»Ich möchte nicht etwa Kritik üben«, erklärte Inspektor Mander mit großem Nachdruck, »aber eins muß ich doch sagen: Sie haben sich zuviel mit dem Problem des Hexers beschäftigt und dadurch vielleicht den richtigen Maßstab verloren.«
Chefinspektor Bliss klopfte nachdenklich mit dem Bleistift auf die Tischplatte. Er konnte Mander nicht ausstehen, aber der Mann hatte gute Manieren, sprach ein tadelloses Englisch und verstand, sich in guter Gesellschaft zu bewegen. In Scotland Yard sagte man ihm nach, daß er diesen Eigenschaften sein schnelles Avancement verdanke. Er hatte ein paar weniger wichtige Fälle gelöst und einen Mordfall bearbeitet. Aber der Täter meldete sich bereits bei der Polizei und legte ein Geständnis ab, bevor Mander auf der Bildfläche erschienen war.
Trotzdem verstand er es, sich im geeigneten Augenblick bei seinen Vorgesetzten ins rechte Licht zu setzen. Bliss gehörte allerdings nicht zu ihnen, denn er hatte Mander noch nie für klug oder begabt gehalten und sprach gewöhnlich in wenig schmeichelhaften Ausdrücken über ihn.
Bliss war im Begriff, nach Südfrankreich zu reisen, teils beruflich, teils zur Erholung. Er wußte ganz genau, wie Mander über ihn dachte, und es bereitete ihm ein unheimliches Vergnügen, ausgerechnet diesem Beamten die Bearbeitung der Akten des Hexers zu übertragen. An dieser harten Nuß mochte sich der Mann die Zähne ausbeißen.
»Also, während meiner Abwesenheit übernehmen Sie den Fall. Ich habe bereits Anweisung gegeben, daß Ihnen alle Nachrichten und Meldungen übermittelt werden. Leicht ist er allerdings nicht.«
Bevor Bliss aus London abreiste, las er noch in der Zeitung, daß Inspektor Mander während der Abwesenheit seines Vorgesetzten mit der Verfolgung des Hexers betraut war. Dieser Mensch war doch wirklich zu eitel!
Am folgenden Tag kam ein Brief an Scotland Yard. Er war zu Händen von Mr. Bliss adressiert, und der Assistent des Chefinspektors wußte sofort, von wem er stammte. Er überreichte das Schreiben Inspektor Mander.
»Was, das soll ein Schreiben vom Hexer sein? Das ist doch Unsinn! Na, geben Sie mal her.«
Mit einem verächtlichen Lächeln nahm er das Kuvert und öffnete es. Das Papier war von derselben hellblauen Farbe; wie es der Hexer gewöhnlich benutzte.
Mr. Paul Lumière ist mir äußerst unsympathisch. Er begann seine Laufbahn als gemeiner Dieb, drückt sich von der Arbeit und betrügt die Leute. Einem meiner Freunde hat er einmal sehr übel mitgespielt. Seine Vergehen sind zwar nicht so schwer, daß man ihn henken müßte, aber man müßte ihn berauben. Er verdient es. Ich mache daher den Vorschlag, ihm dreißigtausend Pfund abzunehmen. So hoch ist der Preis, den die Juweliere Randwell & Coles in der Bond Street für eine Halskette erhalten, die mit Brillanten und Smaragden besetzt ist. Wenn die Kette im Besitz des Käufers ist, werde ich sie mir aneignen.
»Wer ist Paul Lumière?« fragte Mander.
Der Sergeant ging zur Registratur, um Nachforschungen anzustellen, kam aber bald darauf zurück und mußte mitteilen, daß der Name Paul Lumière weder im Telefon- noch im Adreßbuch zu finden war.
»Purer Blödsinn«, sagte Mr. Mander. »Chefinspektor Bliss fällt natürlich immer auf derartige Schreiben herein.«
»Wir haben aber die Erfahrung gemacht, daß der Hexer solchen Briefen stets die Tat folgen läßt.«
Mr. Mander lächelte verächtlich.
Am Abend meldete ihm der Sergeant, daß er Paul Lumière doch aufgefunden habe. Er zog ein Abendblatt aus der Tasche und zeigte auf eine Notiz, die er rot angekreuzt hatte.
Mr. Paul Lumiere, der amerikanische Millionär, kam vorige Woche von New York hierher. Er kaufte Gemälde alter Meister für seine Privatgalerie, und gestern gelang es ihm, ein besonders gutes Werk der alten Genter Schule für zehntausend Guinee von der Firma Theimer in der Grafton Street zu erwerben.
Manders Interesse erwachte nun. »Gehen Sie sofort zu den großen Hotels und stellen Sie fest, wo er wohnt.«
Die Aufgabe war nicht schwer. Lumière hatte im Savoy-Hotel eine Reihe von Zimmern gemietet. Mander läutete dort an, erfuhr aber, daß der Millionär bereits zur Ruhe gegangen sei und nicht gestört werden wolle.
Er entschloß sich am nächsten Morgen, persönlich vorzusprechen, aber bevor er den Besuch machte, ging er zu der Juwelierfirma in der Bond Street.
Der Chef der Firma war gerade in Südfrankreich, und Mander konnte nur den Geschäftsführer sprechen.
»Sie fragen nach Mr. Paul Lumière? Oh, der ist uns sehr gut bekannt. Wir stehen zur Zeit mit ihm in Unterhandlung wegen des Alexandrewitsch-Halsbands. Stimmt etwas nicht?« erkundigte er sich argwöhnisch.
»Machen Sie sich keine Sorge«, entgegnete Mander ungeduldig. Er liebte es nicht, gefragt zu werden. »Paul Lumière ist über jeden Zweifel erhaben – er ist wirklich Millionär. Ich bin nur in seinem Interesse hergekommen. Die genaueren Einzelheiten kann ich Ihnen jetzt nicht sagen, aber man will versuchen, ihn zu berauben, und ich möchte Sie bitten, mich zu unterstützen, soweit es in Ihren Kräften steht.«
Der Geschäftsführer war natürlich neugierig, aber Inspektor Mander gab keine weitere Auskunft.
Er fuhr noch nach Scotland Yard, um die Post durchzusehen, bevor er zum Savoy-Hotel ging und fand, daß Mr. Paul Lumière ihm seine Aufgabe sehr erleichterte.
Der Millionär hatte ihm geschrieben und gleichzeitig ein Schreiben der Kriminalpolizei von New York beigelegt:
Sehr geehrter Herr,
ich darf Ihnen Mr. Paul Lumière empfehlen. Er reist nach Europa und erhielt vor einiger Zeit Drohbriefe vom Hexer. Es ist nun möglich, daß es mit der Sache nichts auf sich hat, aber es kam zufällig zu unserer Kenntnis, daß Mr. Lumière aus irgendeinem Grund den Unwillen dieses Mannes erregt hat. Ich möchte Sie daher bitten, Mr. Lumière jede erforderliche Hilfe zu gewähren und ihn vor den Nachstellungen des Hexers zu schützen. Mit dem Ausdruck meiner Hochachtung
F. B. Sullivan
In dem persönlichen Schreiben lud der Millionär Mr. Bliss zu einer Besprechung ins Hotel ein, und Mander machte sich sofort auf den Weg.
Mr. Lumière war ein großer, hübscher Mann mit kurzem grauem Schnurrbart und graumelierten Haaren. Er schien etwas nervös zu sein, denn seine Lippen zuckten von Zeit zu Zeit, aber sonst zeigte er in keiner Weise, daß er sich vor dem Hexer und seinen Drohungen fürchtete.
»Nehmen Sie bitte Platz, Inspektor. Ich freue mich, daß Sie meiner Einladung Folge geleistet haben. Sagen Sie, wer ist denn eigentlich dieser merkwürdige Mensch, den Sie der Hexer nennen? Angst habe ich nicht vor ihm, aber er interessiert mich...«
Er sprach ununterbrochen, und Mr. Mander, der sich auch gern reden hörte, wurde auf eine schwere Probe gestellt. Im Laufe der Unterhaltung merkte er, daß Lumière über den Hexer und seine Arbeitsmethode ziemlich genau unterrichtet war.
»Mir ist bis jetzt nur bekannt«, erklärte Mander, »daß der Hexer gedroht hat, Sie zu berauben. Er hat uns geschrieben, daß Sie ein kostbares Halsband im Wert von dreißigtausend Pfund erwerben wollen...«
Lumière machte ein langes Gesicht.
»Das stimmt allerdings – das Alexandrewitsch-Halsband. Es hat einen Wert von hundertfünfzigtausend Dollar. Aber woher weiß der Kerl denn etwas davon?«
Mr. Mander konnte diese Frage nicht beantworten.
»Ich möchte Sie darum bitten, mich anzurufen, wenn Sie zu der Juwelierfirma Randwell & Coles gehen, damit ich Sie dorthin begleiten kann. Und wenn Sie Geld bei sich tragen –«
»Halten Sie mich für so unvernünftig?« fragte der Amerikaner verächtlich. »Ich zahle natürlich mit einem Scheck, wenn es überhaupt zum Abschluß des Kaufes kommen sollte. Aber ich lasse Ihnen Nachricht zukommen, wenn es soweit ist. – Was halten Sie eigentlich von diesem Gemälde?«
Sie sprachen noch einige Zeit über seine letzten Käufe. Sein Wohnzimmer war angefüllt mit Kunstwerken, die er teils bereits erworben hatte, teils noch kaufen wollte.
Als Mr. Mander in sein Büro zurückkehrte, lächelte er befriedigt. Diesmal hatte sich der Hexer verrechnet. Diesmal hatte er es mit ihm zu tun und nicht mit Chefinspektor Bliss!
In seiner Begeisterung setzte er sich hin, schrieb einen längeren Brief an seinen Vorgesetzten und deutete ihm in großen Zügen an, auf welche Weise er die verbrecherischen Absichten Henry Arthur Miltons zu durchkreuzen beabsichtigte.
Er machte auch noch einen Besuch bei der Firma Randwell & Coles und hatte eine längere Unterredung mit dem Geschäftsführer.
»Wenn Mr. Lumière dieses Prachtstück kaufen sollte, muß es selbstverständlich durch einen zuverlässigen Angestellten der Firma ins Hotel gebracht werden. Auf keinen Fall darf er es persönlich mitnehmen. Ich werde Ihnen vier Beamte von Scotland Yard schicken, die Ihren Mann begleiten können. Es wäre vielleicht besser, wenn Sie persönlich mitkämen und den Scheck in Empfang nähmen. Die Beamten könnten Sie ja dann zu Ihrer Bank begleiten.«
Der Geschäftsführer lachte.
»Mit dem Scheck kann der Hexer doch nichts anfangen. Aber vielleicht interessiert es Sie, die berühmte Halskette einmal zu sehen, die Mr. Lumière kaufen will? Wir haben fünfunddreißigtausend Pfund gefordert, aber er wird noch etwas herunterhandeln wollen. Natürlich suchen wir den höchsten Preis herauszuschlagen, aber er ist ein tüchtiger Geschäftsmann und versteht mehr von Edelsteinen als die meisten Leute, mit denen ich sonst zusammengekommen bin.«
Er schloß einen Safe in seinem Büro auf und nahm das Etui heraus, in dem das berühmte Schmuckstück aufbewahrt wurde. Die Brillanten und Smaragde funkelten bezaubernd.
»Der Wert dieser Kette liegt in den Steinen selbst, nicht in der Fassung. Wir haben sie von einem russischen Aristokraten zum Verkauf erhalten.«
*
Mander meldete sich bei Colonel Walford, der in Abwesenheit des Chefinspektors Bliss sein direkter Vorgesetzter war, und hielt ihm einen Vortrag darüber, welche Sicherheitsmaßnahmen er zum Schutz Lumières zu ergreifen gedachte.
»Es ist nur eine Frage der Organisation«, erklärte er großspurig. »Ich bewundere zwar die Arbeit des Chefinspektors, aber ich habe seine Methoden immer für ein wenig systemlos gehalten. Er läßt dem Verbrecher zuviel Möglichkeiten, zu entkommen. Wenn Sie mir Ihre Genehmigung geben, Colonel, möchte ich alle Machtmittel aufbieten, über die wir in Scotland Yard verfügen. Das ganze Hotel wird von Detektiven umgeben. In den Korridoren sämtlicher Stockwerke will ich Leute postieren, und wenn es dem Hexer dann noch gelingen sollte, in das Hotel zu kommen oder es wieder zu verlassen, muß er wirklich übernatürliche Kräfte besitzen.«
Colonel Walford, der Chefinspektor Bliss besonders schätzte, hörte diesen hochtrabenden Worten gelassen zu.
»In einer Beziehung müssen Sie vorsichtig sein, Inspektor«, sagte er. »Es ist möglich, daß der Hexer einen Helfershelfer hat, wahrscheinlich eine Frau. Der Mann arbeitet für gewöhnlich sehr schnell und hatte bisher immer Erfolg.«
Mr. Mander lächelte. »Ich habe aber schließlich auch meine Erfahrungen.«
Der Colonel war zu höflich, ihm zu widersprechen.
Mander ging in seiner Art sehr gründlich vor. Er durchsuchte alle Räume des Hotels, besonders die Zimmer, die neben Mr. Lumières Appartement lagen. In einem wohnte Miss Stacey, die am gleichen Tag angekommen war wie der Millionär. Sie war Lehrerin für Gymnastik und Körperkultur und amerikanische Bürgerin. Lumière erwähnte, daß er sich öfters mit der Dame unterhalten und erfahren habe, daß sie sich sehr vor Hotelbränden fürchte. Sie habe ihm gesagt, daß sie niemals in ein Hotel gehe, ohne sich genau über die Notausgänge zu informieren. Ihm erschien ihre Besorgnis in diesem Haus vollkommen überflüssig, denn es waren überall Alarmvorrichtungen angebracht.
»Beobachten Sie die Dame«, befahl Mander einem seiner Untergebenen. »Sie ist die verdächtigste Persönlichkeit im ganzen Hotel.«
Aber so sehr man ihr auch nachspürte, man konnte nichts Verdächtiges finden. Sie besuchte Vorträge über Hygiene und Körperkultur, die in einem schwedischen Institut gehalten wurden, und verkehrte nur mit einigen Berufskollegen, mit denen sie manchmal abends zum Essen oder zum Tanzen ausging.
Mander gab sich damit nicht zufrieden. Er ließ eine Detektivin kommen und beauftragte sie, die junge Dame nicht aus den Augen zu lassen.
Als er glaubte, alle Vorbereitungen getroffen zu haben, erhielt er telefonisch die Nachricht, daß der Kauf perfekt geworden sei. Er begab sich sofort persönlich in den Juwelierladen und sprach mit dem Geschäftsführer.
»Mr. Lumière hat die Halskette gekauft, und heute nachmittag um halb fünf soll sie ihm ins Hotel gebracht werden.«
Das war alles, was der Inspektor wissen wollte.
Er setzte nun seine große Maschinerie in Bewegung, um den durchtriebensten Gegner von Scotland Yard zu fassen. Beamte in Zivil wurden ausgeschickt, die alle Bahnhöfe bewachen sollten, und ein ganzes Heer von Aufpassern war im Hotel verteilt. Und als der Geschäftsführer der Firma Randwell & Coles kurz nach vier das Auto bestieg, das in der Bond Street auf ihn wartete, wurde er von vier Detektiven auf der Fahrt begleitet. Vor dem Eingang des Hotels standen zwei Polizisten in Uniform, und auf dem Korridor, an dem Mr. Lumières Zimmer lagen, patrouillierten zwei Beamte, auf die sich Mr. Mander ganz besonders verlassen konnte.
Der Inspektor selbst befand sich bei Lumière, als das kostbare Halsband überreicht wurde, und der Millionär mußte lachen, als er an das außerordentliche Aufgebot von Beamten im Hotel und in seinem Zimmer dachte.
»Schließen Sie die Tür«, sagte Mr. Mander mit gebieterischer Stimme, und sein Befehl wurde sofort ausgeführt. Der Juwelier nahm das Etui aus einer inneren Tasche, legte es auf den Tisch und öffnete den Deckel. Im Schein des Kronleuchters glitzerten die Steine in tausend Farben.
»Sie haben ein gutes Geschäft gemacht, Mr. Lumière.«
Der Millionär zuckte nur leicht die Schultern.
»Ich bin noch nicht sicher, daß es wirklich ein so gutes Geschäft ist«, sagte er gut gelaunt. »Aber auf jeden Fall ist es ja nun zum Abschluß gekommen, und Sie haben Ihren Scheck erhalten.«
Der Geschäftsführer betrachtete das Formular eingehend und steckte es dann in seine Brieftasche.
»Was machen Sie denn nun mit dem Schmuckstück?« fragte Inspektor Mander. »Wahrscheinlich lassen Sie es im Hotelsafe aufbewahren?«
Mr. Lumière schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich weiß einen viel besseren Aufbewahrungsort als den Hotelsafe. Niemand kennt ihn außer mir selbst. Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß selbst Sie und Ihre Detektive dieses Versteck nicht finden können.«
Mr. Mander runzelte die Stirn.
»Das möchte ich doch bezweifeln.«
»Mein Freund«, sagte Lumière liebenswürdig, »ich traue niemand. Wenn Sie oder einer Ihrer Beamten – vielleicht ist sogar der Hexer darunter, ohne daß wir es wissen – das Versteck der Kette nicht kennen, dann trifft nur mich der Vorwurf, wenn sie verlorengeht.«
Er nahm das Etui, ging schnell in sein Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich.
Der Juwelier sah den Inspektor an und lachte halblaut.
»Eigentlich hat er recht«, erklärte er. »Die Leute, die gewohnt sind, stets Juwelen zu tragen, werden selten bestohlen.«
Inspektor Mander wußte nicht, was er machen sollte. Er konnte nicht verlangen, daß ihm Mr. Lumière Auskunft gab, wo er die Juwelen verstecken wollte, und die unbestimmte Andeutung, daß sich der Hexer unter seinen Detektiven befinden könne, machte ihn unsicher. Ja, diese Worte beeindruckten ihn so sehr, daß er seine Beamten der Reihe nach musterte.
»Ich glaube, die Sache ist in Ordnung«, begann er gerade, als er draußen im Gang einen Schrei und rasche Schritte hörte.
Sofort eilte er hinaus und sah noch, wie eine Frau den Korridor zur Treppe entlangeilte. Die beiden Detektive waren schon hinter ihr her.
Mander raste in das Zimmer Lumières zurück und versuchte, die Tür des Schlafzimmers zu öffnen, fand sie aber verschlossen.
»Sind Sie da, Mr. Lumière?«
Er klopfte, erhielt jedoch keine Antwort. Nun rief er laut und warf sich dann mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die Tür. Aber sie war fest und gab nicht nach.
»Kommen Sie schnell her – zwei Mann«, brüllte er wild.
Zwei der stärksten Beamten donnerten gegen die Tür. Das Holz krachte und splitterte, und sie flog auf.
Aber das große Schlafzimmer war leer. Eine Tür führte von hier aus zum Bad, eine andere auf den Korridor, und diese war nicht verschlossen. Von Mr. Lumière und der kostbaren Halskette fanden sie keine Spur.
Die Fenster waren auch geschlossen. Auf diesem Weg hatte sich niemand aus dem Raum entfernt. Die Zimmerflucht, die Mr. Lumière bewohnte, lag im vierten Stock, und die Fenster befanden sich in großer Höhe über dem Hof. An ein Herauf- oder Hinunterklettern war nicht zu denken.
Mander wurde bleich. Als er wieder in den Korridor hinaustrat, brachten die beiden Detektive gerade die junge Dame von nebenan zurück. Er erkannte sofort Miss Stacey, die sich wild wehrte. Sie war wütend, und es dauerte einige Zeit, bis man sie vernehmen konnte.
»Also, nun gestehen Sie doch ruhig alles ein – Sie sind eine Helfershelferin des Hexers«, sagte Inspektor Mander, als er sie in dem Wohnzimmer Mr. Lumières verhörte. »Er hat Ihnen die Halskette gegeben, und Sie versuchten, damit zu entfliehen. Wo ist Mr. Lumière?«
»Sind Sie verrückt?« fragte sie außer sich. »Wer ist denn überhaupt der Hexer? Feueralarm ertönte, und daraufhin bin ich zur Treppe geeilt. Gerade als ich unten in die Halle kam, haben mich diese beiden Kerle gepackt.«
Mander betrachtete sie ungläubig.
»Feueralarm? Das Hotel brennt doch nicht!«
»Und ich sage Ihnen, es war Feueralarm. Das rote Licht erschien an der Alarmvorrichtung«, erwiderte sie hartnäckig.
Er ging mit ihr und stellte fest, daß sie tatsächlich die Wahrheit gesprochen hatte. Die Alarmglocke klingelte noch, und das rote Licht leuchtete.
Der Inspektor kehrte vollständig fassungslos in Lumières Zimmer zurück. Auch das Hotelpersonal war jetzt alarmiert, aber niemand hatte etwas von Mr. Lumière gesehen.
»Wohin führt die Tür?« fragte Mander plötzlich und zeigte auf eine Korridortür, die dem Schlafzimmer des Millionärs gegenüberlag.
»Das ist der Gepäckaufzug«, erklärte der Hausdiener.
Mander eilte die Treppe zur Hotelhalle hinunter. Die Polizisten bewachten noch alle Ausgänge, aber sie hatten den Vermißten nicht bemerkt.
Der Inspektor war gerade im Begriff, in das Büro des Hoteldirektors zu gehen, als er eine unangenehme Stimme hinter sielt hörte.
»Sie haben ihn also doch nicht gefaßt?«
Er wandte sich um und sah Chefinspektor Bliss, der ihn ironisch anlächelte.
»Ich bin heute nachmittag zurückgekommen, sobald ich Ihren Brief erhielt. Ich vermutete gleich, daß Sie in Schwierigkeiten kommen würden.«
Manders Wut war grenzenlos.
»Ich bin nicht in Schwierigkeiten gekommen«, brüllte er. »Sämtliche nur möglichen Vorsichtsmaßregeln habe ich ergriffen – alle Ausgänge des Hotels werden von Beamten bewacht –«
»Gehen Sie ruhig nach Scotland Yard zurück, und überlassen Sie das Weitere mir«, entgegnete Chefinspektor Bliss kühl.
*
Spät am Abend wurde Mander in das Büro seines Vorgesetzten gerufen. Bliss saß in seinem Stuhl und rauchte eine Zigarre.
»Nehmen Sie Platz«, sagte er mit eisiger Höflichkeit. »Zunächst möchte ich Ihnen erklären, warum ich von Nizza zurückkehrte. Als ich Ihren Brief erhielt, war mir sofort klar, daß sich der Hexer Ihre geringe Erfahrung zunutze machen würde. Er wußte, daß ich London verlassen hatte, da Sie das ja dummerweise in der Zeitung veröffentlichten. Deshalb konnte er getrost damit rechnen, daß Inspektor Mander seinen Brief an mich lesen würde. Das war die gerissenste Sache, die er sich jemals geleistet hat. Es mag ein kleiner Trost für Sie sein, daß ich in diesem Fall wahrscheinlich ebensowenig Erfolg gehabt hätte wie Sie. Wissen Sie denn eigentlich, wer hinter der Firma Randwell & Coles steht?«
»Ich weiß nur, daß es Juweliere sind, mehr nicht«, erwiderte Mander verstört.
»Randwell & Coles ist nur der Firmenname. Der Eigentümer ist sehr reich und hieß früher selbst Lumière. Vor einigen Jahren änderte er seinen Namen in Chapman. Und als der Hexer Ihnen schrieb, daß er einen Mr. Lumière berauben wolle, meinte er damit Mr. Chapman, der früher diesen Namen führte.«
»Wer war denn der andere Lumière?«
Mr. Bliss lächelte nur mitleidig.
»Doch nicht etwa der Hexer selbst?« fragte Mander entsetzt. Bliss nickte.
»Natürlich. Der Millionär aus New York, der im Savoy-Hotel wohnte, war unser alter Freund, nach dem wir schon so lange suchten. Unter den gegebenen Umständen war es sehr leicht für ihn, sich in den Besitz der Halskette zu setzen. Den Scheck über dreißigtausend Pfund, den er dem Geschäftsführer gab, hatte er gefälscht. Nachdem er in Scotland Yard einen Dummen gefunden hatte, der gewissermaßen für seine Persönlichkeit bürgte, war dieser Betrug nicht schwer durchzuführen. Sie haben seinen Anforderungen tatsächlich in bester Weise entsprochen, Inspektor. Durch Ihre weitgehenden Maßnahmen haben Sie dem Geschäftsführer jeden Zweifel an der Person dieses angeblichen Mr. Lumière genommen. Hätten Sie sich telegrafisch mit Mr. Sullivan in New York in Verbindung gesetzt oder auch nur mit der dortigen Polizei, so hätten Sie erfahren, daß Mr. Sullivan vor einem Jahr gestorben ist. Und wenn Sie sich die Mühe gegeben hätten, sich einmal die Briefe von der Polizeidirektion in New York anzusehen, die sich in unseren Akten befinden, so hätten Sie bemerkt, daß der Briefkopf ein ganz anderer ist.
Den Feueralarm hat der Hexer fabelhaft ausgenutzt. Er hatte sich öfter mit Miss Stacey unterhalten und wußte, daß sie große Angst vor Hotelbränden hatte. Das kam ihm vortrefflich zustatten. Im richtigen Augenblick hat er Kurzschluß herbeigeführt und die Alarmglocke in Tätigkeit gesetzt. Selbstverständlich erschrak die junge Dame furchtbar und floh Hals über Kopf die Treppe hinunter. Dadurch lenkte sie natürlich die Aufmerksamkeit der beiden Detektive im Korridor auf sich, die sofort hinter ihr herstürzten.
Und auf diese günstige Gelegenheit wartete der Hexer. Er ging schnell zum Gepäckaufzug und fuhr damit zum Erdgeschoß hinunter. Sein Äußeres hatte er in wenigen Sekunden verändert und das Hotel verlassen, bevor Sie überhaupt wußten, was los war!«
Mr. Mander sagte nichts mehr.
»Es ist doch nicht so leicht, den Hexer zu fangen – meinen Sie nicht auch?« fragte Bliss ironisch.