Von Brakels Wäscherechnung

Inhaltsverzeichnis


Der Detektiv fährt fort:

»Ich rufe ihm wieder zu: ›Zum Teufel noch eins, wo gehst du hin? Ich wohne doch nicht unten, sondern in der vierten Etage.‹ Er antwortete nur: ›Ich komme gleich.‹

Ich wartete vielleicht eine Minute.

Da wird es mir klar, meine Herren, daß er nicht allein ist, er spricht mit jemandem vor der Fahrstuhltür. Ich höre ein flüsterndes Gespräch. Darauf fällt die Fahrstuhltür rasselnd zu und der Fahrstuhl setzt sich von neuem in Bewegung. Ich bin natürlich aufs äußerste erstaunt, als ich an den roten Signallichtern sehe, daß der Fahrstuhl nicht steigt, sondern sich nach unten bewegt und im Erdgeschoß haltmacht. Ich konnte nichts unternehmen, mußte warten. Unten wurde die Fahrstuhltür wieder geöffnet. Gleich darauf höre ich, daß jemand über die Marmorfliesen des Vestibüls geht, und daß die Haustür geöffnet und geschlossen wird. Gleichzeitig höre ich, daß der Fahrstuhl langsam durch alle Wohnungen in die Höhe steigt. Jetzt kommt er, dachte ich, und glaubte, daß er unten wohl etwas vergessen hatte.

Der Fahrstuhl stieg bis zum vierten Stock, wo ich stand, aber die Tür wurde nicht geöffnet. Ich mußte sie selbst öffnen, meine Herren – im Fahrstuhl aber befand sich keine lebende Seele. Er war leer!

Selbst der kaltblütigste Mensch gerät bei solchem unerklärlichen Fall aus der Fassung. Nach kurzer Ueberlegung kam ich zu der Erkenntnis, daß etwas geschehen sein müsse, und daß dieses »Etwas« Oedegaard veranlaßt hatte, noch einmal nach unten zu fahren, als er sich auf dem Wege nach aufwärts befunden hatte. Ohne weiter zu überlegen, stieg ich in den Fahrstuhl und fuhr hinunter, indem ich bei den Stockwerken, an denen ich vorbeifuhr, genau Ausguck hielt; Doch konnte ich nichts Ungewöhnliches sehen. Die Treppenbeleuchtung brannte noch immer.

Als ich auf die Straße trat, sah ich, daß das eine Auto weggefahren war. Ich konnte es noch hinter der nächsten Ecke pusten hören. Oedegaards Auto aber hielt vor der Tür, und der Chauffeur saß auf seinem Platz.

Ich fragte ihn nach seinem Passagier.

»Ich weiß nicht, was es bedeuten soll,« sagte der Chauffeur. »Der Herr ist mit dem anderen Auto fortgefahren.«

»Hat er denn keinen Bescheid hinterlassen?«

»Nicht ein Wort. Er bestieg nur in größter Eile das andere Auto, das mit furchtbarer Geschwindigkeit davonfuhr.«

»Wer fuhr es?«

»Ein Chauffeur, der aus diesem Hause kam. Herr Oedegaard ging allein hinein, aber er kam mit dem Chauffeur wieder heraus.«

Nach diesem Bescheid konnte ich mir sagen, daß Oedegaard den Chauffeur getroffen haben mußte, als er den Fahrstuhl beim zweiten Stockwerk halten ließ. Der fremde Chauffeur hatte ihm dort natürlich aufgelauert und ihm Zeichen zugemacht, daß er halten sollte.

Ich bat Oedegaards Chauffeur, daß er warten sollte, und stieg die Treppe wieder hinauf. Auf den Stufen waren Spuren von nassem Schnee. Der fremde Chauffeur war also die Treppe hinaufgestiegen und hatte die Schneespuren hinterlassen. Sie gingen nur bis zum zweiten Stockwerk. Ich fand dort aber auch noch etwas anderes, meine Herren. Hatten die beiden Herren, die bisher verschwunden sind, nicht jeder einen Brief in einem hellblauen Kuvert erhalten?«

»Ja,« antwortete Doktor Ovesen.

»Oedegaard erwähnte es, als er mir über die Sache telephonierte. Wenn ich ihn recht verstanden habe, meine Herren, dann sind Sie im Besitz eines dieser Kuverts.«

»Ja, hier ist es,« sagte Doktor Ovesen und reichte dem Detektiv das Kuvert, das er auf dem Teppich in der Halle des Grand Hotel gefunden hatte.

Krag glättete es und betrachtete es genau.

»Es stimmt,« murmelte er, »es ist genau ein ebensolches.«

»Sie wollen doch damit nicht sagen,« rief Doktor Ovesen erschrocken.

»Ja, leider,« antwortete Krag, indem er ein Kuvert aus der Tasche zog. »Dieses Kuvert ist auch hellblau.«

»Dies Kuvert«, fuhr er fort, »fand ich auf der Treppe. Wie Sie sehen, lautete die Aufschrift kurz und gut: ›Herrn Schriftsteller Eivind Oedegaard‹. Weiter nichts. Keine Adresse. Man wußte, wo man ihn treffen würde.«

»Der Unglückliche!« rief Doktor Ovesen und schlug die Hände zusammen. »Jetzt wird's wirklich Zeit, sich an die Polizei zu wenden.«

Darauf antwortete Krag nichts. Lange betrachtete er beide Kuverts. Dann sagte er leise und wie abwesend, als ob er mit sich selbst spräche:

»Gewöhnliche braune Kopiertinte. Ich glaube, die Marke heißt Kalypso. Dieses hier« – er zeigte auf das eine Kuvert – »hat die Tinte schon aufgesaugt, so daß sie eine dunklere Farbe bekommen hat. Diese Adresse ist schon vor mehreren Stunden geschrieben. Das stimmt auch, denn es ist der Brief an von Brakel. Der Brief an Oedegaard aber ist erst vor ganz kurzer Zeit geschrieben. Die Tinte hat noch eine hellere Farbe. Ich möchte mit größter Bestimmtheit behaupten, daß diese Schrift höchstens zwei Stunden alt ist. Und damit haben wir eine Spur.«

»Das scheint mir doch ganz nebensächlich,« sagte Doktor Ovesen. »Es wäre besser, wenn wir wüßten, was in den verfluchten Briefen gestanden hat.«

»Sie irren,« wiederholte der Detektiv. »Wenn wir auch nicht wissen, was in den Briefen steht, so haben wir doch eine Spur. Wir haben den Beweis, daß der geheimnisvolle Absender wußte, daß Oedegaard mir einen Besuch machen wollte. Von wem aber kann er es erfahren haben? Von Ihnen, meine Herren?«

»Wir haben es ja selbst nicht gewußt,« brauste Doktor Ovesen auf, »abgesehen davon, daß Ihre Andeutung eine Insinuation enthält, die ...«

Krag machte eine begütigende Handbewegung.

»Keine Uebereilung, meine Herren! Ich muß mit den vorliegenden Umständen rechnen. Im übrigen sprach ich mehr zu mir selbst, ich denke nämlich besser auf diese Weise. Ich gehe also davon aus, daß der Betreffende es in dem Augenblick erfahren hat, als Oedegaard in der Redaktion seiner Zeitung telephonierte. Der geheimnisvolle Absender muß eine Verbindung mit der Zeitung oder mit dem Telephonamt gehabt haben. Sofern nicht ... Sofern nicht ...«

Krag wurde plötzlich sehr nachdenklich und schloß seinen Monolog. Nach einer Weile begann er wieder, indem er sich sozusagen innerlich einen Ruck gab.

»Wahrscheinlich hat der Chauffeur einen falschen Schlüssel zu meiner Haustür oder die Tür ist unverschlossen gewesen. Das kommt bisweilen vor. Als Oedegaard kam, ist der Chauffeur bis ins zweite Stockwerk gestiegen und hat ihn dort erwartet. Vielleicht hat er sich auch von dem Licht schrecken lassen, das ich im Treppenhaus andrehte.«

»Wenn Oedegaard den Fahrstuhl anhielt, muß er den Mann gekannt haben,« bemerkte Doktor Ovesen.

»Nicht nötig,« antwortete Krag. »Vielleicht hat der Kerl ihm von der Treppe aus mit dem hellblauen Kuvert gewinkt – das mag genügt haben, um Oedegaard zum Anhalten zu bewegen. Es klang etwas Gespanntes und Erwartungsvolles durch seine Stimme, als er mir heraufrief, daß er gleich kommen würde. Das Unfaßbare, das Seltsame aber ist, daß er, ebenso wie die beiden anderen Herren, Hals über Kopf forteilte, nachdem er den Inhalt des Briefes gelesen hatte.«

Während er sprach, hatte er unausgesetzt die verstreuten Papierfetzen vom Boden aufgesucht.

Einer dieser Fetzen schien plötzlich sein Interesse zu fangen. Er zeigte ihn Doktor Ovesen.

»Es ist eine Rechnung,« sagte er, »ein Stück von einer ganz gewöhnlichen Wäscherechnung. Sehen Sie nur.«

Doktor Ovesen betrachtete das Stück Papier genau.

»Ja, es ist ein Stück von einer Wäscherechnung,« bestätigte er.

Krag las vor: »Hemden, Kragen, Manschetten, Taschentücher – wirklich höchst interessant.«

»Finden Sie?« fragte Doktor Ovesen ironisch.

»Eine ganz gewöhnliche Wäscherechnung,« wiederholte Krag, und jetzt konnte man seiner Stimme anhören, daß seine Gedanken weit fort waren.