In Scotland Yard waren die Ansichten geteilt. Die einen glaubten, daß der Hexer ganz allein arbeite, die anderen, daß er mindestens ein Dutzend Helfershelfer habe.
Inspektor Bliss gehörte zu den ersteren und führte als Begründung seiner Anschauung vor allem die Ermordung Miska Guilds ins Feld.
»Er arbeitet vollkommen allein«, sagte er. »Selbst sein Helfer war in diesem Fall ein ganz unschuldiger Bursche, der keine Ahnung davon hatte, daß er nur die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich lenken sollte.«
»Ist übrigens etwas Neues von ihm bekannt?« fragte Colonel Walford. Bliss schüttelte den Kopf.
»Er ist in London. Davon war ich schon seit einiger Zeit überzeugt, aber jetzt habe ich die Bestätigung. Wenn man mir vor ein paar Jahren gesagt hätte, daß sich ein Mann durch einfache Verkleidung der Verfolgung der Polizei entziehen kann, hätte ich ihn ausgelacht. Aber die Verkleidung und Masken dieses Mannes sind unübertrefflich. Er ist tatsächlich die Person, deren Rolle er im Moment spielt. Wenn ich daran denke, wie er den Spitzel Freddy mit den vorstehenden Eckzähnen und den entzündeten Augen gespielt hat, bin ich noch heute sprachlos. Wer hätte auch daran gedacht, daß er falsche Zähne über seinen eigenen befestigen, sich die Augenlider rot schminken und den Bart stehenlassen könne? Diese wenigen Maßnahmen genügten, um selbst mich zu täuschen. Und dabei bin ich einer der wenigen Leute, die ihn ohne Verkleidung gesehen haben. Es ist ihm wieder einmal gelungen, mich hinters Licht zu führen.«
»Woraus schließen Sie, daß er in London ist?«
Der Chefinspektor nahm einen Brief aus seiner Tasche.
»Das kam heute morgen.«
Colonel Walford starrte ihn an.
»Was – ein Schreiben vom Hexer?«
Bliss nickte. »Die Mitteilung ist mit derselben Schreibmaschine geschrieben wie die Nachricht an Miska Guild. Die ›e‹ stehen nicht in der Zeile, und die i-Punkte sind abgenützt.«
Colonel Walford setzte seine Brille auf und las.
Der zum Tode verurteilte Michael Benner ist vollkommen unschuldig. Ich glaube, diese Tatsache ist Ihnen auch bekannt, denn als Sie bei seinem Prozeß als Zeuge gegen ihn auftraten, erwähnten Sie alles, was irgendwie zu seinen Gunsten sprechen konnte. Lee Lavinski ist der Mörder des alten Mannes. Er wurde aber nach der Tat von Benner gestört, bevor er die Beute an sich nehmen konnte. Zwei Tage nach dem Mord ging er nach Kanada. Seien Sie menschenfreundlich und helfen Sie mir, Benner zu retten.
Das Schreiben trug wie gewöhnlich keine Unterschrift.
»Was halten Sie denn davon?« fragte der Colonel.
»Der Hexer hat recht«, entgegnete Bliss ruhig. »Benner hat den alten Estholl nicht ermordet – ich habe auch feststellen können, daß Lavinski zur Zeit der Tat in England war.«
Das Verbrechen, über das sie sprachen, hatte das Interesse der breiten Masse nicht geweckt, da die Schuld des Angeklagten über jeden Zweifel erhaben schien und seine Verurteilung von vornherein erwartet wurde. Estholl war ein reicher siebzigjähriger Mann, der in einem kleinen Hotel in Bloomsbury gewohnt hatte. Wie alle Leute, die sich aus kleinen Verhältnissen in die Höhe gearbeitet haben, hatte er die leichtsinnige Angewohnheit, stets große Geldsummen bei sich zu tragen.
An einem Wintermorgen um vier Uhr hatte ein Gast des Hotels, der in seinem Wohnzimmer mit mehreren Freunden Karten spielte, den Raum verlassen und war auf den Korridor hinausgetreten. Dort sah er Benner, den Nachtportier, der gerade aus dem Zimmer des alten Herrn kam. Der Mann war kreidebleich, trug einen blutbefleckten Hammer in der Hand und war so verwirrt, daß er nicht antworten konnte, als der Gast ihn anrief.
Dieser eilte in das Zimmer des alten Estholl und sah den Mann in einer großen Blutlache auf dem Bett liegen.
Nachdem der Portier verhaftet worden war, machte er seine Aussage. Er war auf ein Klingelzeichen hin zu Estholl gegangen. Als er auf sein Klopfen keine Antwort erhielt, öffnete er die Tür und trat ein. Er sah das Mordwerkzeug auf dem Bett liegen und nahm es mechanisch auf, erschrak aber so sehr, daß er nicht wußte, was er tat.
Benner war jung verheiratet und in finanziellen Schwierigkeiten. Er brauchte dringend Geld und hatte an demselben Abend versucht, von der Hotelbesitzerin sieben Pfund zu leihen. Auch mit dem Hauptportier hatte er sich unterhalten.
»Sehen Sie doch einmal den alten Estholl«, hatte er gesagt. »Wenn ich nur halb soviel hätte, wie der in der Tasche herumträgt, brauchte ich mich nicht abzuquälen!«
Bei der Gerichtsverhandlung in Old Bailey beteuerte Benner seine Unschuld, aber sein Prozeß dauerte kaum einen Tag und endete mit seiner Verurteilung.
»Der Hammer war Eigentum des Hotels«, erklärte Bliss, »und Benner hatte Zutritt zu dem Raum, in dem die Werkzeuge aufbewahrt werden. Andererseits konnte man aber auch sehr leicht von außen in diesen Raum eindringen, da er im Erdgeschoß liegt. Und man fand auch tatsächlich am nächsten Morgen das Fenster offenstehen.«
»Hat Benner irgendwelche Hoffnung auf Begnadigung?«
Bliss schüttelte den Kopf.
»Nein, das Gericht hat seinen Revisionsantrag verworfen, und der Innenminister ist nicht der Mann, der Mitleid hat und Leute begnadigt. Unglücklicherweise war der alte Estholl mit ihm befreundet.«
Colonel Walford sah wieder auf den Brief und fuhr sich nervös mit der Hand durch das Haar.
»Was kümmert sich der Hexer denn überhaupt um Benner?«
Der Chefinspektor lächelte kaum merklich über diese seiner Meinung nach naive Frage.
»Es ist doch eine alte Erfahrungstatsache, daß sich der Hexer immer um anderer Leute Angelegenheiten kümmert. Er hat sich des Falles angenommen, denn er schickt nicht umsonst Briefe in der Welt herum. Wir werden sicher wieder recht aufregende Dinge erleben. Übrigens hat mich der Innenminister gerade wegen dieser Angelegenheit zu einer Besprechung vorgeladen.«
»Und glauben Sie, daß Sie Ihren Einfluß auf ihn geltend machen können?«
»Wenn ich ihm beipflichte, ja. Sonst nicht.«
Bliss ging in sein Büro zurück und erfuhr, daß ihn jemand zu sprechen wünsche. Noch bevor sein Assistent ihm den Namen der Dame nannte, ahnte er, um wen es sich handele.
Sie war sehr schön, obwohl sich tiefer Kummer in ihren Zügen ausdrückte. Ihre trüben, traurigen Augen zeugten von schlaflos durchweinten Nächten.
»Was kann ich für Sie tun, Mrs. Benner?« fragte er freundlich.
Ihre Lippen zuckten.
»Ich weiß es nicht ... ich weiß nur, daß Mike unschuldig ist. Er ist nicht fähig, einen so schrecklichen Mord zu begehen! Ich war im Innenministerium, aber man hat mich nicht vorgelassen.«
Bliss sah wieder auf ihre Kleidung, die offensichtlich erst vor kurzem gekauft worden war.
»Es geht mir finanziell nicht schlecht«, sagte sie, als ob sie seine Gedanken erraten hätte. »Ein Herr hat mir vorige Woche zwanzig Fünfpfundnoten geschickt. Damit konnte ich alle Schulden meines Mannes bezahlen und hatte auch noch so viel übrig, daß ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.«
»Wer hat Ihnen das Geld geschickt?« fragte Bliss schnell. Aber hierüber konnte sie ihm keine genaue Auskunft geben, denn es war anonym mit der Post angekommen.
»Haben Sie denn keinen Brief dazu erhalten?«
»Nur einen Zettel. Hier ist er.«
Sie nahm einen kleinen Papierfetzen aus ihrer Handtasche, der von einer Zeitung abgerissen worden war.
»Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, stand in Schreibmaschinenschrift darauf.
Bliss erkannte die Maschine sofort wieder. Die kurze Nachricht stammte vom Hexer, daran war nicht zu zweifeln.
»Sie stehen unter ganz besonderem Schutz«, sagte er etwas ironisch. »Ich fürchte, daß ich nicht viel für Sie tun kann«, fuhr er dann ernst fort. »Ich spreche allerdings heute einen der höchsten Beamten im Innenministerium, aber ...«
Er beendete den Satz nicht, als er sah, daß sie die Augen schloß und noch bleicher wurde.
Er zog einen Stuhl herbei und bat sie, Platz zu nehmen. Der Anblick dieser verzweifelten Frau rührte ihn, obwohl er sonst sehr hart sein konnte.
»Gibt es gar keine Hoffnung mehr?« fragte sie fast unhörbar und schüttelte den Kopf, als ob sie seine Antwort vorausahnte.
»Ich habe nur eine ganz schwache Hoffnung.«
»Aber Sie glauben doch nicht an seine Schuld, Mr. Bliss. Als ich ihn im Gefängnis in Pentonville sah, sagte er zu mir, daß Sie ihn für unschuldig halten. Oh, es ist entsetzlich!«
Bliss hatte eine gewisse Vorstellung von den Arbeitsmethoden des Hexers und überlegte, wie dieser Mann, der vor nichts zurückschreckte, den Fall wohl lösen würde.
»Haben Sie Verwandte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mrs. Benner, ich will alles für Sie tun, was ich kann. Aber ich möchte Sie bitten, auch etwas für mich zu tun. Wenn sich der Mann, der Ihnen das Geld geschickt hat, Ihnen irgendwie nähern sollte oder wenn irgendein Unbekannter Sie besucht, müssen Sie mich sofort telefonisch benachrichtigen.«
Er schrieb die Nummer, unter der sie ihn erreichen konnte, auf ein Blatt Papier und reichte es ihr.
»Wenn jemand zu Ihnen kommt und sagt, er sei von Scotland Yard oder ein Polizeibeamter, so müssen Sie mir das auch sofort berichten. Ich werde alles für Ihren Mann tun, was in meinen Kräften steht.«
*
Es war halb drei Uhr nachmittags, als er im Innenministerium ankam, und er hatte Glück, daß er Mr. Strathpenner antraf. Der Minister war der Schrecken seiner Untergebenen, denn er arbeitete ohne Methode und System. Es gab Tage, an denen er überhaupt nicht im Amt erschien, und sonst kam er meistens eine Stunde vor Büroschluß, so daß die Beamten dann bis spät in die Nacht im Dienst bleiben mußten.
Infolgedessen war er sowohl bei seinen Untergebenen als auch beim großen Publikum sehr unbeliebt. Er bildete sich viel ein, besaß aber wenig Phantasie und hatte schlechte Umgangsformen und einen unangenehmen Charakter. Man konnte sich darüber wundern, daß dieser Mann einen so hohen Posten bekleidete, da er sich in keiner Weise durch Geist oder Rednergabe auszeichnete. Auch verdankte er seine Stellung nicht der Zugehörigkeit zur Regierungspartei. Er war eben sehr lange im Amt und durch Beharrlichkeit zum Ziel gekommen, unterstützt durch eine Reihe für ihn glücklicher Umstände. Er war ein hagerer Mann mit breiten Schultern, und wenn man ihn sah, hatte man immer den Eindruck, daß er irgendeiner unangenehmen Sache auf die Spur gekommen sei. Seine Gesichtszüge machten es den Karikaturisten nicht schwer, ihn lächerlich darzustellen. Der fast kahle Kopf, über den die wenigen Haare sorgfältig gebürstet waren, die buschigen schwarzen Augenbrauen und die dicken Brillengläser gaben ihm ein charakteristisches Aussehen.
Er sprach mit harter Stimme und hatte die Angewohnheit, sich häufig durch heiseres Räuspern zu unterbrechen.
Bliss mußte zwanzig Minuten warten, bis er vorgelassen wurde. Die Verzögerung schien vollständig grundlos zu sein, denn Mr. Strathpenner las Zeitung, als Bliss eintrat.
»Bliss? Ach ja, Sie sind der Polizeibeamte – hm – also, dieser Fall Benner ... ja, ich besinne mich jetzt auf die Sache. Deswegen habe ich Sie herkommen lassen!«
Der Minister schaute ihn von unten herauf an. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
»Was wissen Sie denn darüber? Ich habe den Richter noch nicht gesehen, der den Fall bearbeitet hat. Aber meiner Meinung nach besteht nicht der geringste Zweifel, daß dieser Kerl seine Strafe vollkommen verdient hat. Was hier in der Zeitung steht, ist doch blühender Blödsinn.« Er klopfte mit dem Finger auf das Papier. »Ich glaube nicht an derartige rührende Geständnisse – Sie doch auch nicht?«
»Welches Geständnis meinen Sie?« fragte Bliss erstaunt.
»Was, Sie haben es noch nicht gelesen?« Strathpenner schob ihm die Zeitung über den Tisch zu. »Hier steht der Artikel. Machen Sie nur die Augen auf -- dritte Spalte --«
Der Artikel stand allerdings nicht in der dritten, sondern in der fünften Spalte. Er lautete:
Der Mord im Hotel
Aufsehenerregende Enthüllung eines Verbrechers kurz vor seinem Tode
Lee Lavinski, der vorgestern abend in einer Straße Montreals kaltblütig einen Polizisten niederschoß, wurde von einem Kollegen des Getöteten durch einen Schuß niedergestreckt. Die Polizisten überraschten ihn, als er in die Canadian Bank einbrechen wollte. Er legte ein wichtiges Geständnis vor einem höheren Beamten ab, der zu ihm ins Krankenhaus gerufen wurde.
Lavinski wird von seinen Verwundungen nicht wieder genesen. Im Laufe des Geständnisses sagte er auch aus, daß er den Mord an Mr. Estholl begangen habe. Man hatte dafür Michael Benner verantwortlich gemacht, der zum Tode verurteilt wurde und augenblicklich in einem Londoner Gefängnis sitzt. Lavinski wußte, daß Mr. Estholl größere Geldsummen in seiner Brieftasche mit sich trug, und nahm einen Hammer aus der Werkzeugkammer des Hotels, um die Tür von Estholls Zimmer aufzubrechen, falls sie verschlossen sein sollte.
Estholl wachte auf, als Lavinski das Zimmer betrat, und der Einbrecher schlug ihn mit dem Hammer nieder, ohne zu wissen, daß er ihn getötet hatte. Als er sich nach der Tat genauer umschaute, sah er, daß der Ermordete eine elektrische Klingel in der Hand hatte. Er fürchtete, entdeckt zu werden, und entfloh, ohne irgendwelche Wertsachen mitzunehmen. Diese Aussagen sind vor einem Friedensrichter gemacht worden.
*
Bliss sah auf und begegnete dem Blick des Ministers.
»Das ist doch reinster Unsinn, nicht wahr? Ist Ihnen in Scotland Yard offiziell etwas davon mitgeteilt worden?«
»Nein.«
»Nun, das habe ich mir gleich gedacht. Der alte Trick! Das ist ja schon öfter passiert. Dadurch wird Benner auch nicht gerettet – verlassen Sie sich auf mich – hm!«
»Aber Sie werden den Mann doch nicht henken lassen, bevor Sie die Nachricht aus Kanada genauer untersucht haben?«
»Reden Sie doch keinen Unsinn! Wo kämen wir denn hin, wenn sich der Innenminister durch jeden Zeitungsklimbim irremachen lassen wollte? Haben Sie denn auch den letzten Absatz gelesen?«
Bliss nahm die Zeitung wieder auf und las: »Lavinski starb, bevor er die Aussagen unterschreiben konnte, die er vor Mr. Prideaux gemacht hatte.«
»Ich sage Ihnen«, fuhr Mr. Strathpenner fort, »ich lasse mich durch derartige wilde Gerüchte nicht beeinflussen. Das haben diese Journalisten doch alles nur nach dem Hörensagen in die Zeitung gesetzt. Was sollen wir denn aufgrund der nicht einmal unterschriebenen Aussage eines Mörders machen – etwa diesen Benner freilassen?«
»Sie könnten einen Aufschub bewilligen.«
Mr. Strathpenner lehnte sich in seinen Sessel zurück, und sein Ton wurde eisig.
»Ich habe Sie nicht um Ihren Rat gefragt, Inspektor. Wenn ich meine Brieftasche oder meine goldene Uhr verliere und sie gern wiederhaben möchte, werde ich ihn zweifellos zu schätzen wissen. Ich danke Ihnen.«
Durch eine Handbewegung wurde Bliss entlassen. Er kehrte nach Scotland Yard zurück, aber Colonel Walford war schon fortgegangen. Im Ministerium hatte er nur noch feststellen können, daß das Todesurteil am nächsten Tag unterzeichnet werden sollte.
*
Der Minister war Witwer, unterhielt aber zahlreiches Personal in seinem Haus. Er nahm das Abendessen allein in dem großen Speisezimmer ein, dessen Wände mit Mahagoni getäfelt waren. Vor ihm lag ein Buch, das er selbst während des Essens las.
Gegen Ende der Mahlzeit wurde ihm ein Besucher gemeldet, und er betrachtete die Visitenkarte argwöhnisch.
›Mr. James Hagger, 14 High Street, Crouchstead‹
Crouchstead lag im Westen Englands, und in diesem Bezirk war er für das Unterhaus gewählt worden. Da er nur mit geringer Majorität durchgekommen war, ließ er den Fremden zu sich bitten, wenn ihm der Besuch auch keineswegs behagte.
Wer mochte dieser Mr. Hagger sein? Wahrscheinlich jemand, der in der Kleinstadt Crouchstead eine große Rolle spielte. Sicher hatte er dem Mann vor der Wahl die Hand gedrückt. Der Minister haßte die Kleinstadt und all ihre Bewohner, zwang sich aber zu einem Lächeln, als Mr. Hagger ins Zimmer trat.
Er war gut gekleidet und fiel durch einen großen schwarzen Schnurrbart auf.
»Können Sie sich noch auf mich besinnen?« rief er mit tiefer, feierlich klingender Stimme. »Ich habe Sie auf dem Jahresessen unserer Partei in Crouchstead kennengelernt. Ich bin der Generalsekretär der Jünglingsvereine in unserem Bezirk.«
»Ja, sehen Sie, jetzt erinnere ich mich genau«, erwiderte der Minister, obwohl das nicht im geringsten den Tatsachen entsprach. »Selbstverständlich – Mr. Hagger! Aber nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie nicht ein Glas Portwein mit mir trinken?«
»Nein, danke vielmals. Ich bin Abstinenzler und habe noch nie einen Tropfen Alkohol zu mir genommen. Ich komme wegen dieses Benner ...«
Mr. Strathpenner war unangenehm berührt.
»Der Vorstand unserer Partei in Crouchstead hat den Fall in der letzten Sitzung eingehend besprochen, und wir kamen zu der Ansicht, daß es ein großer Fehler sein würde, den Mann zu henken.«
Mr. Strathpenner schüttelte traurig den Kopf.
»Ach, Mr. Hagger, Sie haben ja keine Ahnung, wie reichlich und vielfach ich diesen Fall schon überlegt habe und wie leid es mir tut, die Todesstrafe vollstrecken lassen zu müssen. Sie können sich denken, daß ein Mann in meiner Stellung ...«
Er wiederholte eine Reihe von Phrasen zur Rechtfertigung seines Standpunktes. Sie waren ihm geläufig, denn er hatte sie auch schon den anderen Parlamentariern gegenüber gebraucht, die ihn in der Angelegenheit aufgesucht hatten.
»Aber wir wollen jetzt nicht weiter über diese unangenehme Sache sprechen. Wollen Sie mit mir Kaffee trinken? – Wie sind Sie denn eigentlich hergekommen?«
»Ich hatte Glück – ich nahm das einzige Auto, das am Bahnhof stand.«
Mr. Hagger entschuldigte sich nun in allen Tonarten.
»Sie werden verstehen, Mr. Strathpenner, daß es meine Pflicht war, mit Ihnen über den Fall Benner zu sprechen. Der Parteivorstand hat extra meine Fahrt hierher bezahlt, und ich freue mich, daß die Wahl auf mich fiel, weil ich Sie gern einmal wiedersehen wollte. Auch habe ich schon viel von Ihrem wundervollen Haus gehört.«
Mit diesen Worten schmeichelte er der Eitelkeit des Ministers. Das Haus, auf dessen Besitz Strathpenner sehr stolz war, hatte tatsächlich historischen Wert, denn es stammte noch aus dem Mittelalter. Er führte seinen Gast durch alle Räume und taute mehr und mehr auf, als Mr. Hagger größtes Interesse für alle Sehenswürdigkeiten zeigte.
»Sie fragen, ob es hier spukt? Natürlich, in all diesen alten Häusern geht es um. Hier gibt es ein Verlies – der frühere Eigentümer benützte es als Kohlenkeller. Denken Sie nur, ein solcher Barbar! Kommen Sie bitte mit mir nach unten. Sie sollen alles sehen.«
Er öffnete eine starke Eichentür und ging voraus. Sie stiegen eine steinerne Wendeltreppe hinunter, und der Minister zeigte seinem Gast nicht nur das Verlies, das er sorgfältig hatte restaurieren lassen, sondern auch noch eine tiefer gelegene Gefängniszelle, die nur zweimal zwei Meter groß war. Durch eine Falltür gelangte man nach unten, und Mr. Strathpenner ging wieder voraus.
»Sehen Sie, hier sind noch die alten Ringe, an denen die Gefangenen an der Mauer angeschmiedet waren. Sie sind beinahe durchgescheuert. Aber der Raum ist ziemlich gut ventiliert.«
»Es ist interessant«, entgegnete Mr. Hagger, als er unten angekommen war, »daß mein Chauffeur mir von dem Verlies und der Gefangenenkammer erzählt hat. Wenn ich irgendwie Gelegenheit hätte, sagte er, sollte ich Sie doch bitten, mir diese Sehenswürdigkeiten zu zeigen.«
»Ja, mein Haus ist direkt berühmt hier in der Gegend.«
Richter sind in England hohe Beamte, und man darf sie nicht warten lassen. Sir Charles Jean sah auf die Uhr und schloß heftig das Aktenstück, in dem er bis dahin gelesen hatte.
»Der Minister sagte, daß er um halb fünf hier sein werde.«
»Es tut mir sehr leid«, erklärte der Beamte. »Ich habe in seiner Wohnung angerufen. Er ist vor einer Stunde abgefahren und muß jeden Augenblick hier sein. Es ist sehr neblig, vielleicht ist er dadurch aufgehalten worden.«
»Wo ist denn sein Sekretär?«
»Mr. Cliney ist nach Crowborough gegangen, um einige Dokumente unterzeichnen zu lassen. Er war gerade zehn Minuten fort, als Mr. Strathpenner anläutete.«
»Ich kann nicht länger warten. Morgen früh komme ich noch einmal wieder. Aber, bitte, sagen Sie Mr. Strathpenner schon, daß meiner Meinung nach starke Zweifel an der Schuld dieses Benner bestehen.«
Er war kaum gegangen, als der Beamte die unliebenswürdige, heisere Stimme seines Vorgesetzten hörte und in dessen Büro eilte.
»So, Sir Charles Jean war hier? – Hm! Und er ist wieder gegangen? Nun, ich kann nicht allen Richtern oder Hexern nachlaufen!«
»Hexern?« fragte der erstaunte Beamte.
Der Minister lachte rauh.
»Der Schuft hat mich gestern abend besucht! Hm – dafür wird sich Mr. Bliss interessieren! Läuten Sie ihn übrigens in Scotland Yard an und sagen Sie ihm, daß ich ihn bei meiner Rückkehr von Paris am Freitag zu sprechen wünsche.«
»Nach Ihrer Rückkehr von Paris?« fragte der Mann betroffen. »Es ist doch eine Kabinettssitzung für Freitag morgen angesetzt!«
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Mr. Strathpenner gelangweilt. Er öffnete seine Mappe, nahm ein Schriftstück heraus und betrachtete es genau. Der Beamte sah es und hielt den Augenblick für gekommen, um den Auftrag des Richters zu erledigen.
»Sir Charles bat mich, Ihnen zu sagen, daß die Schuld Benners durchaus nicht erwiesen sei und daß Zweifel bestehen –« aber der Minister schrieb schon seinen Namen. »Die Vollstreckung des Urteils wird hierdurch um vierzehn Tage verschoben. Die Sache soll noch einmal überprüft werden, wenn am Mittwoch die Berichte aus Kanada eingetroffen sind.«
Er löschte das Blatt ab und schob dem Beamten des Dokument zu.
»Der Aufschub soll in den Zeitungen veröffentlicht werden.«
»Das hätte ich mir tatsächlich denken können, daß der Hexer als Minister des Innern auftreten würde«, sagte Bliss. »Strathpenner ist ja leicht genug zu kopieren. Der Gedanke kam mir schon, als ich neulich mit ihm sprach.« Der Hexer hatte sich zunächst als Chauffeur verkleidet und Mr. Hagger zu der Besitzung des Ministers gefahren. Später schlich er sich ins Haus, sperrte die beiden ein, als sie zu den unteren Gewölben gekommen waren, und erschien dann als Minister im Amt.
»Wie geht es denn Mr. Strathpenner?« fragte Colonel Walford.
»Als sie ihn aus der unteren Gefangenenkammer befreiten, war er direkt tobsüchtig«, erwiderte Bliss mit ironischem Lächeln. »Ebenso Mr. Hagger aus Crouchstead, der trotz seiner Feindschaft gegen den Alkohol kräftig Wein getrunken hatte. Mr. Strathpenner benützt das untere Gefängnis nämlich als Weinkeller, und schließlich mußten sie ja von irgend etwas leben. Womöglich säßen sie jetzt noch dort, wenn der Hexer nicht so nett gewesen wäre, mich telegrafisch zu benachrichtigen.«