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Der Erpresser

Inhaltsverzeichnis


Mr. Exsome hatte in der Chancery Lane eine Stellenvermittlung für Hauspersonal. Er machte eine Spezialität daraus, Leuten neue Stellungen zu verschaffen, die aus irgendeinem Grund kein Zeugnis ihrer früheren Herrschaft beibringen konnten.

Diese Tatsache gab er nicht besonders bekannt, aber in den betreffenden Kreisen wußte man sehr gut, daß er die notwendigen schriftlichen Unterlagen für eine neue Stellung beschaffte, wenn man dafür zahlte.

Wir wissen, daß dieser Mann in den Diensten Mr. Hackitts stand, der augenblicklich in Indien weilt. Mr. Hackitt mußte sehr eilig abreisen, aber in einem Brief an uns sprach er nur in den anerkennendsten Worten über seinen früheren Hausmeister...

Solche und ähnliche Briefe schrieb Mr. Exsome für seine Kunden. Er war sehr liebenswürdig und unterhielt sich freundlich mit ihnen. Gelegentlich ging er auch mit ihnen ins Wirtshaus und erfuhr dann gewöhnlich wichtige Dinge. Nebenbei war er nämlich auch noch Privatdetektiv und benützte die Mitteilungen seiner Kunden auf geeignete Weise.

War es möglich, daß Mrs. Z. in Abwesenheit ihres Gatten Mr. Y. eingeladen hatte? Wußte sie auch, daß ein Erpresser aus dieser Kenntnis Kapital zu schlagen suchte? Er gab den bestürzten Herrschaften dann den Rat, ihm die Angelegenheit zu überlassen. Er würde schon alles in Ordnung bringen, und über die Kosten könnte man ja später verhandeln.

Gewöhnlich willigte dann auch die fragliche Mrs. Z. in ihrem Schrecken ein, und von Zeit zu Zeit zahlte sie an ihren ›Beschützer‹ hohe Summen. Auf diese Weise verdiente Mr. Exsome ein Vermögen.

Seine Bekannten nannten ihn nur den ›Aal‹, weil er es vorzüglich verstand, allen Gefahren gewandt zu entkommen.

Er hatte eine schöne Villa in Ekham und eine Wohnung in Maida Vale. Auch besaß er ein prachtvolles Auto. Er machte sich nicht das geringste Gewissen daraus, daß zwei Menschen, die er erpreßt hatte, Selbstmord verübten und daß viele andere in schwere Sorgen gerieten. Um den Schmuck für seine etwas phlegmatische Frau kaufen zu können, hatten viele andere Schmuckstücke in die Pfandleihe wandern müssen, und die unglücklichen Leute, die er aussaugte, hatten ihre Villen mit Hypotheken überlastet oder verkauft.

Mr. Exsome war noch nie mit den Gerichten in Konflikt gekommen, denn er wußte sich in jedem Fall aalglatt aus der Affäre zu ziehen.

*

Mrs. Verriners Hausmeister verschwand eines Morgens mit dem Inhalt ihrer Schmuckkassette, während sie zu einer befreundeten Familie aufs Land gefahren war. Als sie zurückkam, entdeckte sie, daß ihr Safe geöffnet war und daß sie Juwelen im Wert von dreitausend Pfund verloren hatte. Sie zeigte den Diebstahl sofort bei der Polizei an. Erst später kam ihr zum Bewußtsein, daß sie auch noch andere wertvolle Dinge vermißte.

Sie war eine energische Frau, ging zu Scotland Yard und teilte ihre Sorgen Chefinspektor Bliss mit. Offen sprach sie von ihrem Freund Bobbie, der sich zur Zeit in Indien aufhielt, und von ihrer Furcht vor ihrem eifersüchtigen Gatten. Sie erzählte Mr. Bliss allerdings nicht alles, was in Bobbies Briefen stand, aber der Polizeibeamte konnte sich den Rest selbst zusammenreimen.

Der Hausmeister wurde verhaftet, und Bliss verhörte ihn in Scotland Yard. Die meisten Juwelen hatte er bereits verkauft, und er behauptete, daß er die Briefe verbrannt habe.

»Ich hoffe, daß das stimmt, Cully«, sagte Bliss, der die Akte des Mannes genau kannte. »Fünf Jahre Zuchthaus bekommen Sie für die Sache. Aber wenn sich später herausstellen sollte, daß Sie die Dame erpreßt haben, verschaffe ich Ihnen eine weitere Strafe von zehn Jahren.«

»Ich will tot umfallen, wenn ich die Unwahrheit gesagt habe und wenn die Briefe nicht verbrannt sind.«

Mr. Cully fiel aber nicht tot um.

Das Gericht diktierte ihm eine Strafe von nur drei Jahren zu, und als er wieder aus dem Gefängnis kam, sah er sich nach einer neuen Beschäftigung um. Die Stellenvermittlung von Mr. Exsome war in Dartmoor wohlbekannt, und an diese Firma wandte er sich auch.

Mr. Exsome kannte die Vergangenheit Cullys und behandelte ihn außerordentlich liebenswürdig. Cully machte bald dunkle Andeutungen über eine gewisse Korrespondenz, die sich in seinem Besitz befand.

Am nächsten Tag brachte er die Briefe in Mr. Exsomes Büro, und dieser las sie sorgfältig durch. Später informierte er sich über die finanzielle und gesellschaftliche Stellung von Mrs. Verriner und entdeckte dabei, daß ihr ein jährliches Einkommen von zweitausend Pfund persönlich zur Verfügung stand und daß ihr Mann sehr wohlhabend war.

Nach längerem Feilschen kaufte er die Briefe von Cully für dreihundertzwanzig Pfund und begann dann sofort aufgrund seines neuen Besitzes mit der Empfängerin der Briefe zu verhandeln ...

Mrs. Verriner hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen.

»Ihr früherer Hausmeister hat damit nichts zu tun«, erklärte Mr. Exsome. »Ich habe mir große Mühe gegeben, ihn aufzufinden, und er sagte mir, daß er die Briefe damals fortgeworfen habe. Der Mann, der sie augenblicklich in der Hand hat, muß sie gefunden haben.«

Mr. Exsome wartete vergeblich auf eine Erwiderung und sprach schließlich weiter.

»Dieser Mann will nach Australien gehen und sich dort eine neue Existenz gründen –«

»Das ist eine ganz allgemeine Phrase«, entgegnete sie kühl.

Mr. Exsome erkannte, daß er einen schweren Stand mit ihr haben würde. Sie gehörte zu den Frauen, die eventuell zur Polizei gingen und sich nicht so leicht einschüchtern ließen. Er faßte sie infolgedessen etwas vorsichtiger an.

»Madame, ich habe alles getan, was in meiner Macht steht«, sagte er und erhob sich, als ob er gehen wollte. »Mehr kann ich nicht tun. Der dumme Kerl hat tatsächlich die Absicht, sich an Ihren Gatten zu wenden. Ich habe vergeblich versucht, es ihm auszureden. Diese Leute wollen ja niemals Vernunft annehmen ...«

Durch eine Handbewegung lud sie ihn ein, wieder Platz zu nehmen. Und von diesem Augenblick an zahlte sie und erhielt nacheinander die kompromittierenden Briefe zurück, nur nicht den einen, auf den es besonders ankam.

*

In einem verlassenen Winkel ihres Landgutes in Berkshire stand ein kleines Häuschen, das ein französischer Künstler gemietet hatte. Er verbrachte meistens das Wochenende dort und hatte kein Personal.

Mrs. Verriner unterhielt sich einige Male mit diesem galanten, liebenswürdigen Herrn, und dann stellte er ihr seine Wohnung während seiner Abwesenheit zur Verfügung.

Kurze Zeit nachdem sie an Mr. Exsome zum erstenmal Schweigegelder gezahlt hatte, machte sie von dem Anerbieten des Franzosen Gebrauch.

»Ich habe manchmal Besuch, den ich im Herrenhaus nicht empfangen kann«, erklärte sie ihm, »und ich bin Ihnen sehr dankbar, Monsieur Vaux, wenn ich während Ihrer Abwesenheit mit den Leuten in Ihrem Haus verhandeln kann.«

»Ich freue mich, wenn ich Ihnen zu Diensten sein kann«, entgegnete der Franzose liebenswürdig. »Damit Sie immer wissen, ob ich hier bin, werde ich eine Trikolore an dem Flaggenmast hissen.«

Mit diesen Worten übergab er ihr einen der beiden Schlüssel des Hauses.

Wenn die Flagge nicht wehte, ging sie zu dem kleinen Haus hinüber, schloß die Hintertür auf und empfing dort Mr. Exsome.

*

An einem herrlichen Frühlingsabend saß Mr. Exsome in seiner Wohnung in Maida Vale und rauchte eine gute Zigarre. Noch zu später Stunde brachte ihm ein Bote einen Brief, dessen Inhalt ihn in großes Erstaunen setzte. Er war nur kurz und trug keine Anrede.

Ich habe entdeckt, daß Sie ein berufsmäßiger Erpresser sind. Solche Leute kann ich nicht leiden. Suchen Sie sich eine andere Beschäftigung. Ich warne Sie. Der Hexer

Mr. Exsome machte ein langes Gesicht, denn gerade zu dieser Zeit schrieben die Zeitungen sehr viel über die letzten Taten dieses Mannes.

Bald darauf trat seine Frau ins Zimmer.

»Lieber Ernie, du siehst ja so blaß aus – ist etwas geschehen? Hast du die Steuerveranlagung bekommen?«

Sie hoffte, ihn freundlich stimmen zu können, aber er lachte nicht.

»Halt den Mund«, sagte er böse.

Er wußte wohl, daß man sich vor dem Hexer in acht nehmen mußte. Und gerade jetzt stand er im Begriff, eine sehr hohe Summe von Mrs. Verriner zu erpressen. In einem unbedachten Augenblick hatte sie ihm verraten, daß sie ein großes Vermögen von ihrem Onkel erben werde. Mr. Exsome hatte sofort Erkundigungen eingezogen und erfahren, daß dieser Herr schon nahezu achtzig Jahre zählte. Die Frau sollte also nicht so billig davonkommen. Und nun kam dieser Hexer dazwischen.

Als er das Haus verließ und in sein Auto stieg, riefen die Zeitungsjungen gerade aus:

»Der Hexer aufgefunden!«

Er kaufte ein Blatt, aber seine Hand zitterte so heftig, daß er kaum die große Überschrift lesen konnte. Als er den Artikel las, erfuhr er nicht viel Neues.

*

Der Hexer hatte vor einiger Zeit Mr. Graddle als Friseur in eine kleine arabische Stadt verschleppen lassen, und der junge Mann hatte dort drei Monate in dem Harem von Ibn el Masjik zugebracht.

Eines Tages setzte er sich hin und schrieb einen langen Brief über all das Mißgeschick, das ihn betroffen hatte. Er richtete ihn an den Außenminister in London, und durch Bestechung gelang es ihm tatsächlich, einen Kameltreiber zu finden, der das Schreiben beförderte. Auch seine Mutter benachrichtigte er. Aber der Brief an sie ging unterwegs verloren, als sich der Kameltreiber einmal betrank.

Dagegen kam der erste Brief nach langer Zeit in Whitehall an und wurde von dort aus nach Scotland Yard geschickt. Chefinspektor Bliss war wenig gerührt über das Schicksal von Julian Graddle, aber er interessierte sich um so mehr für gewisse Einzelheiten des Falles. Es gelang ihm auch, das Geheimnis aufzuklären, und er erfuhr von der Entführung der Kapitänstochter.

Nun hatte er einige Unterlagen, auf denen er fußen konnte, und diesmal hoffte er bestimmt, den Hexer zu fassen.

Ein Polizeiauto mit einer Anzahl von Detektiven erschien eines Tages unverhofft vor der kleinen Villa in Norbury, und es gelang Henry Arthur Milton gerade noch mit knapper Not, durch die Hintertür seiner Garage zu entschlüpfen, als der Polizeiwagen vor seinem Haus ankam. Trotzdem besaß er die Frechheit, mit einer Pfeife im Mund an den Detektiven vorüberzufahren.

Ja, er grüßte Bliss sogar, der sich aber gar nicht weiter um ihn kümmerte.

Am Abend wurde durch Polizeifunk von Scotland Yard aus ein Befehl an alle Polizeiwachen Londons gesandt:

Äußerst dringend! Braunen Buick-Zweisitzer T. D. 7418 anhalten. Wagen wurde vor zehn Minuten auf der Great West Road gesehen. Übereinstimmende Meldungen von Slough, Maidenhead und Reading eingelaufen. Der Mann am Steuer soll verhaftet werden. Achtung! Es wird vermutet, daß er Schußwaffen mit sich führt. Berichte an Chefinspektor Bliss, Scotland Yard.

»Diesmal werden wir ihn fangen«, meinte Inspektor Mander und strich sich befriedigt mit der Hand über das Kinn.

Bliss warf ihm einen unfreundlichen Blick zu.

»Vielleicht interessiert es Sie, daß der betreffende Wagen in Epping Forest gefunden wurde. Das liegt gerade in entgegengesetzter Richtung von dort, wo er zuerst beobachtet wurde. Und wenn Sie nichts weiter zu tun haben, ist es ja eine schöne Aufgabe für Sie, einmal den Weg aufzuzeichnen, den der Wagen gemacht hat. Ich habe das bereits getan, aber Sie sind ja sehr viel klüger als ich. Vielleicht kann ich noch etwas von Ihnen lernen.«

*

Die nächste wichtige Nachricht erhielt Scotland Yard von der Berkshire-Polizei. Monsieur Vaux kam einmal früher als erwartet zu seinem kleinen Wochenendhaus und bemerkte, daß jemand in seiner Abwesenheit dort geschlafen haben mußte, und zwar in einem Zimmer, das er selbst für gewöhnlich nicht benutzte. Er fand eine Autokarte dort, auf der mit roter Tinte zwei Routen eingetragen waren. Die eine führte nach dem Süden Englands, die andere durch Bronslough und Hampton auf großen Umwegen nach dem Norden Londons.

Er hatte der Polizei von dem Vorfall Mitteilung gemacht. »Ich glaube, ich fahre am besten selbst hin und spreche mit Monsieur Vaux«, meinte Inspektor Mander. »Es wäre auch ganz interessant, wenn ich mir den Schauplatz einmal genauer ansehen könnte.«

»Sprechen Sie denn französisch?« fragte Bliss eisig.

»Nein, das gerade nicht – aber zur Not kann man sich doch verständigen –«

»Unter diesen Umständen ist es besser, daß die Polizei von Berkshire die Sache genauer untersucht.«

*

Mrs. Verriner erfuhr von der unangenehmen Tatsache durch ihren Mieter und war sehr bestürzt.

»Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen«, sagte Monsieur Vaux. »Zuerst dachte ich mir nichts dabei, weil ich glaubte, daß es Ihr Freund sei. Sie sind eine Dame, und ich habe Ihnen meine Räume zur Verfügung gestellt. Aber als ich nun von dem Hexer hörte, schaute ich mich doch genauer in dem Zimmer um. Und was entdecke ich? Diese Karte! Ist es nicht merkwürdig? Als ich weitersuche, finde ich auch einen Revolver. Davon habe ich natürlich der Polizei nichts gesagt. Ich glaube, den behalte ich am besten zurück, obwohl ich mich nicht im mindesten fürchte. Aber ich kann ihn ja als Andenken aufbewahren. Ich erkundigte mich und hörte, daß Sie zu der fraglichen Zeit in London waren. Also konnte Ihr Freund nicht hiergewesen sein. Deshalb habe ich die Sache auch gleich der Polizei angezeigt.«

Mrs. Verriner sah sehr angegriffen aus. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie war in London gewesen, um eine Hypothek auf eins ihrer Häuser in Wiltshire aufzunehmen. Ihr Mann war bereits mißtrauisch geworden, da er etwas von den geheimen Zusammenkünften mit Mr. Exsome in dem Haus des französischen Künstlers erfahren hatte.

»Sie glauben doch nicht etwa, daß dieser Hexer schon längere Zeit hier gewohnt und mich eventuell mit meinem Freund belauscht hat?«

Monsieur Vaux schüttelte den Kopf.

»Nein. So ungalant wird doch der Hexer nicht sein.«

Exsome forderte mehr und mehr. Anfangs waren es hundert Pfund, die er dem unbekannten Besitzer der Briefe nach Australien schicken mußte, schließlich wurden es Tausende.

Das Mißtrauen, mit dem Mr. Verriner seine Frau behandelte, bot ihr nur einen Vorgeschmack von dem, was kommen mußte, wenn er den wahren Sachverhalt erfuhr.

Der Erpresser wartete geduldig. Er wußte genau, wann er sie bedrängen konnte und wann er vorsichtig mit ihr umzugehen hatte.

Sie schrieb ihm verzweifelte Briefe, daß es ihr nicht gelingen wolle, die verlangte Summe aufzutreiben, aber schließlich erhielt er ein Telegramm.

Treffpunkt acht Uhr an der gewöhnlichen Stelle. Bringen Sie den Brief. Geldbetrag bereit.

Er nahm den kompromittierenden Brief aus dem Geldschrank, steckte ihn ein und wollte gerade zu einem kleinen Klub in Soho gehen, wo Rennwetten abgeschlossen wurden, als er ans Telefon gerufen wurde.

Es gibt mehr als achtzehntausend Polizisten in London, und es wäre ein Wunder, wenn sich unter ihnen nicht auch einige verbrecherisch veranlagte Charaktere befänden. Einer von diesen war wegen verschiedener Vergehen aus der Polizei entfernt worden, stand aber noch mit seinen früheren Kollegen in Verbindung und wußte alle wichtigen Dinge, die in Scotland Yard passierten. Für Mr. Exsome war dieser Mann von unschätzbarem Wert.

»Hier ist Joe«, sagte er, und wenn Joe so dringend sprach, wußte Mr. Exsome, daß Gefahr im Verzug war.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er schnell.

»Ich habe eben etwas Wichtiges gehört. Bliss hat eine Anzeige gegen Sie erhalten. Jemand hat nicht dichtgehalten. Der Betreffende heißt Lynne.«

Mr. Exsome nickte. Er erinnerte sich genau an Lynne. Er war der Sohn eines reichen Börsenmaklers und durch Unvorsichtigkeit in eine sehr fatale Situation gekommen. Mr. Exsome hatte die Chance rücksichtslos ausgenützt.

»Ist schon ein Haftbefehl gegen mich ausgestellt?«

»Noch nicht, das kommt morgen. Sie stehen aber bereits von heute abend an unter Polizeiaufsicht.«

»Danke vielmals, Joe.«

Mr. Exsome war auf eine solche Krise gefaßt. Seine Depositenkasse lag nur ein paar Schritte von seiner Wohnung entfernt.

Zwanzig Minuten vor Kassenschluß ging er hin und hob so viel ab, daß der Vorsteher auf die Reserven zurückgreifen mußte.

Gleich darauf fuhr er zu seiner Wohnung zurück und sprach mit seiner Frau. Sie hatte ein Privatkonto, und er brauchte im Augenblick nicht für sie zu sorgen.

»Ich muß auf ein paar Monate verreisen«, erklärte er ihr, und sie nahm diese Mitteilung gelassen entgegen.

Er las das Telegramm, das er von Mrs. Verriner erhalten hatte, noch einmal durch und legte sich dann seinen Plan zurecht. Er wollte mit dem Zug nach Windsor fahren und sein Fahrrad mitnehmen. Von der Station aus konnte er durch den großen Park radeln und das kleine Haus auf dem Gut von Mrs. Verriner in der Dämmerung erreichen. Wenn er das Geld einkassiert hatte, wollte er mit dem Rad nach Slough fahren und dann mit der Bahn nach Plymouth. Er wußte, daß an diesem Abend noch ein Dampfer von dort nach Frankreich abging. Wenn der Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, war er schon längst in Sicherheit.

Es wickelte sich auch alles glatt ab, genau wie er es geplant hatte. In Ruhe konnte er durch den großen Park von Windsor radeln und kam sogar noch eine Viertelstunde zu früh vor dem einsamen Haus an. Niemand war in Sicht, als er durch das Gartentor ging und sich dem Haus näherte. In der Nähe der Hecke hatte jemand eine Grube gegraben, aber er interessierte sich nicht weiter dafür.

Die hintere Tür war nur angelehnt – Mrs. Verriner mußte also schon hier sein. Er lehnte sein Rad an die Wand und trat ein. Im Wohnzimmer brannte Licht.

»Schließen Sie die Tür«, hörte er die freundliche Stimme des Mannes, der am Tisch saß.

Mr. Exsome blieb wie versteinert stehen.

»Kennen Sie mich nicht?« fragte der Fremde lächelnd. »Nun, dann werden Sie sich gewiß freuen, wenn ich mich Ihnen als den Hexer vorstelle. Sie gehören zu den wenigen Menschen, die mich ohne Verkleidung sehen.«

»Der Hexer!« stammelte Exsome und wurde aschfahl.

»Laufen Sie nicht fort! Ich kann viel schneller schießen, als Sie sich bewegen können.«

Er hatte einen Browning in der Rechten.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Mr. Exsome?«

Der Erpresser sank kraftlos auf einen Stuhl nieder. Er war unfähig, ein Wort hervorzubringen, und starrte Milton verzweifelt an.

»Haben Sie nicht vor einiger Zeit eine Warnung von mir bekommen?« fragte der Hexer liebenswürdig. »Ich bin schon länger auf Ihrer Spur. Sie waren allerdings ziemlich schlau und gerissen, und es ist mir sehr schwergefallen, Sie zu identifizieren. Außerdem war ich in der letzten Zeit mit anderen Dingen stark beschäftigt. Aber vor kurzem logierte ich zufällig hier im Haus. Ich habe nämlich einige Schlupfwinkel, die ich äußerst dringend brauche.

Als ich hörte, daß Mrs. Verriner hier einen Freund treffen wolle, fürchtete ich schon das Schlimmste. Aber schließlich geht mich das ja nichts an. Ich war aber neugierig, interessierte mich für den Fall und blieb hier, als Sie eines Tages hier mit ihr zusammenkamen. Auf diese Weise erfuhr ich alles. Wäre es eine gewöhnliche Liebesaffäre gewesen, so hätte ich der Sache keinen weiteren Wert beigelegt, aber es handelte sich um einen schweren Fall von Erpressung. Haben Sie den Brief mitgebracht?«

Exsome nickte.

»Legen Sie ihn auf den Tisch. Legen Sie auch das Geld dazu, das Sie von der Bank abgehoben haben. Heute nachmittag habe ich Ihnen telefoniert, und daraufhin haben Sie sich zur Flucht entschlossen. Ich kenne Ihre Beziehungen sehr genau und bin deshalb auch über Ihren Freund Joe orientiert.«

Er wartete einen Augenblick.

»Also schnell – Brief und Geld«, sagte er dann scharf.

Exsome gehorchte.

»Ist das alles, was Sie von mir wollen?« fragte er heiser.

Der Hexer schüttelte den Kopf.

»Nein, ich will noch mehr von Ihnen. Ich habe all Ihre Schandtaten nachgeprüft. Wissen Sie, daß zwei Ihrer Opfer sich das Leben genommen haben? Denken Sie noch an die unglückliche Frau, die sich mit Gas vergiftete, und an das arme Mädchen, das ins Wasser ging? Oder an den alten Geistlichen, der den Verstand verlor, nachdem Sie ihn um sechzehnhundert Pfund beschwindelt hatten? Nur diese wenigen Fälle will ich jetzt in Betracht ziehen.«

Mr. Exsome wußte das alles sehr gut, und zum erstenmal in seinem Leben schlug ihm das Gewissen.

»So, nun wollen wir nach draußen gehen«, sagte der Hexer und erhob sich.

Am nächsten Morgen erhielt Mrs. Verriner zwei Briefe. Einer kam von ihrem Rechtsanwalt, der ihr mitteilte, daß es ihm zu seinem größten Bedauern nicht gelungen sei, die Hypothek zu beschaffen. Der andere kam eingeschrieben und war drei Jahre alt. Sie wäre beinahe ohnmächtig umgesunken, als sie ihn sah. Ein kleiner Zettel lag dabei:

Ich werde Sie nicht wieder belästigen. Alles Geld, das ich von Ihnen erhalten habe, ist wieder bei Ihrer Londoner Bank eingezahlt.

Außer sich vor Freude warf sie den kompromittierenden Brief ins Feuer und atmete auf, von einer schweren Sorge erlöst.

Eine Viertelstunde später rief ihre Bank an und teilte ihr mit, daß das fragliche Geld tatsächlich per Post eingegangen war.

Ihr Mann war nach London gefahren, und als sie am Nachmittag die Trikolore am Flaggenmast des kleinen Hauses sah, ging sie hinüber. Monsieur Vaux war in seinem Garten und rauchte eine lange Zigarre. Als sie näher kam, grüßte er sie höflich.

»Ich bringe Ihnen den Schlüssel zurück«, sagte sie fröhlich. »Gestern nachmittag waren Sie ja so sehr beschäftigt. Einer meiner Gärtner sagte mir, daß Sie eifrig gegraben hätten!«

Sie sah sich um, aber von der Grube war nichts mehr zu sehen. Dagegen war ein neues, ovales Gartenbeet mitten auf dem Rasen entstanden.

»Ich werde Blumen darauf pflanzen«, meinte Monsieur Vaux. »Als Einfassung machen sich vielleicht Vergißmeinnicht am schönsten. Sie sollen mich immer an den kleinen Dienst erinnern, den ich Ihnen erweisen konnte, Madame.«

Sie dachte nur an den Schlüssel, den er ihr überlassen hatte, aber er hatte etwas ganz anderes im Sinn, da er niemand anders war als der Hexer selbst.