überdenken.
Wenn Krag die Absicht gehabt hatte, durch dieses Manöver in den Mienen der Anwesenden zu lesen, so war es ihm glänzend geglückt.
In Hansten-Jensens Augen blitzte es humoristisch. Er kannte die Ueberraschungen seines Kollegen und wußte jetzt, daß Krag die ganze Lösung in der Hand hielt.
Was die junge Dame anbetraf, so schien sie von Krags sensationeller Mitteilung merkwürdig unberührt zu sein. Es war, als ob sie schon alles wüßte und ahnte, was kommen würde. Sie saß unbeweglich mit einem seltsamen versteinerten oder vergrämten Ausdruck da.
Suron dagegen konnte nicht verbergen, daß die unerwartete Mitteilung ihn schwer getroffen hatte. Er sah mit einem komischen Ausdruck fragender Neugierde von einem zum anderen. War das Ganze ein Scherz? Sollte er laut lachen? Er wählte das Vernünftigste, was er tun konnte, und wartete schweigend alles weitere ab. Um seine Gemütsbewegung zu verbergen, zündete er sich eine Zigarre an und hüllte sich in den blauen Rauch ein, während er sich in die Sofaecke zurücklehnte.
Krag blätterte indessen unberührt in seinen Papieren, während draußen die tiefen Töne der Rathausuhr verklangen, ohne daß etwas eintraf.
Er blickte ruhig auf, wie ein Vorsitzender, der eine langweilige Komiteesitzung leiten soll.
»Vielleicht müssen wir einige Minuten warten,« sagte er, »obgleich ich nach dem letzten Telegramm annehmen darf, daß Jos pünktlich sein wird. Das Wetter ist ja ausgezeichnet.«
Bei dieser Bemerkung mußte Hansten-Jensen lächeln.
Krag fuhr fort:
»Um indessen keine Zeit zu verlieren, will ich mit der Einleitung beginnen. Ich brauche wohl nicht erst auseinanderzusetzen, daß Christensens Verschwinden mit der ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ in enger Beziehung steht.«
»Ich dachte, daß die Komödie bereits zu Ende gespielt sei,« fiel Hansten-Jensen ein.
»Das dachte ich auch,« sagte Krag, »ich bin aber eines Bessern belehrt worden. Die Komödie, die hoffentlich heute abend ihren Abschluß finden wird, ist eine merkwürdige Mischung von Scherz und Ernst. Anfangs sollte sie nur Scherz enthalten, das Schicksal aber wollte es anders, und so kam der Ernst hinzu. Glücklicherweise hat es sich so gefügt, daß wir der großen Tragödie entgangen sind, obgleich sie ursprünglich geplant war. Wie wir alle wissen, verschwand Jos vor sechs Tagen in Christiania –«
Hansten-Jensen riß den Mund vor Staunen auf.
»Vor sechs Tagen in Christiania!« rief er. »Er ist doch erst heute nacht um fünf Uhr in Kopenhagen verschwunden!«
Krag antwortete mit gemachter Ueberlegenheit:
»Lieber Freund, unterbrechen Sie mich nicht. Behalten Sie lieber den Herrn dort im Sofa im Auge, damit er unser friedliches Beisammensein nicht stört.«
Suron saß unbeweglich da. Hansten-Jensen sah, daß er sehr blaß geworden war, und von nun an ließ er ihn nicht mehr aus den Augen.
Asbjörn Krag wollte gerade in seinem Bericht fortfahren, als ein lautes Klopfen an der Tür erklang.
»Da ist er,« sagte Krag und machte gleichzeitig seinem Kollegen ein Zeichen zu.
Es war wirklich Jos, der ins Zimmer trat.
Aber nicht Jos, den man erwartet hatte, der verbummelte, mißhandelte Jos, sondern der Schiffsreeder Joh. P. Christensen, wie man ihn kannte, wenn er aus seinem Auto stieg, den pelzgefütterten Automobilmantel zurückgeschlagen, die gewaltigen Handschuhe und die Pelzmütze unterm Arm, mit den buschigen Augenbrauen und dem graugesprenkelten Spitzbart, der von der Winterkälte feucht war.
Er blieb mit einem kurzen Kopfnicken neben der Tür stehen.
»Guten Abend,« sagte er, »komme ich zu spät?«
»Nein,« erwiderte Krag, »wir haben eben erst begonnen. Dort steht ein Stuhl für Sie bereit.«
Jos blickte sich im Zimmer um, ging dann schnell auf Suron zu und sagte:
»Wir haben noch miteinander abzurechnen.«
Suron erhob sich langsam.
»Für wieviel haben Sie hier in Kopenhagen für mich abgeschlossen?«
Er bekam keine Antwort. Statt dessen warf Hansten-Jensen sich auf Suron und packte ihn an den Armen.
Ein Gegenstand fiel klirrend zu Boden. Es war Surons Revolver. Der Detektiv schleuderte ihn mit dem Fuß beiseite und drückte den Finnen ins Sofa hinein. Darauf sah er Krag fragend an.
»Ich glaube kaum, daß wir ihm Handeisen anzulegen brauchen,« meinte Krag gelassen. »Er sitzt da ja gut auf dem Platz, den ich ihm angewiesen habe. Uebrigens bereiteten Sie mir soeben eine Ueberraschung, Suron,« fügte er zu dem totenblassen Finnen gewandt hinzu, »ich habe Sie für kaltblütiger gehalten. Was meinten Sie mit dem Revolver zu erreichen? Glaubten Sie, daß Sie entkommen könnten? Man hätte Sie auf alle Fälle auf der Treppe angehalten.«
Suron strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Mit Ihnen habe ich nichts zu schaffen,« sagte er schließlich. »Ich habe nur mit diesem Herrn dort« – er zeigte auf Jos – »zu verhandeln. Die Erklärungen von seiten der Polizei sind gänzlich überflüssig.«
»Es sind keine Erklärungen, ich stelle nur Tatsachen fest. Und von diesen Feststellungen hängt es ab, ob Sie hier oder auf der Polizei mit Herrn Christensen verhandeln werden. Sie gestatten wohl, daß ich fortfahre. Werfen Sie nur einen Blick auf meinen Kollegen, mit dem ist nicht zu scherzen.«
»Gestatten Sie mir nur eine Frage, Herr Christensen,« sagte Hansten-Jensen. »Sie sehen aus, als ob Sie von einer großen Autofahrt kämen. Aber von der roten Constance bis zum Palasthotel ist der Weg doch nicht weit.«
»Rote Constance?« murmelte Jos verständnislos.
»Sie sind doch zuletzt heute morgen um fünf Uhr bei der roten Constance gesehen worden!«
Jetzt griff Krag ein.
»Zu der Zeit war Herr Christensen viele Meilen von Kopenhagen entfernt,« sagte er.