Während des Krieges, als das menschliche Leben wenig galt, machte ein Fliegeroffizier einen Erkundungsflug nordwestlich von Bagdad. In der Wüste, tief unter sich, sah er einen Mann und ein totes Kamel liegen.
Der Fliegeroffizier war niemand anders als Henry Arthur Milton. Er ging tiefer, um die Sache genauer zu untersuchen, und bemerkte, daß der Mann die Hand schwach hob, als ob er um Hilfe bitten wolle.
Captain Milton stellte den Motor ab, nachdem er in der Nähe einen Landeplatz gefunden hatte, und fünf Minuten später war er bei dem Verwundeten. Soviel man aus seiner Kleidung und dem Zaumzeug des Kamels schließen konnte, mußte der Araber ein Mann von Bedeutung sein. Er hatte eine schwere Schußwunde an der Schulter und war halb verdurstet. Sein Name war Ibn el Masjik, und er war in einem Vorpostengefecht mit britischen Truppen verletzt worden.
Milton gab ihm zu trinken und verband ihn, und Masjik schaute ihn mit fieberglänzenden Augen an.
»Mein Vater ist der Scheich eines kriegerischen Stammes, und ich könnte die Schande nicht überleben, wenn du mich gefangennähmst. Deshalb erbitte ich von dir die eine Gnade, mich zur Stadt meines Vaters zu bringen. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich in diesem Kriege nicht mehr gegen dein Volk kämpfen werde. Dasselbe gilt auch für alle Angehörigen meines Stammes.«
Milton sprach arabisch, als ob es seine Muttersprache sei, und er brachte die unmöglichsten Dinge fertig. Eigentlich durfte er den Wunsch des Beduinen nicht erfüllen, wenn er nicht gegen die strikten Befehle seiner Vorgesetzten verstoßen wollte, aber er zögerte keinen Augenblick, den Mann zu retten. Er trug ihn in sein Flugzeug, flog etwa zweihundertfünfzig Kilometer und landete in der Nähe der von hohen, weißen Mauern umgebenen Stadt Khor.
»Komm zu mir, wenn dieser Krieg zu Ende ist«, sagte Ibn el Masjik beim Abschied. »Und wenn die ganze Welt gegen dich ist, werde ich für dich sein. Wenn du arm bist, werde ich dich reich machen, und die Stadt meines Vaters soll dir gehören.«
Diesmal sprach er englisch, denn in seiner Jugend war er in Bournemouth erzogen worden. Sein Vater war sehr reich und der westlichen Kultur gegenüber aufgeschlossen.
*
Einige Jahre später, als Henry Arthur Milton hart von seinen Gegnern bedrängt wurde, erinnerte er sich an dieses Versprechen und weilte sechs Monate als Gast bei Ibn el Masjik, dessen Vater inzwischen gestorben war. Er lernte das Leben und die Verwaltung dieser arabischen Stadt kennen.
Ihre weißen Mauern erhoben sich am Rand der Wüste, und die Zeit schien hier stillzustehen. Raubzüge wurden unternommen, und die Krieger kehrten unter dem Jubel der Bevölkerung mit reicher Beute und Scharen von Sklaven zurück. Milton sah, daß Männer und Frauen auf dem Markt verkauft wurden. Das Leben hatte sich wenig verändert, seit Mahomets Onkel Herr und Beschützer der Kaaba war und die Schüler des Propheten in Medina beteten.
Eines Abends sprach der Hexer mit seinem Gastfreund darüber, und Ibn el Masjik lächelte. Er warf seine halbaufgerauchte Zigarette in eine silberne Schale, steckte sich eine neue an und lehnte sich bequem in seine Kissen zurück.
Sie saßen in dem großen Speisesaal des Palastes, dessen Wände nur weiß getüncht, aber mit prachtvollen Teppichen behängt waren.
»Mein Freund«, begann Ibn el Masjik, »es ist ein weiter Weg nach Bournemouth. Sklaverei ist nur eine Bezeichnung für menschliche Dienste. Und ich weiß nicht, ob die Menschen hier in Khor als Sklaven unglücklicher leben als die Leute in Nordengland, wo Männer und Frauen schon morgens vor Sonnenaufgang ihre Betten verlassen, wenn die Sirenen heulen, und durch Regen und Sturm zu den Gefängnissen gehen, die sie Fabriken nennen. Meine Sklaven werden jedenfalls besser behandelt. Sie leben in Sonne und Licht, sie erhalten gute Nahrung, und sie schlafen in eigenen Häusern.«
Er sprach vollkommen offen über den Sklavenhandel. Von seinem Gebiet aus konnte er leicht einen kleinen Hafen am Roten Meer erreichen und dort, direkt unter den Augen der Beamten, Handwerker und Künstler kaufen.
»Aber ich kann nicht alles bekommen, was ich möchte«, erklärte er. »Meine Frauen wollen einen ganz besonderen Mann haben, der ihnen die Haare modern frisiert, aber ich kann ihn nicht finden.« Er seufzte schwer. »Ja, die Gewohnheiten des Westens und ihre Moden kommen auch zu uns.«
Er zuckte die Schultern, legte sein weites, faltiges Seidengewand zurecht und lächelte nachdenklich.
»Ich habe ja auch nichts dagegen. Die neuen Moden haben viel für sich und gefallen mir ganz gut. Du hast wohl gesehen, daß wir uns von fast allen Stämmen der Umgebung dadurch unterscheiden, daß unsere Frauen nicht verschleiert gehen und frei wählen können.«
Milton kehrte wieder nach Westeuropa zurück, aber er blieb in ständiger brieflicher Verbindung mit seinem Freund, und er wußte, daß Khor eine endgültige Zufluchtsstätte für ihn war, wenn alles schiefging. In Scotland Yard vermutete man, daß Henry Arthur Milton viele Asyle hatte, aber man kannte sie nicht.
In einer Vorstadt von Cannes zum Beispiel besaß er eine Villa, die sich sehr gut für seine Zwecke eignete. Er konnte von dort aus unbemerkt und schnell verschwinden. Auch in Tanger hatte er eine kleine Wohnung gemietet, von der aus er das Meer überschauen konnte. Und außerdem gehörte ihm ein einfaches Landhaus in der Nähe von Norbury. Dort hielt er sich häufiger auf, als irgendeiner seiner Feinde ahnte.
Hinter dem Haus lag ein bescheidener Garten, in dem er sich viel zu schaffen machte. Ober den Zaun hinweg unterhielt er sich manchmal mit seinem Nachbarn über alle mögliche Dinge, wie Veredlung von Rosen, Gemüsebau und die unangenehme Katzenmusik in der Nachbarschaft.
Oft kam es allerdings nicht zu solchen Gesprächen, denn Kapitän Oring, der das Haus nebenan bewohnte, war nur selten an Land. Der biedere graubärtige Mann sehnte sich nun schon seit vierzig Jahren danach, in Frieden an Land zu leben, aber er hatte es noch nicht soweit gebracht. Er war Kapitän und Miteigentümer eines kleinen Dampfers, der zwischen London und Suez verkehrte.
Seine Söhne besaßen die anderen Anteile; der eine war Erster Offizier auf dem Schiff, der andere Chefingenieur und der dritte, der ein Geschäft in London hatte, besorgte ihnen die Frachten. Seine hübsche junge Tochter, die sehr gern ins Kino ging, führte ihrem Bruder die Wirtschaft.
Als der Hexer einmal einige Zeit nicht in England weilte, verschwand dieses Mädchen. Ihr Vater war zu der Zeit auch gerade auf See.
Kapitän Oring konnte Milton die Sache nicht im Zusammenhang erzählen, denn er war zu sehr erschüttert. Aber der Hexer verstand ihn trotzdem sehr gut.
»Mein Sohn hat sie nach vielen Mühen schließlich gefunden ... sie lebt jetzt bei meiner Schwester auf dem Lande. Natürlich habe ich versucht, diesen Schuft und seine Mutter zu finden, aber was kann ich in London schon machen? Zur Polizei möchte ich nicht gehen ... ich will nicht haben, daß die ganze Geschichte in den Zeitungen breitgetreten wird. Aber wenn mir der Kerl einmal unter die Finger kommt ...«
»Sie können schwer etwas machen«, meinte Milton, »aber vielleicht gelingt es mir – ich komme ja viel herum.«
Er galt in der Gegend als der Geschäftsreisende Ernest Oppenton.
Oring ging mit seinen Söhnen wieder auf Fahrt. Henry Arthur Milton hatte dringend in Berlin zu tun, und es sah fast so aus, als ob er die Geschichte von Lucy Oring vergessen habe.
Aber er vergaß solche Fälle niemals, und bei seiner Rückkehr nach London besuchte er häufig eine gewisse Art von Klubs im Westend, die schnell auftauchen und nach kurzer Zeit wieder von der Bildfläche verschwinden.
Er belauschte manche Gespräche und erfuhr viel von Kellnern. Besonders italienische Kellner sind sehr mitteilsam, wenn man sich in ihrer Muttersprache mit ihnen unterhalten kann. Auch die Damen, die dort verkehren, erzählten ihm interessante Dinge, denn er hielt sie in großzügiger Weise frei.
*
Eines Nachmittags stand eine vertrauenerweckende ältere Frau mit weißem Haar im Victoria-Bahnhof und beobachtete die Einfahrt eines Zuges.
Die Dame betrachtete alle herauskommenden Reisenden genau, und nach einiger Zeit entdeckte sie ein hübsches junges Mädchen in einem dunkelbraunen Kleid, das einen Koffer und einen Blumenstrauß trug.
Sie näherte sich ihr.
»Wenn ich nicht sehr irre, sind Sie Miss Clayford? Ich dachte es mir gleich. Ich bin Mrs. Graddle, und ich hielt es für gut, Sie abzuholen und sicher durch London zu bringen.«
Das Mädchen nickte dankbar.
»Ich überlegte mir gerade, was ich anfangen sollte. Sind Sie von der Stellenvermittlung?«
Die ältere Dame lächelte.
»O nein, aber eine Freundin informiert mich über alles, was dort vorgeht. Es ist meine Lieblingsbeschäftigung, und ich tue alles, um jungen Mädchen zu helfen. Nun begleiten Sie mich aber erst in meine Wohnung und trinken Tee mit mir. Soviel ich weiß, kommen Sie in eine recht einsame Gegend. Ein Gehalt von vierzig Pfund im Jahr für ein Kindermädchen ist eigentlich sehr niedrig. Und dazu so weit draußen auf dem Lande, wo man nichts erlebt und nichts zu sehen bekommt!«
Sie sprach dauernd weiter, während sie mit Miss Clayford ins Freie trat. Elsie Clayford hörte enttäuscht zu. Vierzig Pfund waren wirklich sehr wenig, aber die Leute, zu denen sie gehen wollte, sollten doch sehr freundlich sein und in einer schönen Villa wohnen. Sie trat zum erstenmal eine Stellung an.
»Es wäre ganz nett, wenn Sie noch ein paar Tage bei mir bleiben könnten«, meinte Mrs. Graddle, als sie einer Taxe winkte. »Ich habe ein hübsches kleines Haus in St. John's Wood, und es verkehren immer viele junge Leute bei uns. Ich habe mich schon mit Lady Shene telefonisch in Verbindung gesetzt, und sie ist damit einverstanden. Man kommt nicht zu oft nach London. Vielleicht wollen Sie sich noch ein paar Theaterstücke ansehen, bevor Sie aufs Land gehen ...«
Elsie hatte nicht die geringste Ahnung, wer Mrs. Graddle war, aber sie hielt sie für ein Mitglied einer der wohltätigen Organisationen, die sich junger Mädchen in der Hauptstadt annehmen. Es war doch eigentlich sehr angenehm, daß derartige Gesellschaften existierten.
Als sie der weißhaarigen alten Dame auf dem Bahnhof begegnete, hatte sie auch einen großen, schlanken Herrn mit schwarzen Haaren und einer großen Hornbrille bemerkt. Er sah düster aus und hatte sie sonderbar von der Seite angesehen, so daß sie fast Furcht bekam. Nun stand er plötzlich dicht neben ihr, als der Wagen hielt.
»Steigen Sie ein, mein Liebling«, sagte Mrs. Graddle.
Elsie kam der Aufforderung nach. Die alte Dame wollte ihr gerade folgen, als der Mann mit der Brille sie am Arm packte, leicht zur Seite zog und die Wagentür schloß.
»Fahren Sie nach dem Kings-Cross-Bahnhof«, beauftragte er den Chauffeur, während er Mrs. Graddle immer noch festhielt. Dann sprach er zu dem jungen Mädchen durch das offene Wagenfenster. »Ihr Zug geht um fünf Uhr zweiunddreißig, und Lady Shene erwartet Sie wahrscheinlich auf dem Bahnhof in Welwyn. Haben Sie genügend Geld, um die Fahrt zu bezahlen?«
»Ja«, erwiderte Elsie verstört.
»Gut. Sprechen Sie in Zukunft nicht mehr mit fremden Leuten, besonders nicht mit netten weißhaarigen Damen.« Auf seinen Wink fuhr das Auto ab.
»Was soll denn das heißen?« fragte Mrs. Graddle atemlos. Der Herr mit der großen Brille hatte bereits eine andere Taxe angerufen.
»Steigen Sie ein«, sagte er, und sie gehorchte zitternd.
Er folgte ihr.
»Ich habe dem Chauffeur gesagt, daß er durch den Park fahren soll. Am Ende von Birdcage Walk werde ich Sie absetzen.«
»Ich möchte Sie am liebsten der Polizei anzeigen«, erwiderte sie aufgeregt. »Wer sind Sie denn, daß Sie sich so etwas herausnehmen dürfen?«
Er ging nicht auf ihre Frage ein.
»Sie sind schon zweimal verurteilt worden – einmal in Leeds und einmal in Manchester, und zwar wegen einer ganzen Anzahl von Vergehen. Sie machen sich ein Gewerbe daraus, junge Mädchen auszunützen. Sie suchen Bekanntschaft mit Angestellten bei großen Stellenvermittlungen, und dadurch erhalten Sie allerhand Informationen. Zu ähnlichen Zwecken besuchen Sie die Kinos.«
»Sie können mir nichts beweisen«, entgegnete sie heftig, »selbst wenn Sie mich verhaften – aber einen solchen Unsinn werden Sie ja doch nicht machen.«
Sie öffnete mit zitternden Fingern ihre Handtasche und kramte darin herum. Schließlich fand sie ein Bündel Banknoten.
»Also, seien Sie vernünftig und machen Sie weiter keinen Spektakel«, bat sie.
Der Hexer nahm das Geld und zählte es.
»Fünfundsechzig Pfund sind eigentlich keine große Bestechungssumme.«
Mit einem Seufzer öffnete sie eine innere Tasche und nahm zwei Banknoten über je hundert Pfund heraus.
»Das ist alles, was ich bei mir habe.« Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.
Der Hexer klopfte an das Fenster, und der Wagen hielt. Draußen regnete es heftig, und es waren nur wenig Leute auf der Straße zu sehen.
»Haben Sie Kinder?« fragte er.
»Nein«, erwiderte sie schnell.
»Sie haben ein ganz niederträchtiges Gewerbe. Ist es Ihnen schon jemals zum Bewußtsein gekommen, welchen Schrecken die armen Eltern durchleben, die auf ihre Kinder warten und in vollständiger Unsicherheit über ihr Geschick dahinleben?«
»Darüber will ich nicht mit Ihnen sprechen«, sagte sie wütend. »Sie haben Ihr Geld bekommen. Um andere Dinge brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Ich habe keine Kinder.«
»Ich glaube, Sie haben recht«, erwiderte er geheimnisvoll und öffnete die Tür für sie.
»Der Chauffeur soll mich bis zur Untergrund fahren«, sagte sie, aber er schüttelte den Kopf.
»Sie können hier aussteigen und zu Fuß gehen. Da werden Sie wenigstens einmal ordentlich naß!«
Sie schimpfte, aber der Hexer ließ sich dadurch nicht im mindesten stören. Während sie schnell nach dem Parliament Square ging, bezahlte er den Wagen.
Er zog seinen Regenmantel an, den er bis dahin über dem Arm getragen hatte, steckte die Brille ein und wischte mit seinem Taschentuch den Schnurrbart ab. Er wollte kein Risiko auf sich nehmen, besonders da er wußte, wohin Mrs. Graddle ging.
Sie machte sich viel Mühe, ihn von ihrer Spur abzulenken, fuhr zuerst mit der Untergrundbahn nach South Kensington und nahm von dort aus ein Taxi nach ihrer Wohnung. Schließlich kam sie erschöpft in ihrer Villa in St. John's Wood an.
Es war ein sehr hübsches Haus mit einem großen Empfangssaal, den sie häufig für ihre Gesellschaften brauchte. Sie ging rasch zu ihrem kleinen Wohnzimmer hinauf, wo ihr Sohn einige Sandwiches verzehrte und dabei die Abendzeitung las.
»Hallo, hast du sie mitgebracht?« fragte er erwartungsvoll.
Er war ein etwas phlegmatischer junger Mann von etwa dreißig Jahren mit dickem Gesicht und müden Augen. Atemlos erzählte sie, was geschehen war.
»Das ist allerdings verdammt unangenehm«, meinte er. »Wer war denn dieser Mann? Kennst du ihn? Du hast ihn für einen Detektiv gehalten? Verdammt unangenehm! Und sie kennen auch die Geschichten in Leeds und in Manchester? Man sollte es nicht für möglich halten!«
Er hatte allen Grund, sich zu fürchten, denn er selbst war nur mit knapper Not in Manchester der Polizei entkommen, und es wäre ihm viel schlechter gegangen als seiner Mutter, wenn er gefaßt worden wäre.
»Aber warum fürchtest du dich denn? Ich habe den Kerl doch durch Geld zum Schweigen gebracht.« Sie drückte auf die Klingel, und kurz darauf erschien ein Dienstmädchen. »Wir brauchen das Zimmer für die junge Dame nicht. Sie ist nicht gekommen«, erklärte Mrs. Graddle kurz und ärgerlich.
Als das Mädchen verschwunden war, wandte sie sich wieder an ihren Sohn.
»Um Gottes willen, sitz doch nicht da und mach ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter! Du brauchst doch keine Angst zu haben, Julian.«
Aber er war anderer Meinung.
»Ich habe schon lange Sorge gehabt, daß so etwas kommen würde. Schon, seitdem dieser Oring wieder auftauchte. Ich glaube, wir gehen am besten auf einige Zeit aufs Land – wie denkst du über Margate? Dort können wir zwei oder auch drei Monate wohnen, bis die Sache hier vorüber ist –«
»Ach, sie ist doch bereits vorüber«, unterbrach sie ihn.
*
Julian Graddle ging am nächsten Morgen nur sehr ungern ins Geschäft. Er mußte in Westend zwei Kundinnen besuchen, denn er war von Beruf Damenfriseur. Seiner Mutter kam das sehr zustatten, da Frauen viel von ihren Dienstboten oder von jungen Mädchen sprechen, die in Bedrängnis kommen. Einige ihrer besten Funde kamen auf Julians Rechnung.
Er war nicht gerade in der glänzendsten Stimmung, als er von der ersten Kundin kam, die eine etwas temperamentvolle Dame war, und auch nach dem zweiten Besuch fühlte er sich nicht wohler. Am nächsten Tag mußte er in das Friseurgeschäft gehen, in dem er angestellt war, und dauernd verfolgte ihn der Gedanke, daß ein Polizist auf der Bildfläche erscheinen werde, um ihn zu verhaften.
Nach Geschäftsschluß war er noch zu einer Miss Smith, 34 Grine Mews, bestellt. Er war durchaus nicht verwundert, daß er in eine Nebenstraße gerufen wurde, denn viele vornehme Leute hatten in früheren Garagen elegante Wohnungen eingerichtet.
Die Bewohnerin des Hauses 34 Grine Mews schien die Absicht zu haben auszuziehen, denn er sah ein Plakat: Zu vermieten! Er klopfte an die Tür, und es wurde ihm auch sofort geöffnet?
»Treten Sie näher«, sagte eine Männerstimme freundlich. »Sind Sie der Friseur? Miss Smith wartet schon auf Sie.«
Julian stieg die steile Treppe hinauf. Ein unangenehmer Geruch schlug ihm entgegen, als ob die Wohnung lange nicht bewohnt gewesen sei. Vielleicht war Miss Smith auch gerade erst eingezogen.
Der Mann war vorausgegangen und machte ihm jetzt auf. »Kommen Sie herein. Es ist sehr dunkel, aber ich werde gleich Licht machen.«
Julian trat ein, ohne Verdacht zu schöpfen, und die Tür schlug hinter ihm zu. Das Licht ging an, aber es standen keine Möbel in dem Raum, und der Fußboden und der Kamin waren mit Staub bedeckt. Vor dem kleinen Fenster hing eine rauhe Pferdedecke.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, sagte der Hexer plötzlich. Er hatte das Gesicht mit einer Maske bedeckt. »Wenn Sie schreien, erschieße ich Sie.«
Julian wurde aschfahl im Gesicht, als er die Pistole in der Hand des Mannes sah.
»Was ... wie ...?« begann er mit stockender Stimme.
»Stellen Sie keine Fragen. Gehen Sie durch die Tür!«
Wie im Traum gehorchte der Gefangene. In dem inneren Raum sah er einen beschädigten Tisch und ein dunkles Sofa, die der frühere Besitzer anscheinend zurückgelassen hatte.
Auf dem Tisch stand ein Glas Rotwein, und der Hexer zeigte darauf. »Trinken Sie das«, befahl er kurz.
Julian wandte sich verstört um.
»Ist es vergiftet?« fragte er mit weinerlicher Stimme.
»Nein, aber ich werde Ihnen ganz offen sagen, daß es ein Betäubungsmittel enthält. Sterben sollen Sie nicht, das verspreche ich Ihnen.«
Julian trank das Glas in einem Zuge aus.
»Wer sind Sie?« fragte er dann heiser.
»Die Leute nennen mich den Hexer!«
Das waren die letzten Worte, an die sich Julian Graddle später erinnerte.
*
Am selben Abend hatte der Hexer eine längere Unterhaltung mit Kapitän Oring und seinen beiden Söhnen.
»Das ist der Mann, ich weiß es ganz genau. Wir können Ihrer Tochter die Aufregung ersparen. Sie braucht wirklich nicht hierher zu kommen und ihn zu identifizieren. – Wo liegt Ihr Schiff?«
»Bei Keenneys Werft, Rotherhithe«, sagte Oring nachdenklich. »Wenn es stimmt, daß das der gemeine Kerl ist –«
»Er ist es sicher, aber Sie werden sich nicht an ihm vergreifen. Er darf nicht sterben. Ungefähr am Dreiundzwanzigsten kommen Sie in El Sass an. Man erwartet Sie dort. Bei Nacht übergeben Sie den Mann den Arabern, die in einem Boot zu Ihrem Dampfer gerudert kommen. Hier ist das Geld für seine Passage – zweihundertfünfundsechzig Pfund. Seine Mutter hat es bezahlt.«
»Wenn das tatsächlich der Lump ist, Mr. Oppenton, dann brauchen wir kein Geld für seine Passage. Ich möchte diesen Lumpen am liebsten zu Tode peitschen. Aber wenn Sie dagegen sind, müssen wir uns natürlich nach Ihnen richten.«
Was mit Julian Graddle passieren würde, erklärte ihnen der Hexer auf dem Weg zu der kleinen Garage. Sie trugen ihn in ein altes Auto und fuhren ihn zu Keenneys Werft, wo sie ihn an Bord brachten und in einer kleinen Kabine einschlossen.
Dann schrieb der Hexer einen Brief an Ibn el Masjik und schickte ihn per Luftpost ab.
Von seinem Freunde Arthur an Ibn el Masjik, den Diener Gottes. Friede sei mit Dir.
Ich habe lange nachgedacht über die Sorgen, die Du mir mitgeteilt hast. Die Frauen in Deinem Hause wünschen die Haare nach westlicher Mode kurz geschnitten zu tragen, wie es sonst nur die Männer tun, und Du hast mir gesagt, daß Du niemand in Deiner Stadt finden kannst, der ihnen diesen Dienst erweist.
Nun schicke ich Dir einen sehr tüchtigen Mann, der diese Dinge von Grund auf versteht. Er ist ein Sklave, der nicht durch das Gesetz geschützt wird, und Du sollst ihn sein ganzes Leben lang in Deinem Hause behalten. Immer soll er der Diener der Frauen sein, den sie mit ihren Pantoffeln schlagen können, wenn er nicht nach ihrem Willen handelt.
Am vierzehnten Tag des Monats der Pilgerschaft wird ein kleiner Dampfer im Hafen von El Sass ankommen, und Du sollst ein Boot schicken ...
Er gab noch genaue Anordnungen, was mit Julian Graddle geschehen solle, und er wußte, daß seine Anweisungen buchstäblich befolgt werden würden.
Vierzehn Tage später las er in großen Zeitungen eine Anzeige:
Julian Graddle, der aus London verschwand, wird gebeten, sich mit seiner betrübten Mutter in Verbindung zu setzen.
Der Hexer lachte grimmig, als er das las. Schon oft hatte er ähnliche Anzeigen von Eltern gesehen, die ihre Töchter suchten. Und wo diese Töchter hingeraten waren und warum sie nicht antworteten, wußte die menschenfreundliche Mrs. Graddle am besten.