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Der Mann mit den vielen Namen

Inhaltsverzeichnis


Mr. Ellroyd kam sechs Monate nach der Ermordung des Rechtsanwalts Mester in England an. Die Polizei und alle Welt suchte damals nach Henry Arthur Milton, dem Hexer.

Die Zeitungen aller europäischen Staaten berichteten über diesen Mann, der dauernd unter neuen Namen auftauchte und seine verschiedenen Rollen mit verblüffender Sicherheit spielte.

Mr. Ellroyd machte ihm darin Konkurrenz, wenigstens wechselte er seinen Namen mindestens ebenso häufig wie der Hexer.

Australien war seine Heimat, und dort hieß er Li Baran; in Chikago nannte er sich Bud Fraser, AI Crewson, Jo Lemarque, Hop Stringer und Jock. Unter diesen Pseudonymen suchte ihn die Polizei wegen verschiedener Morde, denn er war ein bekannter Revolverschütze und Bankräuber.

In New York legte er sich wieder andere Namen zu, und in Kanada wurde er wegen Bigamie gesucht, weil er dort dreimal unter verschiedenen Namen geheiratet hatte.

Als er von Malta aus nach England kam, litt er unter einer Art Hexer-Komplex. Die Eitelkeit der Verbrecher ist bekannt und sprichwörtlich, und auch Joseph Ellroyd war trotz seines vorgerückten Alters und seiner kühlen Lebensauffassung nicht frei davon.

Er beneidete den Hexer um seine Popularität, und als er sein erstes schweres Verbrechen in England beging – es war ein Banküberfall bei hellem Tageslicht –, bezeichnete er sich als Hexer.

Das war aber entschieden ein Fehler, denn es gehörte zu den Methoden des Hexers, die Öffentlichkeit zu meiden, die Aufmerksamkeit so wenig als möglich auf sich zu lenken und immer der große Unbekannte zu bleiben.

Chefinspektor Bliss glaubte, daß der Mann seine Verfolger auf eine falsche Spur bringen wolle, aber darin hatte er unrecht. Joe Ellroyds eigentlicher Beweggrund war reine Eitelkeit.

Und die Sensation, die er hervorrief, bereitete ihm auch die größte Genugtuung. In großen, flammenden Überschriften konnte man lesen: ›Wieder der Hexer!‹ und ähnliches.

Mr. Ellroyds zweiter Coup war etwas weniger aufregend. Er hatte einen Hotelsafe erbrochen und mit Kreide auf die Tür des Geldschrankes geschrieben: ›Wieder der Hexer!‹

Einen Monat später ging Mr. Joe Ellroyd gerade in sein Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Er wohnte im Piccadilly-Hotel, verkehrte in guter Gesellschaft und war stets aufs beste gekleidet. Er trat in den Raum, machte Licht und schloß die Tür.

Als er sich umwandte, schaute er erst in die Mündung eines großen Brownings und dann in das maskierte Gesicht eines Mannes.

»Sie sind doch Mr. Ellroyd?«

Joe blinzelte nach der Pistole und ließ seine Hand dann scheinbar gleichgültig in die Tasche gleiten.

»Wollen Sie wohl die Hand hochnehmen!« sagte der Fremde barsch. »Diese Pistole macht sehr wenig Geräusch, und ich kann Sie auffangen, bevor Sie zu Boden fallen. Ich bin Henry Arthur Milton – die Polizei sucht mich, weil ich einen Mann umgebracht habe, der den Tod reichlich verdient hatte.«

»Mein Gott – der Hexer!« stieß Joe atemlos hervor.

»Jawohl, mein Junge, der Hexer! Sie haben meinen Namen mißbraucht, um Ihre gemeinen Schandtaten und Räubereien damit zu decken, und Sie werden wegen schwerer Vergehen in allen Teilen der Welt gesucht. Ich protestiere ganz entschieden dagegen, daß ein gemeiner Revolverheld und Dieb wie Sie meinen Namen benützt. Es hat mich große Mühe gekostet, Sie aufzuspüren, und ursprünglich hatte ich die Absicht, Sie ins Leichenschauhaus zu bringen. Aber ich will Ihnen noch eine Chance geben.«

»Hören Sie doch zu, Milton –«

»Ich warne Sie jetzt – in Zukunft werde ich das nicht mehr tun. Wenn Sie vernünftig sind, richten Sie sich danach. Kommen Sie hierher – und etwas schnell!«

Joe gehorchte. Der Hexer trat zur Tür, und das Licht ging aus.

»Rühren Sie sich nicht – ich kann Sie deutlich sehen.«

Kurz darauf öffnete sich die Tür und schloß sich wieder. Joe amtete schwer, tastete sich vorsichtig vorwärts, machte Licht und versuchte, die Tür zu öffnen. Aber sie war verschlossen, wie er schon vermutet hatte. Er eilte zum Telefon, entdeckte aber sofort, daß die Zuleitung durchschnitten war.

Verstört sank er auf den Bettrand nieder und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, obwohl er sonst ein waghalsiger, unerschrockener Mann war.

Nach diesem Erlebnis verhielt er sich zwei Jahre lang vollkommen ruhig. Er konnte sich das auch leisten, denn er war ein verhältnismäßig reicher Mann.

Aber eines Tages in Berlin ...

»Fahren Sie mich zum Columbia-Hotel!«

Es war Milton aufgefallen, daß der Chauffeur nicht auf die Zurufe verschiedener Reisender geachtet hatte, die mit dem Hamburger D-Zug in Berlin angekommen waren. Es schien fast so, als ob er direkt auf ihn gewartet habe. Infolgedessen untersuchte er das Türschloß, fand aber alles in bester Ordnung. Der Mann fuhr auch den üblichen Weg.

Der Hexer strich sich den kurzen Schnurrbart. Das glänzende schwarze Haar und die dunklen Augenbrauen gaben ihm ein fast düsteres Aussehen.

Nach einer schnellen Fahrt hielt der Wagen vor dem Hoteleingang. Milton nahm seinen Koffer und stieg aus.

»Warten Sie auf mich. In fünf Minuten bin ich wieder hier.«

Der Portier stand in der offenen Tür, lächelte den Fremden verbindlich an und erbot sich, ihm den Koffer abzunehmen. Milton lehnte das aber ab.

»Ist Mr. Pfeifer im Hotel?«

Der Portier erkundigte sich sofort. Nachdem er beim Empfang angefragt und festgestellt hatte, daß dieser Herr nicht anwesend war, wandte er sich um und wollte den vornehmen Engländer davon verständigen. Aber Arthur Milton war schon mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren.

Im zweiten Stock stieg er aus. Er kannte das Hotel und wußte, daß die teuren Appartements, die für reiche Fremde reserviert waren, rechts vom Fahrstuhl lagen. Nummer neun war das größte und eleganteste Zimmer.

Er versuchte die Tür zu öffnen und trat kühn ein. Hätte er jemand getroffen, so hätte er sich damit entschuldigt, daß er sich im Zimmer geirrt habe. Das große Schlafzimmer war aber nicht besetzt, und es hatte auch in den letzten Tagen offenbar niemand hier gewohnt. Henry Milton, der in solchen Dingen viel Erfahrung hatte, sah das sofort. Der kleine Kalender zeigte Mittwoch, den Siebenten an, und heute war Freitag, der Neunte.

Zwischen dem Bett und der Badezimmertür stand ein Schreibtisch, und Milton sah, daß auf dem rosafarbenen Löschpapier der Schreibunterlage englische Schrift abgedruckt war.

Aber bevor er sie genauer untersuchte, sah er sich im Badezimmer um. Von dort aus führte eine zweite Tür zu einem Wohnsalon. Er konnte also leicht entkommen.

Nun trat er wieder zum Schreibtisch, riß das oberste Löschblatt ab, nahm es mit sich in das Bad und riegelte die Tür ab. Dann las er langsam.

»Donnerwetter«, sagte er atemlos.

Vor allem erregte die Anschrift sein Interesse. Die Bedeutung des Inhalts verstand er erst später, als er deutsche Zeitungen las.

Im Badezimmer öffnete er den Warmwasserhahn, feuchtete ein Handtuch an und rieb die buschigen schwarzen Augenbrauen und den kurzen Schnurrbart ab. Dann kleidete er sich um, zog einen unscheinbaren grauen Straßenanzug an und setzte einen weichen Filzhut auf ...

Ein unauffälliger Herr mit einem Dutzendgesicht fuhr mit dem Lift nach unten. Er trug eine große Brille ohne Fassung und eine lebhafte Krawatte, war glattrasiert und hatte kurzgeschnittenes Haar. In der Hotelhalle sah er ein paar Leute, die zweifellos Detektive waren.

Milton ging zum Empfang und wandte sich dort an einen Hotelangestellten.

»Ich habe für den Herrn von Nummer neun eine Rechnung gebracht«, sagte er verstimmt. »Aber er ist nicht mehr hier.«

»Eine Rechnung!« erwiderte der Mann herablassend. »Die hätten Sie eben früher bringen sollen, solange der Herr noch hier wohnte! Sie wollten zu Mr. Smith aus London, 249 Doughty Street?« fuhr er fort, als er in dem Fremdenbuch nachschlug.

»Nennen Sie keine Adressen!«

Der ältere Herr, der hinzutrat, hatte anscheinend die Aufsicht in der Halle, denn er schlug ostentativ das Fremdenbuch zu.

»Dann müssen Sie eben schreiben.«

Milton entfernte sich in bescheidener Haltung.

Der Chauffeur, der ihn hergebracht hatte, stand noch draußen und wartete.

»Fahren Sie mich –« begann Milton.

»Der Wagen ist bereits besetzt.«

Milton ging an dem Chauffeur vorbei auf die Straße. In der Nähe des Tiergartens kaufte er eine Zeitung, und als er darin las, ging ihm ein Licht auf.

Der Hexer in Berlin! Der berüchtigte Verbrecher auf deutschem Boden ...!

»Donnerwetter!« sagte Henry Arthur Milton und las weiter.

Henry Arthur Milton, ein englischer Verbrecher, soll sich zur Zeit in Berlin verbergen. Nach einem Raubmord in der Nähe von London entfloh er aus England und wandte sich nach Deutschland. Obwohl er von Scotland Yard verfolgt wird, hatte er die Kühnheit, Chefinspektor Bliss einen Brief zu schreiben, in dem er sich über die vergeblichen Bemühungen der Polizei, ihn zu fangen, lustig machte. Dieser Brief war in Berlin aufgegeben worden. Der Hexer, wie er in England allgemein genannt wird, ist ein Meister in der Kunst, in den verschiedensten Rollen aufzutreten. In Berlin wird er bereits wegen eines neuen Verbrechens gesucht ...

Henry Miltons Züge verhärteten sich.

Bis jetzt hat der Hexer nur Leute getötet, aber niemals beraubt. Einen nach dem anderen hat er gemordet, aber seine Opfer hatten entweder ihm selbst ein Unrecht zugefügt, oder sie hatten sich irgendwie an ihren Mitmenschen vergangen. Daß er die Leute beraubt, ist etwas Neues ...

»Das ist allerdings toll«, sagte der Hexer. »Ich glaube, Joe Ellroyd hat vergessen, was er mir versprochen hat!« Mit dem Nachtzug verließ er Berlin wieder. Er hatte einen Paß in der Tasche, der auf Erich Rastermann, geboren in München, lautete. An Bord des Dampfers nach England ging er als Joseph Sampson aus Leeds, und in das Gästebuch des Craven-Street-Hotels in London trug er sich dann wieder unter einem anderen Namen ein.

Den nächsten Tag brachte er damit zu, Zeitungen durchzulesen und alle Einzelheiten über das Verbrechen zu sammeln, das ein anderer unter seinem Namen begangen hatte.

In einer naßkalten Nacht fuhr ein Postauto von London auf der Great West Road nach Colnbrook und Slough.

Der Wagen hatte sich verspätet, konnte aber unmöglich schneller fahren, ehe er Slough passiert hatte. Die Straße ist an der Stelle verhältnismäßig eng und hat viele Kurven.

Als der Chauffeur in die Nähe von Colnbrook kam, sah er etwa eineinhalb Kilometer vor dem Dorf eine rote Lampe, und im Licht der Scheinwerfer entdeckte er einen Mann in einem Regenmantel, der auf die Seite der Straße zeigte. Er hielt an, und der Fremde kam dicht zu ihm heran.

»Was ist los?« fragte der Beamte im Wagen.

»Aussteigen!«

Der Chauffeur sah die Waffe in der Hand des Fremden auf sich gerichtet und wollte wieder anfahren ...

Ein Schuß fiel, und der Beamte sprang mit einer Pistole in der Hand auf die Straße.

Als die Polizei ihn zwei Stunden später auffand, war er noch am Leben. Das Postauto war aufs Feld gefahren worden. Der schwerverletzte Mann berichtete noch in abgerissenen Worten, aber kurz darauf starb er, noch bevor seine Aussagen zu Protokoll genommen werden konnten.

Chefinspektor Bliss erschien sofort am Tatort, aber es boten sich ihm nur wenig Anhaltspunkte.

Es war beobachtet worden, daß ein Motorrad mit Beiwagen fünf Minuten nach drei durch Colnbrook fuhr. Ein Mann in einem braunen Ledermantel hatte es gefahren und dabei mit seiner Begleiterin gesprochen. Es mußte sich um eine Frau handeln, da der Polizist, an dem sie vorbeigefahren waren, deutlich die Worte »Mein liebes Kind« gehört hatte. Dem Polizisten selbst hatte er »Guten Abend« zugerufen.

Zehn Minuten später hätte er durch Slough fahren müssen, aber in dieser Stadt hatte man ihn nicht gesehen. Er mußte also in die Straße nach Windsor eingebogen sein. Auf dem Postauto stand in großen Buchstaben: ›Wieder der Hexer!‹

Bliss las es, und ein verächtliches Lächeln zuckte um seinen Mund. Aber wenn er auch über diese Tollkühnheit lächelte, geriet doch das ganze Land über dieses neue Verbrechen in Aufregung, und die Zeitungen protestierten in schreienden Überschriften gegen die Untätigkeit der Polizei. Trotzdem blieb Mr. Bliss bei seiner Meinung.

Colonel Walford lehnte sich in seinen Sessel zurück und spielte mit einem Bleistift, während er dem Bericht lauschte.

»Wenn es tatsächlich der Hexer sein sollte«, sagte Chefinspektor Bliss, »dann muß er seine Methoden vollkommen geändert haben. Es ist doch in Scotland Yard allgemein bekannt, daß er nur getötet hat, um Schandtaten zu sühnen, die jemand gegen Schwächere begangen hatte und für die er vom Gesetz nicht bestraft worden war. Der Hexer ist in der Beziehung wirklich ein Charakter. Das haben wir doch schon oft genug festgestellt.«

Colonel Walford sah ihn beunruhigt an.

»Das ist ja alles ganz gut und schön, aber man kann doch über die Tatsache nicht ohne weiteres hinweggehen, daß mit Kreide auf dem Postwagen geschrieben stand: ›Wieder der Hexer!‹ Dasselbe stand doch auch auf der Tür des Geldschrankes im Rugeley-Hotel. Und bei dem Banküberfall waren dieselben Worte mit Kreide an die Wand geschrieben. Auf der anderen Seite muß ich allerdings sagen ...«

Der Colonel war sich mit sich selbst nicht einig, aber Mr. Bliss hatte eine ganz bestimmte Meinung über die Sache.

»Was beweisen denn diese Worte ›Wieder der Hexer!‹? Ich halte es wirklich nicht für möglich, daß Milton derartig beschränkt und dumm ist. Er hat allerdings Leute umgebracht aber nur, wenn ein Grund dazu vorhanden war. Er hat sich selbst zum Henker übler Mitmenschen gemacht, die schließlich die Todesstrafe längst verdient hatten.«

Walford schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll – dieser Brief aus Berlin, in dem er eingesteht, daß er selbst der Mörder war ... und er hat Einzelheiten erwähnt, die nur er wissen konnte ...«

Bliss ließ sich nicht leicht überzeugen.

»Es kommt doch häufig vor, daß Leute derartige Sachen machen, um den Verdacht von sich abzulenken. Außerdem haben die Zeitungen so viele Einzelheiten veröffentlicht, daß ein Wichtigtuer alle Nachrichten erhielt, die er brauchte. Für mich konzentriert sich alles auf die Frage: Wie konnte der Mörder wissen, daß ein eingeschriebenes Wertpaket mit hundertsechzigtausend Dollar in dem Postauto lag? Diese Tatsache habe ich erst gestern erfahren.«

»Dollar?«

»Ja. Die Sendung kam von der London Textile Bank und ging an Mr. Elliott in Longhall in der Nähe von Slough. Sie war versichert, so daß nur die Gesellschaft den Schaden davon hat.«

»Trotzdem kommt es mir sonderbar vor, daß es Dollar waren.«

Bliss konnte wenigstens hierfür eine Erklärung geben. Mr. Elliott war ein reicher Mann, der sich selbst emporgearbeitet hatte und sich auch mit Kunsthandel befaßte. Vor kurzem war ein Gemälde von Velasquez entdeckt worden, das sich im Besitz eines französischen Antiquitätenhändlers befand. Da diesem Mann weder die französische noch die englische Währung stabil genug erschien, hatte er Zahlung in Dollar verlangt.

»Der Kaufvertrag ist in aller Form abgeschlossen worden, und das Bild sollte gestern übereignet werden. Ich fahre heute abend noch zu Mr. Elliott.«

»Falls Sie den Hexer sehen sollten –« begann Walford.

»Den Hexer? Das wäre ein Hauptspaß!«

Als Chefinspektor Bliss den Korridor entlangging, überreichte ihm ein Bote ein Telegramm. Bliss las es und nickte.

*

Mr. Elliott hatte selbst versucht, das Verbrechen aufzuklären, aber alle Theorien, die er der Polizei mündlich, brieflich oder telegrafisch mitgeteilt hatte, waren in Scotland Yard als wertlos bezeichnet worden.

Er hatte Bliss einige Minuten gesprochen.

»Der Beamte hat unsere Unterredung recht leichtgenommen«, sagte er zu seinem düster dreinschauenden jungen Sekretär. »Wenn man mit diesen Leuten von Scotland Yard spricht, sollte man fast glauben, das sei ein alltägliches Ereignis. Ich möchte ja eigentlich nichts gegen die Polizei sagen, aber wenn man denkt ...»

Mr. Elliott sagte alles, was er über die Polizei dachte.

Als er später von einem Spaziergang zurückkehrte, erfuhr er von seinem Diener, daß Mr. Bliss eine Stunde lang im Hause geweilt hatte, und nachher sah er den Chefinspektor über den Rasen gehen.

»Haben Sie irgendeinen Anhaltspunkt gefunden? Sie sehen so geheimnisvoll aus.«

»Nein, geheimnisvoll bin ich wirklich nicht«, entgegnete Bliss ruhig. »Ich habe mich eben mit Ihrem Sekretär unterhalten.«

»Der Mann ist noch recht jung«, meinte Elliott.

»Da täuschen Sie sich. Er ist nicht so jung, wie er aussieht. Halten Sie ihn für zuverlässig?«

Mr. Elliott legte die Stirn in Falten.

»Er ist seit sechs Monaten bei mir. Daraus können Sie alles entnehmen.«

»Dann muß er tatsächlich sehr zuverlässig sein«, sagte Bliss etwas ironisch.

Mr. Elliott hielt es für überflüssig, über seinen Sekretär zu sprechen. Er erklärte gerade wieder die Theorie, die er sich über den Fall gebildet hatte.

»Zweifellos ist der Hexer der Täter. Ich habe mich eingehend mit dem Vorleben dieses Mannes beschäftigt und alle Berichte gelesen, die in den Zeitungen über ihn erschienen sind. Meiner Meinung nach ist der Hexer nach der letzten Affäre außer Landes gegangen. Ich habe natürlich auch gelesen, daß er Ihnen einen Brief aus Deutschland geschrieben hat. Diese Leute sind gewöhnlich Spieler und vergeuden die großen Summen, die sie erbeuten, auch schnell wieder, so daß sie meistens kein Geld haben. Ich bin fest davon überzeugt, daß er infolgedessen nach England zurückgekehrt ist und hier in der Nachbarschaft lebt.«

Mr. Bliss ermutigte ihn durch kein Wort, aber Mr. Elliott brauchte auch keine Ermunterung.

»Mein Sekretär sagt«, fuhr er fort, »daß dieser gemeine Mörder wahrscheinlich nicht die offenen Landstraßen, sondern nur abseitige Feldwege benützt hat. Und Carter muß etwas davon verstehen – er ist selbst Motorradfahrer.«

»Darüber bin ich allerdings erstaunt«, entgegnete Bliss höflich.

In den wenigen Minuten, in denen Mr. Elliott vor dem Essen seinen Sekretär allein sah, äußerte er wieder seine Zweifel an der Tüchtigkeit der Polizei. Der junge Leslie Carter erwiderte nichts darauf, und Mr. Elliott betrachtete ihn nachdenklich. Der junge Mann sah etwas nervös aus und fuhr bei jedem Geräusch zusammen. Kurz darauf erschien Bliss zum Dinner.

»Der Hexer interessiert mich außerordentlich«, erklärte Mr. Elliott. Er brachte das Gespräch immer wieder auf dieses Thema. »Ich habe zwar bei dem Überfall auf das Postauto kein Geld verloren, aber die Tatsache, daß der Hexer die Hand im Spiel hatte, macht die Geschichte doch sehr interessant. Ich habe mir eine ganz besondere Theorie darüber gebildet.«

Bliss hörte geduldig zu. Die kleine Gesellschaft fühlte sich in dem schönen Speisesaal von Long Hall äußerst wohl.

Später wurde abgedeckt, die Herren blieben aber noch am Tisch sitzen. In der blankpolierten Platte spiegelten sich die hohen, geschliffenen Kelche der Weingläser. Mr. Elliott neigte sich vor, nahm eine Zigarette und zündete sie an.

Er war groß und breitschultrig und sah recht gut aus. Der junge Mann neben ihm brütete düster vor sich hin.

Leslie Carter hatte seiner Sprache nach sicher eine gute Erziehung genossen. Seine Gesichtszüge waren fein geschnitten, und er hatte lange, wohlgeformte Hände. Bliss saß den beiden gegenüber. Er bemerkte, daß Mr. Elliott von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick auf seinen Sekretär warf. Auch ihm war die Haltung Leslie Carters während des Essens aufgefallen, denn dieser hatte kaum ein paar Worte gesprochen oder von seinem Teller aufgesehen.

Warum mochte er sich wohl so sonderbar benehmen?

»... das dritte Verbrechen dieser Art, das in den letzten drei Monaten begangen wurde«, schloß Mr. Elliott seine längere Darlegung. »Und alle sind in einem Umkreis von vierzig, höchstens fünfzig Kilometer passiert. Das kann nur bedeuten, daß der Hexer sein Hauptquartier zur Zeit in Berkshire aufgeschlagen hat.«

»Der Hexer war nicht der Täter«, sagte Bliss und schüttelte energisch den Kopf. Er wollte weitersprechen, sah aber seinen Gastgeber bedeutungsvoll an und gab ihm einen Wink, indem er heimlich mit dem Kopf auf den Sekretär wies. Mr. Elliott verstand ihn sofort.

»Ach, sagen Sie doch bitte in der Garage Bescheid, daß der Wagen für Mr. Bliss vorfahren soll.«

Leslie Carter fuhr zusammen und erhob sich rasch.

»Jawohl«, erwiderte er und verließ das Zimmer.

Als die beiden allein waren, setzte sich Mr. Bliss neben Elliott.

»Wie steht Ihr Sekretär eigentlich finanziell?«

Elliott zuckte die Schultern.

»Er ist stets in Geldschwierigkeiten – wie alle jungen Leute.«

»Selbstverständlich wußte er, daß Sie eine große Geldsumme erwarteten. Haben Sie ihn gefragt, ob er mit anderen Leuten darüber gesprochen hat?«

»Nein, dazu hatte ich keine Gelegenheit, denn er war in der letzten Zeit nicht bei mir. Er hatte einen kurzen Urlaub und besuchte seinen Bruder in Berlin.«

»Wann reiste er denn nach Deutschland?«

»Einen Tag nach dem Raubüberfall. Ich hätte ihm den Urlaub sowieso bewilligt, aber es traf sich gerade günstig, daß ich zur selben Zeit nach Paris fuhr, um wegen des Gemäldes zu verhandeln. Ich hatte eigentlich die Absicht, das Geld gleich mitzunehmen.«

Mr. Bliss strich seinen schwarzen Bart.

»So, der junge Mann ist nach Berlin gefahren? – Der Mord wurde spät am Montag abend begangen – er konnte also Mittwoch in Berlin sein. Unter diesem Datum war der Brief abgestempelt. Donnerstag konnte er wieder hier sein. Wann kehrte denn Ihr Sekretär wieder zu Ihnen zurück?«

Diese Frage schien Mr. Elliott unangenehm zu berühren. »Gestern – am Freitag. Aber um Himmels willen, Sie wollen doch nicht etwa sagen ...«

»Ich will durchaus nichts behaupten, ich folge nur gewissen Gedankengängen. Ich habe tatsächlich schon mit Ihrem Sekretär darüber gesprochen ... wäre es Ihnen recht, wenn wir ein wenig in den Garten gingen? Hier wird es mir im Augenblick etwas zu drückend.«

Elliott stand bereitwillig auf und ging zur Tür.

»Ich lasse allerdings nicht gern meinen Wein stehen«, meinte Mr. Bliss.

Elliott drehte sich um und sah, daß der Chefinspektor das kostbare Rubinglas hob.

»Also darauf, daß der Hexer bald gefaßt und bestraft wird«, sagte Bliss.

»Darauf muß ich unbedingt mit Ihnen anstoßen. Ich glaube allerdings nicht recht, daß es Ihnen gelingen wird, ihn zu fassen.«

Er füllte sein halbgeleertes Glas noch einmal und trank es aus.

Dann gingen sie hinaus in den Garten. Vor der Tür wartete das Auto. Mr. Elliott sprach ununterbrochen, während sie über den breiten, gepflegten Rasen zu einer Gruppe von drei großen Kiefern schritten. Plötzlich hielt Mr. Elliott inne, denn er war gestrauchelt. Als er sich bückte, sah er einen zusammengeschlungenen Strick im Gras liegen.

»Zum Henker, was –?« begann er, unterbrach sich aber sofort. »Sie wollten mir doch noch etwas über Leslie Carter sagen?«

»Nur so viel, daß sein Bruder in Berlin nicht krank war. Der Anruf, den er auf Ihre Veranlassung erhielt, war ein Scheinmanöver. Und dabei haben Sie einen bösen Fehler gemacht. Haben Sie nicht gesehen, wie verstört er beim Abendessen gewesen ist?«

»Doch«, gab Elliott zögernd zu. Der andere lachte leise.

»Ich sagte ja schon, daß ich mit ihm gesprochen habe. Er war deshalb so bestürzt, weil er in einem kleinen Haus an der Grenze Ihres Landbesitzes ein Motorrad mit Beiwagen gefunden hat, und zwar dasselbe, das der Räuber bei dem Überfall auf den Postwagen benützte. Der junge Mann ist nicht dumm, und der Anruf, der ihn zu der Reise nach Berlin veranlaßte, hat ihn auf die Spur gebracht. Es ist ja nur zu klar, daß Sie dadurch den Verdacht auf ihn lenken wollten. Vielleicht hat er auch noch andere Dinge herausgefunden. Darüber habe ich allerdings nicht mit ihm gesprochen.«

»Hat er Ihnen das alles erzählt?«

»Ja, Joe.«

Joe Ellroyd wandte sich zur Flucht, aber im nächsten Augenblick packte ihn eine eiserne Faust, und er fühlte sich merkwürdig schwach. Das letzte Glas Wein hatte ein starkes Betäubungsmittel enthalten.

»Joe, der letzte Toast war ein Gnadenakt. Sie waren der Täter! Sie fuhren nach Berlin und schrieben den Brief an Mr. Bliss. Ich habe zufällig im Hotel das Löschpapier gefunden, auf dem Sie ihn löschten. Das war natürlich ein glücklicher Umstand, aber ich hätte Sie auf jeden Fall erwischt. Ich habe Sie gewarnt, aber Sie haben nicht hören wollen ...«

*

Das Telefon schrillte laut in der Bibliothek von Long Hall, und Leslie Carter nahm den Hörer ab.

»Mr. Bliss? Aber das ist doch unmöglich! Mr. Bliss ist im Augenblick hier. Er ist gerade mit Mr. Elliott in den Park gegangen.«

Der Chefinspektor begriff sofort und sprach schnell in den Apparat.

»Ich wunderte mich schon über das Telegramm, daß ich heute abend nicht kommen solle. Telefonieren Sie so schnell wie möglich an die nächste Polizeiwache ... haben Sie eine Pistole? Nehmen Sie sie mit, bewaffnen Sie alle Diener und suchen Sie den Park ab.«

Eine Stunde später kam Bliss selbst, aber man fand weder Elliott noch seinen Gast. Erst als der Morgen graute, entdeckte man Joe Ellroyd, der an einer der großen Kiefern aufgehängt war. Als sie den Toten genauer untersuchten, bemerkten sie einen Zettel und eine Zehnpfundnote, die an seinem Ärmel angesteckt waren.

Bitte geben Sie dieses Geld dem Henker. Ich lasse mich vielmals bei ihm entschuldigen, daß ich ihm ins Handwerk gepfuscht habe.

Die Mitteilung war nicht unterzeichnet, aber Bliss kannte die Handschrift des Hexers gut genug.