Mr. Gilbert Orsan schrieb allerhand Artikel, die er an die Zeitungen sandte, aber er wollte kein Geld damit verdienen. Meistens behandelten sie die Verschwendungssucht der Armen und ähnliche Themen.
Über die Not der Armen mußte er allerdings im Bilde sein, denn er besaß viele Mietshäuser, und die Beträge, die ihm die Leute schuldeten, beliefen sich auf Tausende.
Es wurden aber sehr böse Dinge über ihn erzählt. Sowohl als Hausherr wie auch als Chef war er nicht beliebt. Er war der Eigentümer der großen Orsan-Warenhäuser, die in allen Teilen Londons lagen. Aber wenn er etwas von den Beschwerden über sich selbst hörte, tat er sie kurz als böswillige Verleumdung ab und stellte sie als Angriff Linksradikaler hin.
Auch Lila Brown hatte seinen hartherzigen Charakter kennengelernt. Sie war vollständig verzweifelt und machte sich die größten Vorwürfe.
Aber Mr. Orsan hatte sich seiner Meinung nach ihr gegenüber sehr großzügig benommen. Als er sich von ihr trennte, sagte er ihr, daß dergleichen eben vorkomme und daß es keinen Zweck habe, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Früher war sie Mr. Orsans Privatsekretärin und Haushälterin gewesen, aber jetzt hatte sie ihre Stellung einer jüngeren Dame überlassen müssen und lebte in einer Pension in Hythe. Mr. Orsan zahlte ihr wöchentlich vier Pfund.
Das war sehr wenig, denn sie mußte davon nicht nur sich, sondern auch ein kleines Kind unterhalten.
In derselben Pension wohnte auch ein stiller, ruhiger Mann. Man wußte nicht genau, wie alt er war, aber er sah sehr gut aus, wenn sich auch sein Haar an den Schläfen bereits etwas grau färbte. Er stand mit allen Leuten gut, und alle schenkten ihm ihr Vertrauen. Sie beichteten ihm selbst Sorgen und Geheimnisse, die sie ihren nächsten Bekannten und Freunden nicht erzählt hätten. Besonders liebte er kleine Kinder, und er konnte auch sehr gut mit ihnen umgehen, denn er hatte früher, wie er sagte, einmal in Edinburgh ein Kinderheim verwaltet.
Chefinspektor Bliss suchte den Hexer überall, aber er hätte ihn nicht in dieser stillen Pension in Hythe vermutet. Aber Henry Arthur Milton erfuhr auf diese Weise von dem schlechten Charakter Mr. Orsans. Miss Brown erzählte ihm auch von dem geheimen Gang, der von der Garage zu seinem Arbeitszimmer führte und auf dem Leute in sein Haus kamen, die das Tageslicht zu scheuen hatten. Sie zeigte ihm ein Foto des Mannes, auf dem eine sehr intime Widmung stand. Für sie war es eine Erlösung, daß sie mit dem Hexer zusammenkam, denn sie mußte einen Menschen haben, dem sie all ihr Herzeleid anvertrauen konnte und der ihr aufmerksam und verständnisvoll zuhörte.
Mr. Orsan wohnte in einer prächtigen Villa in der Nähe des Hyde-Parks. Um sein Geschäft kümmerte er sich nicht besonders. Er brachte täglich nur zwei Stunden in seinem Hauptbüro zu und diktierte unangenehme Briefe an die Chefs der einzelnen Abteilungen.
Die andere Zeit verbrachte er gewöhnlich in seinem Haus, von dem aus man einen herrlichen Ausblick auf grüne Wiesen und schöne Baumgruppen hatte. Dort setzte er die Reden auf, die er in den verschiedenen Gesellschaften hielt.
Sein Arbeitszimmer war prachtvoll eingerichtet, und ein großer Marmorkamin schmückte die eine Wand. Er hielt viel auf Repräsentation, und seine Diener trugen glänzende Livreen mit Kniehosen und goldenen Tressen.
Eines Tages wurde ihm Chefinspektor Bliss gemeldet.
»Zum Teufel, was will denn dieser Polizeibeamte? Lassen Sie ihn nähertreten, Thomas.«
Er ärgerte sich sofort über Bliss, weil ihm dieser nicht so respektvoll entgegentrat wie die Leute, mit denen er sonst zusammenkam. Er sah in dem Chefinspektor nur einen Angestellten des Staates, dem man keine große Beachtung zu schenken brauchte.
Bliss legte seinen Hut beiseite und nahm Platz, ohne dazu aufgefordert zu sein.
»Sie sind wahrscheinlich gekommen, um wegen der Unterschlagung, die mein Kassier begangen hat, mit mir zu sprechen?« fragte Mr. Orsan herablassend. »Für derartige Sachen habe ich keine Zeit. Da müssen Sie sich schon an meinen Geschäftsführer wenden –«
»Sie irren sich, Mr. Orsan. Ich habe Sie aufgesucht, weil ich mit Ihnen über einen Brief sprechen wollte, den Sie an die Redaktion des ›Megaphon‹ geschrieben haben. Er handelt von Verbrechern im allgemeinen und fordert schwerere Strafen für sie.«
Mr. Orsan lehnte sich in seinen Sessel zurück und legte die Fingerspitzen zusammen. Dann nickte er verbindlich, denn es schmeichelte ihm, daß man sich in Scotland Yard um seine Ansichten kümmerte.
»Ach ja, den Artikel hatte ich schon ganz vergessen. Ich glaube, Sie geben mir vollkommen recht? Meine Anschauung über diese Leute ist –«
»Das kümmert mich im Augenblick sehr wenig«, entgegnete Bliss unliebenswürdig.
Mr. Orsan liebte es nicht, daß man ihn unterbrach, und er warf dem Chefinspektor einen feindseligen Blick zu.
»In Ihrem Artikel haben Sie auch den Hexer erwähnt. Sie sagen, man müsse die Polizei tadeln, weil sie diesen Verbrecher unbehelligt lasse.«
»Das ist auch vollkommen meine Meinung«, erwiderte Mr. Orsan mit Nachdruck. »Wahrscheinlich war es Ihnen unangenehm, daß das in der Zeitung stand. Aber da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich habe eben meine Ansicht frei ausgesprochen, und ich glaube, daß ich dem Interesse der Allgemeinheit damit gedient habe.«
Bliss lachte.
»Es mag anderen Leuten ja ganz interessant sein, Ihre Ansichten zu lesen, aber wir kümmern uns nicht darum. Wir sind es gewohnt, daß man uns Vorwürfe macht, und ich bin nur zu Ihnen gekommen, um Sie zu warnen. Es ist nämlich sehr gefährlich, die Aufmerksamkeit des Hexers auf sich zu lenken. Außerdem haben wir in Erfahrung gebracht, daß er in der letzten Zeit in Hythe war.«
Mr. Orsan runzelte die Stirn. Hythe kam ihm so bekannt vor.
»Wieso sollte denn das eine Beziehung zu mir haben?«
»Dort wohnt eine junge Dame, die sich Mrs. Tredmayne nennt, aber, soviel ich weiß, eine gewisse Miss Brown ist. Vor einiger Zeit stand sie noch in Ihren Diensten. Ich weiß nicht, ob sie sich über Sie zu beklagen hat, aber ich nehme es an. Sie war ja Privatsekretärin und Haushälterin, und sie ist wirklich eine sehr hübsche junge Dame –«
»Ich weiß Bescheid über Miss Brown«, erwiderte Mr. Orsan ärgerlich. »Gewiß ist sie hübsch und jung, aber sie hatte eben das Unglück – nun, ich möchte nicht weiter mit Ihnen über die Sache sprechen ...«
»Das ist auch gar nicht nötig, Mr. Orsan«, erwiderte Bliss in seiner harten, unliebenswürdigen Weise. »Scotland Yard kann sich um solche Dinge nicht kümmern. Aber ich möchte wiederholen, daß der Hexer in derselben Pension wie Miss Brown gewohnt hat und daß Sie deshalb vielleicht recht unliebsame Überraschungen erleben werden. Unter diesen Umständen ist es doppelt unvorsichtig von Ihnen, durch Zeitungsartikel seine Aufmerksamkeit noch mehr auf sich zu lenken.«
Mr. Orsan erhob sich zu seiner vollen Größe und schaute auf Bliss hinunter.
»Ich wundere mich sehr, daß Sie derartige Ansichten äußern. Es ist doch meine Pflicht als Staatsbürger, auf die Krebsschäden der Gesellschaft aufmerksam zu machen und besonders der Polizei den Spiegel vorzuhalten, wenn sie ihre Pflichten vernachlässigt. Glauben Sie vielleicht, ich fürchte mich vor dem Hexer? In meinem nächsten Brief an die Redaktion des ›Megaphon‹ werde ich noch ganz anders über ihn schreiben!«
Bliss zuckte die Schultern, stand auf und nahm seinen Hut. »Ist es Ihnen noch nicht aufgefallen, daß wir Sie eventuell als Lockvogel benützen könnten, um den Hexer zu fangen?« fragte er. »Wir könnten uns unsere Aufgabe ja dadurch nur erleichtern, wenn wir Sie noch zu derartig herausfordernden Artikeln ermutigten.«
Auf diesen schlauen Gedanken war Mr. Orsan natürlich nicht gekommen.
Als Thomas den Besucher zur Tür begleitet hatte, klingelte Orsan seinem Sekretär und beauftragte ihn, alle nur irgendwie erreichbaren Angaben und Informationen über Henry Arthur Milton herbeizuschaffen. Dann setzte er sich hin und schrieb einen leidenschaftlichen Artikel über die Nachlässigkeit der Londoner Polizei.
Er wurde auch abgedruckt, aber im Grunde genommen kümmerte sich niemand darum. Der Redakteur der Zeitung strich ihn zusammen, damit ihm noch Platz blieb, um eine Anzeige über ein bekanntes Hundefutter unterzubringen.
Chefinspektor Bliss von Scotland Yard las den Aufsatz und grinste.
»Der Mann will sich nicht raten lassen, und wen die Götter vernichten wollen, den strafen sie mit Blindheit und lassen ihn Artikel im ›Megaphon‹ schreiben.«
Zwei Tage später erhielt Mr. Orsan einen Brief. Er war mit Maschine geschrieben, in einem nördlichen Bezirk Londons zur Post gegeben und trug keine Adresse.
Sie sind ein sehr interessanter Artikelschreiber. Können Sie denn Ihre Ansicht auch in einer öffentlichen Diskussion vertreten? Ich habe die Absicht, alle Ihre Mieter Weihnachten zu einem Essen einzuladen, und habe zu diesem Zweck bereits die Albert-Hall gemietet. Um neun Uhr abends erscheine ich dort auf dem Podium, um mit Ihnen über die Todesstrafe zu debattieren. Zeigen Sie Chefinspektor Bliss diesen Brief, und antworten Sie mir
durch eine Annonce im ›Megaphon‹.Henry Arthur Milton
»Blödsinn!« sagte Mr. Orsan, ließ sich aber mit Scotland Yard verbinden.
Er wurde wütend, als Bliss ihn kühl zu einer Besprechung in sein Büro einlud.
»Ich bin den ganzen Nachmittag zu Haus«, entgegnete er.
»Und ich bin den ganzen Nachmittag in meinem Büro. Kommen Sie um drei Uhr, dann habe ich zehn Minuten für Sie übrig.«
Trotz allen Widerstrebens fuhr Mr. Orsan zur festgesetzten Zeit nach Scotland Yard, aber er mußte erst noch eine Viertelstunde im Wartezimmer zubringen, bevor er in das kahle, nüchterne Büro des Chefinspektors geführt wurde. Bliss nahm den Brief und las ihn durch.
»Nun, wie steht's? Nehmen Sie die Herausforderung an?«
Mr. Orsan starrte ihn mißtrauisch an.
»Glauben Sie denn wirklich, daß der Hexer in die Albert-Hall kommen will, um mit mir zu debattieren? Das ist doch ganz unmöglich!«
»Wenn der Mann schreibt, daß er in die Albert-Hall kommen will, dann tut er es auch. Was mit Ihnen geschieht, das weiß ich noch nicht – aber auf jeden Fall wird es Ihnen nicht gut gehen. Setzen Sie nur ruhig die Anzeige in das ›Megaphon‹. Ich will mir alle Mühe geben, Sie vor Schaden zu bewahren.«
Mr. Orsan war nicht ängstlich, er war nur sehr erstaunt über diese Auffassung.
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie diesen unsinnigen Brief ernst nehmen?«
»Gewiß, und ich gebe Ihnen nur den Rat, dasselbe zu tun.«
In den nächsten Tagen wurde Mr. Orsans Name überall genannt, und alle Zeitungen druckten einen Brief von ihm ab, in dem er den Empfang des Schreibens vom Hexer bestätigte.
Inzwischen stellte Scotland Yard fest, daß die Albert-Hall in South Kensington tatsächlich durch einen Agenten für den ersten Weihnachtsfeiertag gemietet worden war. Die Summe war im voraus bezahlt worden, und eine große Firma hatte den Auftrag bekommen, für die Bewirtung der dreitausend Geladenen zu sorgen. Auch diese Firma hatte alle Auslagen vorher vergütet erhalten.
Von einer Seite wurde darauf hingearbeitet, daß die Besitzer der Albert-Hall im öffentlichen Interesse den Vertrag aufheben sollten, aber Scotland Yard war anderer Ansicht. Inspektor Mander machte sowohl bei der Direktion der Albert-Hall als auch bei der Stadtküche Besuch und erklärte, daß die Polizei großen Wert auf Ausführung der Verträge lege.
Inspektor Mander hatte auf seinen Wunsch hin den Auftrag erhalten, alle nötigen Vorbereitungen zu treffen.
»Ich freue mich, daß ich Gelegenheit haben werde, meinen Mißerfolg im Fall Lumière wieder gutzumachen. Diesmal lasse ich mich nicht hinters Licht führen und täuschen.«
Bliss wollte zuerst Manders Bitte abschlagen, aber dessen Gesuch wurde höheren Orts befürwortet, da der Inspektor manche einflußreiche Freunde hatte.
Schließlich gab Bliss nach.
»Das ist allerdings eine Gelegenheit. Aber ich warne Sie! Es ist meiner Meinung nach die letzte Chance, die Sie haben. Ich übertrage Ihnen die Sache nur sehr ungern, denn ich bin davon überzeugt, daß der Beamte, der es bei dieser Weihnachtsfeier mit dem Hexer zu tun hat, den kürzeren ziehen wird.«
Mander lächelte.
»Wenn der Hexer sein Wort hält, dann muß er tatsächlich ein Zauberer sein.«
»Er wird sein Wort schon halten. Also tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich wünsche Ihnen viel Glück!«
Alle Mieter Mr. Orsans hatten Einladungen erhalten. Mr. Orsan wurde allgemein bekannt, man zeigte sich ihn und machte sich gegenseitig auf ihn aufmerksam, wenn er in der Öffentlichkeit erschien. Er war der Mann, der öffentlich mit dem Hexer debattieren wollte.
»Ich gebe Ihnen den guten Rat, vier Ärzte zu engagieren, die sich in der Nähe der Rednertribüne aufhalten. Außerdem einen Krankenwagen, in dem Sie Orsan zum Krankenhaus schaffen können.«
»Warum denn ausgerechnet vier Ärzte?« fragte Mander seinen Vorgesetzten.
»Zwei für Orsan und zwei für Sie«, erwiderte Bliss eine Spur ironisch.
Mr. Mander lächelte.
»Ich glaube nicht, daß der Hexer überhaupt auf der Bildfläche erscheint.«
»Sie sind und bleiben ein Narr«, entgegnete Bliss verstimmt.
Am Heiligen Abend erhielt Mr. Orsan einen zweiten Brief.
Halten Sie sich ja an Ihr Versprechen! Wenn Sie nicht in der Albert-Hall erscheinen, warte ich nur zehn Minuten auf dem Podium auf Sie – länger nicht.
Aber Mr. Orsan kümmerte sich in diesem Augenblick wenig um den Hexer, da ein neuer Kämpfer auf dem Feld erschienen war, der sich nicht nur brieflich mit ihm in Verbindung gesetzt, sondern ihn auch persönlich aufgesucht hatte.
Mr. Agnis war ein dickköpfiger, bärtiger Mann und ein fanatischer Gegner der Todesstrafe. Er hatte, wie er Mr. Orsan erklärte, überall gegen die Todesstrafe gekämpft, soweit die englische Sprache gesprochen wurde, und er bat Mr. Orsan, an Stelle des Hexers reden zu dürfen, wenn sich dieser an dem Abend nicht melden sollte. Er schien ein ganz achtbarer Mann zu sein, war gut gekleidet und behandelte Mr. Orsan mit der größten Zuvorkommenheit. Außerdem fuhr er in seinem eigenen Auto vor.
»Der Hexer wird unter keinen Umständen zur Versammlung kommen. Das Ganze ist doch nur ein übler Scherz. Aber warum sollten wir die Gelegenheit zu einer öffentlichen Debatte nicht ausnützen?«
Der Vorschlag kam Mr. Orsan nicht ungelegen, besonders da er seine Ansprache, und was er sonst sagen wollte, bereits schriftlich ausgearbeitet hatte, aber er war ein vorsichtiger Mann und setzte sich erst telefonisch mit Scotland Yard in Verbindung.
»Arthur Agnis?« sagte Inspektor Mander. »Das hat ja gerade noch gefehlt! Aber lassen Sie den Mann nur ruhig kommen. Wo wohnt er denn?«
»Danach habe ich ihn nicht gefragt. Heute abend ruft er mich an, um sich Bescheid zu holen. Er ist sehr liebenswürdig und umgänglich.«
Mander hatte alle Hände voll zu tun. Berittene Polizei hielt die ungeheure Menschenmenge im Zaum, die sich vor der Albert-Hall ansammelte.
Hunderte von Detektiven waren aufgeboten, und es wurden nur Leute mit Einladung in den Saal gelassen.
»Vergessen Sie nicht«, warnte Bliss den Inspektor am Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers, »daß der Hexer keine Perücken und falschen Bärte braucht, um sich zu verkleiden. Wenn er irgendeine Rolle spielt, dann ist er auch der Mann selbst. Seine Stimme, seine Bewegungen, seine Art zu sprechen, alles ist ganz aus einem Guß.«
»Verlassen Sie sich nur auf mich«, erwiderte Mander.
»Das tue ich eben nicht«, entgegnete Bliss und überließ den Mann seinem Schicksal.
Von vier Uhr nachmittags an sammelten sich die Eingeladenen vor der Albert-Hall, und um sieben war das große Lokal bis zum letzten Platz gefüllt. Eine Kapelle sorgte für Unterhaltung. Es wurde sogar bekanntgegeben, daß nach der Debatte getanzt werden sollte.
Um halb neun begab sich Inspektor Mander mit drei Beamten zur Wohnung Mr. Orsans. Er wurde sofort in die Bibliothek geführt, wo ihn der Hausherr empfing und einlud, Platz zu nehmen.
»Gestatten Sie noch einen Augenblick? Ich möchte erst noch diesen Brief an das ›Megaphon‹ beenden.«
Er schrieb fünf Minuten, dann legte er die Feder nieder, löschte das letzte Blatt ab und steckte den Brief in einen Umschlag.
»Dieser Hexer ist am Ende ein gefährlicher Bursche?« meinte er.
»Das ist uns nichts Neues«, entgegnete der Inspektor.
»Machen Sie sich aber deshalb keine Sorgen. Sobald er am Eingang erscheint und seinen Namen nennt, wird er von Detektiven umgeben. Wir könnten ihn ja gleich verhaften, aber wir wollen doch erst einmal abwarten, wie weit er diesen Scherz treiben will.«
»Er wird doch aber nicht etwa auf mich schießen oder mich sonst irgendwie angreifen?«
»Verlassen Sie sich nur auf mich. Unter meinem Schutz sind Sie sicher.«
*
Das Auto Mr. Orsans wartete vor der Tür, und die fünf Herren fuhren zur Albert-Hall, wo sie durch einen Nebeneingang eingelassen wurden. Als es neun Uhr schlug, trat Mr. Orsan, umgeben von den Polizeibeamten, auf die Tribüne. Die Anwesenden, die im Augenblick all ihre Beschwerden über ihn vergaßen, jubelten ihm sogar zu. Nervös bestieg er das Podium und blieb mit gefalteten Händen stehen.
Tiefes Schweigen herrschte im Saal. Einzelne bevorzugte Reporter, denen es gelungen war, Zutritt zu der Versammlung zu erhalten, sahen sich neugierig um, von welcher Seite wohl der Hexer auftauchen würde.
Plötzlich entstand Unruhe, als ein bärtiger Mann in den Lichtkegel des Scheinwerfers trat. Mander hatte den Auftrag gegeben, die Rednertribüne hell zu erleuchten.
»Da der Hexer nicht gekommen ist«, begann er mit durchdringender Stimme, »möchte ich an seiner Stelle reden und mit Mr. Orsan über die Todesstrafe debattieren. Ich habe einige Notizen über dieses Thema zusammengestellt –«
Er faßte in die Tasche, aber noch bevor er seinen Zettel herausziehen konnte, war er von einer Schar von Detektiven umgeben, die ihn abführten.
»Die Sache wäre in Ordnung«, sagte Mander lächelnd.
»Mr. Orsan, es hat keinen Zweck, daß Sie noch länger bleiben.«
Vier Beamte brachten ihn wieder sicher aus der Halle, und der Inspektor eilte zu dem Verhafteten, um ihn zu verhören.
Mr. Agnis war außer sich vor Wut.
»Wenn Sie es noch einmal wagen, meinen Bart anzurühren, schlage ich Ihnen den Schädel ein!«
»Das ist wirklich ein echter Bart!« sagte ein Detektiv zu Mander. »Und der Herr hat auch genügend Personalausweise bei sich – er ist wirklich Mr. Agnis!«
Der Inspektor prüfte die Papiere und mußte zugeben, daß ein äußerst peinlicher Irrtum passiert war.
»Warum sind Sie denn überhaupt hierhergekommen?« fragte Mander.
»Weil ich dazu aufgefordert wurde. Ich bin extra von Manchester herübergefahren. Ein Herr hat mir fünfundzwanzig Pfund gegeben und mich beauftragt, mit Mr. Orsan zu debattieren.«
Der Inspektor sah ihn entsetzt an.
»Nun, auf jeden Fall ist dieser Herr nicht der Hexer. Ich sagte ja sofort, daß er nicht kommen werde, und tatsächlich ist er auch nicht erschienen. Bliss hat sich wieder einmal blamiert.«
Er fuhr nach Scotland Yard zurück, wo der Chefinspektor schon unruhig auf Nachrichten wartete.
»Zum Teufel, warum haben Sie denn nicht telefoniert?« fragte Bliss wild, als er hörte, was vorgefallen war.
Im nächsten Augenblick eilte er die Treppe hinunter und raste in einem Auto zu Mr. Orsans Haus. Ein Diener öffnete ihm.
»Jawohl, Mr. Orsan ist schon seit einiger Zeit zu Haus.«
»Wo ist er denn?«
»In seinem Arbeitszimmer.«
Aber dort war er nicht, und auch in seinem Schlafzimmer konnte man ihn nicht finden. Als man schließlich das ganze Haus durchsuchte, entdeckte man ihn endlich in einer kleinen Rumpelkammer unter dem Dach. Er war gefesselt und geknebelt und lag schon seit drei Uhr nachmittags dort oben.
Der Hexer war durch den Geheimgang, der von der Garage ins Arbeitszimmer führte, ins Haus eingedrungen, hatte sich in aller Ruhe das Aussehen Mr. Orsans gegeben und sogar die Unverschämtheit besessen, dessen eigenen Anzug anzuziehen. Und in dieser Verkleidung war er in der Albert-Hall auf das Podium gestiegen.
Aber er hatte vorher auch noch den Safe in der Bibliothek aufgebrochen und siebentausend Pfund in Banknoten herausgenommen.
Nach einigen Wochen erhielt Miss Brown diese Summe in einem Paket.
›Ein Geschenk von St. Nikolaus‹ stand auf dem kleinen Zettel, der dabeilag.