8
Der Vampir

Inhaltsverzeichnis


In der Nähe des Dorfes St. Mary Church wäre eines Tages beinahe ein Autounglück passiert, aber glücklicherweise hatte der Vorfall keine schwereren Folgen.

In der Kurve begegneten sich zwei Autos, die mit rasender Geschwindigkeit fuhren. Beide befanden sich mehr oder weniger auf der falschen Seite und wären fast zusammengestoßen. Der Wagen Mr. Bayfords blieb auf der Straße, während der andere aus der Kurve geschleudert wurde, sich überschlug und in einem tiefen, überschwemmten Graben neben der Straße landete. Der Fahrer wäre sicher ertrunken, wenn Mr. Bayford nicht soviel Geistesgegenwart und Kraft besessen hätte, ihn zu retten. Aber dieser Mann hatte die Stärke dreier gewöhnlicher Leute und war außerdem in äußerst guter Stimmung, weil er von seiner Verlobungsfeier kam.

Mr. Bayford sprang sofort in den Graben und hob mit fast übermenschlicher Kraft den umgeschlagenen Wagen so weit an, daß er den Fahrer des verunglückten Fahrzeugs aus seiner verzweifelten Lage befreien konnte.

»Tut mir entsetzlich leid«, sagte Bayford liebenswürdig. »Wir haben wohl beide gleich wenig oder gleich viel Schuld.« Der andere lächelte schwach.

»Man hat mir schon immer prophezeit, daß ich eines gewaltsamen Todes sterben werde«, entgegnete er, »aber niemand hat mir gesagt, daß ich eventuell einmal in einem Chausseegraben mein Leben lassen würde.«

Er stellte sich Bayford dann als der Forschungsreisende Marksen vor.

»Donnerwetter«, sagte Bayford.

Er hatte zwar noch nie etwas von dem Forschungsreisenden Marksen gehört, aber, er hielt ihn sofort für einen bedeutenden Mann.

»Es ist wohl das beste, wenn ich Sie in meinem Wagen nach Babbacombe bringe«, meinte er.

Aber in dem Augenblick, als er diesen Vorschlag machte, erschien der Gärtner der nahegelegenen Villa auf der Szene. Er und seine Herrin hatten den Unglücksfall von der Höhe aus beobachtet.

»Madame läßt Sie bitten, doch ins Haus zu kommen. Sie will an die Garage in Babbacombe telefonieren, und Sie können sich inzwischen erholen.«

Mr. Marksen war damit einverstanden, aber Mr. Bayford bestand darauf, selbst die nötige Hilfe herbeizuholen.

»Sie haben mir tatsächlich das Leben gerettet«, sagte Marksen, »und wenn ich daran denke, wieviel Gefahren ich schon durchgemacht habe, wäre es wirklich unrühmlich gewesen, mein Leben auf diese Weise zu beschließen ...«

»Ja, ja, das wäre verteufelt unangenehm gewesen«, entgegnete Bayford schnell, dem jeder Dank peinlich war.

»Hoffentlich komme ich eines Tages in die Lage, Ihnen einen Gegendienst zu erweisen.«

Marksen schüttelte Bayford kräftig die Hand und folgte dann dem Gärtner. Sie kamen an kurzgeschnittenen, gutgehaltenen Rasenflächen und an Blumenbeeten vorüber, die in satter Blütenpracht strahlten, und erreichten das moderne, schöne Landhaus. Eine ältere Dame begrüßte Marksen freundlich.

Sie trug ein dunkles Seidenkleid, ein weißes Häubchen und eine große Kameenbrosche.

Nachdem er ein heißes Bad genommen und den Sonntagsanzug des Gärtners angezogen hatte, führte ihn Mrs. Reville Ross durch das Haus und zeigte ihm ihre Schätze mit unverhohlenem Stolz.

Die Einrichtung war jedoch in mancher Beziehung disharmonisch. Die billige Vergrößerung einer Fotografie, die im Wohnzimmer hing, paßte zum Beispiel durchaus nicht zu den ausgesucht schönen Möbeln.

»Das ist mein verstorbener Mann«, erklärte sie. »Er kam bei einem Eisenbahnunglück ums Leben, aber er hat durch eine Versicherung für mich gesorgt. Sehen Sie, dies ist meine Tochter.«

Sie nahm die große Brosche ab, klappte den Deckel auf und wies auf das Bild eines hübschen Mädchens von ungefähr sechzehn Jahren. »Sie haben sicher auch schon von ihr gehört, sie ist der bekannte Filmstar Stella Maris. Und sie ist Engländerin«, fuhr sie triumphierend fort, »obwohl sie alle Leute für eine geborene Amerikanerin halten. Wenn es bekannt würde, daß sie eigentlich Betty Ross heißt, würde sie sofort an Beliebtheit verlieren. Ich habe einen Zeitungsartikel hier, in dem sie behauptet, daß sie niemals in England war. Aber heimlich kommt sie jedes Jahr auf einen Monat zu mir. Sie glauben gar nicht, wie sehr meine Tochter mich liebt. Dieses Haus hat sie mir auch gekauft. Ich habe meine eigene Dienerschaft, einen Chauffeur, einen Gärtner, ein Auto und alles, was ich mir nur wünschen kann. Meine Tochter sagt, daß für mich nichts zu gut ist.«

Mr. Marksen hörte der alten Dame interessiert zu. Sie sprach den schönsten Londoner Cockney-Dialekt und paßte ihrer Erscheinung nach wenig in diese vornehme Villa.

*

Chefinspektor Bliss kannte Luise Makala, die er nur als ›Lou‹ bezeichnete. Zweimal schon hatte er länger mit ihr gesprochen und ihr ins Gewissen geredet, aber Luise ließ sich nicht leicht imponieren und noch viel weniger einschüchtern. Sie fürchtete sich nicht im geringsten vor ihm; er langweilte sie höchstens.

Lou besaß eine schöne Wohnung in der Grosvenor Street, hatte einen Hausmeister, mehrere Diener und zwei Chauffeure. Außerdem besaß sie eine Villa auf dem Land, eine Wohnung in Paris und ein Landhaus in Leicestershire. Bliss und die meisten Männer, die sie kannten, hielten sie für die schönste Frau, der sie je begegnet waren. Aber diese schöne Frau war eine Verbrecherin, ein Vampir, und hatte schon viele Männer unglücklich gemacht und ausgesogen. Ihre Schönheit und ihre glänzende Erscheinung lockten genügend Opfer an.

*

»Wer ist die Dame?« fragte Sir George Cestein den Portier im Feiles-Hotel.

Er hörte, daß es eine Miss Blenhardt sei, die Tochter eines reichen Australiers, und daß sie die teuersten Zimmer im Hause bewohne.

Sir George folgte ihr und hob den Handschuh, das Taschentuch oder irgendeinen anderen Gegenstand auf, den sie fallen ließ, aber vierundzwanzig Stunden später endete das Abenteuer sehr abrupt ...

»Entweder geben Sie mir sofort einen Scheck über fünftausend Pfund, oder ich rufe um Hilfe und schicke nach der Polizei!«

Sir George hatte nicht mehr getan als sie geküßt, aber er hatte die schreckliche Unvorsichtigkeit begangen, sie zu sich ins Margravine-Hotel einzuladen.

Er starrte sie entgeistert an. Ihr Kleid war zerrissen und ihr Haar zerwühlt, aber sie hatte sich selbst derartig zugerichtet. Er tobte und wütete, und sie drängte auf eine schnelle Entscheidung. Ihre Zofe erschien auf der Bildfläche, und er stellte tatsächlich den geforderten Scheck aus, den Lou sofort durch ihr Mädchen einkassieren ließ. Sir George drohte, gleich zu Scotland Yard zu gehen, aber solche Drohungen hatte sie schon zu oft gehört, um sich noch darüber aufzuregen.

Sie hatte ihre Absicht erreicht, denn kurz darauf waren die fünftausend Pfund in ihrem Besitz.

*

Als sie Bliss zum erstenmal begegnete – er hatte sie aufgesucht – und erfuhr, welche Stellung er bekleidete, erschrak sie nicht wenig, aber sie faßte sich bald wieder.

»Kennen Sie Sir Roland Perfenn?« fragte er sie streng.

Sie lachte, denn Sir Roland war Geheimer Staatsrat und ein eifriger Kirchenbesucher. Er wäre der letzte gewesen, der sie wegen einer Erpressung hätte anzeigen können.

»Behauptet er das etwa?« erwiderte sie kühl.

Bliss mußte diese Frage verneinen.

»Es ist mir allerdings zu Ohren gekommen ...«, begann er und erzählte ihr dann das Abenteuer des galanten und liebenswürdigen Sir Roland.

»Bringen Sie ihn doch hierher, mein guter Mr. Bliss. Das ist furchtbar einfach – Sie können ihn sofort anrufen – seine Nummer steht ja im Telefonbuch.«

Er war nicht in der Lage, ihrer Anregung zu folgen, aber er sprach väterlich auf sie ein.

»Bis jetzt haben Sie nur Männer 'reingelegt, denen es unmöglich ist, Sie anzuzeigen, weil sie sich in der Öffentlichkeit nicht bloßstellen dürfen. Aber früher oder später geraten Sie sicher einmal an den Unrechten. Und wenn dann der Richter fragt, ob jemand etwas über Sie aussagen kann, werde ich mich als Zeuge melden und unter Eid aussagen: ›Diese Dame ist eine bekannte Erpresserin.‹ Sie wissen, daß Sie in diesem Fall eine Strafe von zwanzig Jahren bekommen.«

Sie lachte ihm nur ins Gesicht.

»Wenn ein General die Schlacht verliert, ist es eben aus mit ihm, und wenn ein Löwenbändiger die Bestien nicht im Zaum halten kann, fressen sie ihn auf ... fangen Sie jetzt bloß nicht noch von dem Krug an, der so lange zum Brunnen geht, bis er bricht, sonst schreie ich um Hilfe. Wenn ich einen Fehler mache, muß ich eben zahlen. Aber verlassen Sie sich darauf, ich werde keinen machen. Darf ich Ihnen einen Cocktail anbieten?«

Bliss lächelte grimmig und schüttelte den Kopf.

Sie saß auf der Lehne eines großen, prachtvollen Sessels, legte den Kopf auf die Seite und sah ihn spöttisch an.

»Anstatt mir solche Moralpauken zu halten, sollten sie mich eigentlich um Unterstützung bitten. Ich glaube, ich bin die einzige Person in London, die den Hexer fangen könnte!«

Er ärgerte sich über diese Anzüglichkeit. In der letzten Zeit hatte der Hexer wieder viel von sich reden gemacht, ohne daß die Polizei auch nur den geringsten Erfolg buchen konnte.

»Passen Sie nur auf, daß er Sie nicht faßt«, erwiderte er etwas lahm.

»Um Himmels willen, meinen Sie, der Hexer könnte mir etwas anhaben? Glauben Sie mir, Mr. Bliss, wenn in Scotland Yard Frauen wie ich säßen, wäre er schon vor Jahren gefaßt worden. Ich wünschte nur, er würde einmal mit mir anbinden – sehen Sie her!«

Sie ging zum Kamin und blieb dicht davor stehen.

Er konnte deshalb nicht bemerken, daß sie eine kleine Tür in der Marmorumrahmung öffnete. Als sie sich wieder umdrehte, hielt sie einen Browning in der Hand.

»Haben Sie einen Waffenschein?« fragte er schroff, aber sie lachte ihn nur aus.

»Seien Sie doch vernünftig. Natürlich habe ich einen. Aber viel wichtiger ist, daß ich tatsächlich mit einer Pistole umgehen kann. Ich war mit einem Farmer verheiratet und habe zwei Jahre in Australien gelebt. Wir wohnten in einer einsamen Gegend, und er hat mir das Schießen beigebracht. Was bekomme ich, wenn ich Ihnen den Hexer fange – eine Medaille?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wir werden gnädig mit Ihnen verfahren, wenn Sie vor dem Richter stehen.«

*

Sechs Monate später machte Lou doch einen großen Fehler. Mr. Bayford war noch jung und unternehmungslustig, obwohl er mit der jüngsten Tochter Lord Rendleshams verlobt war. Zufällig lernte er Lou kennen, und diese schöne Frau bezauberte ihn sofort. Ihre Einladung, zum Tee zu ihr zu kommen, schmeichelte ihm über alle Maßen. Allgemein galt der hübsche Mr. Bayford als unheimlich reich, da sein Vater Millionär war, aber er wurde mit Geld sehr kurz gehalten und wußte genau, daß sein Vater ihm keine größeren Summen zur Verfügung stellen würde.

Als Lou ihre große Szene aufführte und einen Scheck über zehntausend Pfund forderte, fiel er aus allen Wolken und konnte kaum noch klar denken.

»Sie unverschämte Person! Das ist ja schamlos! Ich habe Ihnen das Kleid doch nicht zerrissen – ich habe Sie nur geküßt! Sie sind wohl ganz verrückt, daß Sie so etwas behaupten wollen!«

Seine Worte ließen sie kalt und gleichgültig.

»Wo soll ich denn zehntausend Pfund hernehmen? Ich habe doch keine zehntausend Pfund ...«

Aber plötzlich erinnerte er sich, daß sein zukünftiger Schwiegervater gerade an diesem Tag zehntausend Pfund auf sein Bankkonto überwiesen hatte. Damit wollte er eine Teilhaberschaft kaufen. Im ganzen sollten zwanzigtausend Pfund eingezahlt werden, und sein Vater wollte morgen die andere Hälfte zahlen. Lou hatte sich eingehend über die finanzielle Lage ihres Opfers informiert.

»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn! Ich kenne Ihr Bankguthaben genau. Sie haben über elftausend Pfund auf Ihrem Konto bei der Western-Bank.«

Mr. Bayford hatte sich so weit gesammelt, daß er überlegen konnte. Jetzt erst erkannte er die verzweifelte Situation, in der er sich befand. Mit seinem Vater stand er nicht besonders gut, und der alte Herr hatte schon die Absicht geäußert, sein Vermögen einer wohltätigen Gesellschaft zu vermachen. Außerdem nahm Lord Rendlesham derartige Angelegenheiten sehr ernst, denn er beklagte sich dauernd über den Verfall der Moral. Und seine Braut liebte ihn zwar, aber wenn sie von dieser Affäre erfuhr, würde sie sicher sofort die Verlobung lösen.

All dies fiel ihm schwer auf die Seele. Er wurde bleich und nervös und stellte schließlich den Scheck in der gewünschten Höhe aus. Lou hielt ihn noch so lange in der Wohnung zurück, bis die Zofe das Geld von der Bank geholt hatte.

In der Zwischenzeit sagte er ihr, was er von ihr hielt, aber sie wußte bereits auswendig, was Männer in einem derartigen Fall zu sagen pflegen, und gab sich keine weitere Mühe, seine erregten Worte anzuhören.

Sie hielt es auch nicht für der Mühe wert, ihren eigenen Standpunkt ihm gegenüber zu vertreten und ihre Handlungsweise zu rechtfertigen. Ihrer Meinung nach waren die Männer geborene Räuber und Banditen, die rücksichts- und skrupellos die Ehre der Frauen zerstörten. Sie wollte deshalb ihr Geschlecht an den Männern rächen. Aber das hatte sie schon so oft gesagt, daß es ihr zu langweilig wurde.

»Ja, Sie sind in einer verteufelt unangenehmen Lage«, meinte sie schließlich. »Wenn Sie wollen, können Sie ja zur Polizei gehen oder sich an den Hexer wenden. Der nimmt sich ja immer der bedrängten Unschuld an. Ich würde ihm doch zu gern einmal begegnen!«

Nach einer Weile kam die Zofe wieder, und Mr. Bayford wurde entlassen.

Mr. Bayford wankte auf die belebte Straße hinaus und ging ziellos nach Westen zu. An wen sollte er sich in seiner Not wenden? An seinen Vater?

Er schauderte bei diesem Gedanken. Ebensowenig Verständnis würde er bei Lord Rendlesham und seiner Tochter finden. Nein, zu diesen Leuten konnte er nicht gehen.

»Hallo, wie geht es Ihnen, Mr. Bayford?« fragte ihn plötzlich jemand.

Er wandte sich verwundert um und starrte den Mann an, der freundlich die Hand auf seinen Arm legte.

»Ach, Mr. Marksen! Wie ist es Ihnen denn nach Ihrem Unfall ergangen? Hoffentlich haben Sie sich keine Erkältung geholt?«

Eine schwache Hoffnung tauchte in ihm auf. Vielleicht konnte ihn dieser Mann retten. Wenn man kostspielige Expeditionen ausrüstete, mußte man doch über ein großes Vermögen verfügen. Solche Leute hatten manchmal unheimliches Glück und fanden in versunkenen Städten Goldschätze. Mr. Marksen trug allerdings einen nicht gerade sehr eleganten Golfanzug, und auch seine Pfeife sah ziemlich alt aus. Außerdem hatte er sich in der letzten Zeit einen kleinen, blonden Schnurrbart wachsen lassen. Aber darin hatte Mr. Bayford unrecht. Mr. Marksen hatte auch schon vor dem Unfall einen kleinen Schnurrbart getragen, nur hatte er ihn bei dem unfreiwilligen Bad im Chausseegraben verloren.

»Sagen Sie, sind Sie nicht eben aus Lethley Court gekommen? Jemand hat mir noch vor ein paar Tagen gesagt, daß eine – bekannte Abenteuerin dort wohnt ... eine Dame ... na, mich geht die Sache ja nichts an.«

Bayford sah ihn verstört an.

»Eine – eine Dame?« fragte er mit stockender Stimme.

»Ja, wenn Sie sie so nennen wollen. Einer meiner Freunde ist wegen einer verhältnismäßig harmlosen Torheit in große Schwierigkeiten geraten. Glücklicherweise konnte ich ihm helfen. Aber das interessiert Sie sicher nicht ...«

Bayford war nicht nur interessiert, sondern direkt fasziniert. »Kommen Sie doch bitte mit zu mir«, sagte er dringend.

Mr. Marksen schaute auf seine Uhr und zögerte, bevor er zustimmte.

Bliss hatte wirklich recht, wenn er behauptete, daß der Hexer sich nicht nur verkleidete, sondern tatsächlich im Augenblick der Mann war, dessen Rolle er spielte. Seine unermüdlichen Nachforschungen hatten ihn auch auf Lous Spur gebracht. Er hatte vor dem Eingang von Lethley Court gestanden, als sie und ihr letztes Opfer vorfuhren. Da er aber ihre Methoden noch nicht genau kannte, hatte er die Zofe nicht beachtet, die fortging, um den Scheck zu kassieren. Als er jedoch Bayford blaß und verstört aus dem Haus kommen sah, wußte er, was geschehen war. Merkwürdigerweise erkannte er erst dann den jungen Mann wieder, der ihm vor einiger Zeit das Leben gerettet hatte.

Bayfords Wohnung lag in der Nähe, aber er begann erst zu erzählen, als sie sich im Wohnzimmer gegenübersaßen.

»Es ist mir etwas Unglaubliches passiert«, sagte er verzweifelt. »Ich habe mich in eine ganz gemeine Falle locken lassen – natürlich werden Sie denken, ich sei ein durchtriebener Gauner, aber ich schwöre Ihnen, daß ich nicht die leiseste Ahnung hatte, als ich die Einladung zum Tee annahm ... Sie verstehen doch, was ich sagen will?«

Glücklicherweise kannte Mr. Marksen die Zusammenhänge, denn aus der verworrenen Erzählung, die er zu hören bekam, hätte er sich unter gewöhnlichen Umständen kein Bild von dem Vorgefallenen machen können.

»Zehntausend Pfund – das ist allerdings eine hübsche Summe! Und das schlimmste ist, daß Ihnen das Geld nicht einmal gehörte. Nun, ich will auf jeden Fall versuchen, es für Sie zurückzubekommen.« Bayford sah ihn erstaunt an.

»Aber wie wollen Sie denn das machen?«

»Ich werde es von ihr verlangen. Heute abend noch sollen Sie einen Scheck bekommen. Und verlassen Sie sich darauf, daß er auch eingelöst wird.«

*

Lou verließ selten ihre Wohnung in der Grosvenor Street nach dem Abendessen, da sie kaum jemals Theater und mondäne Luxuslokale besuchte. Sie speiste stets zu Haus, meistens allein, manchmal allerdings auch mit einem ihrer Opfer.

Auch an diesem Abend blieb sie zu Haus, schrieb in ihrem hübschen Arbeitszimmer Schecks für Lieferanten aus und stellte Berechnungen an. Ihr Leben war sehr kostspielig und verschlang ungeheure Summen. Aber sie mußte ihren Haushalt in diesem Stil führen, um die reichen jungen Leute in Sicherheit zu wiegen.

Im Grunde war sie sogar recht sparsam und wirtschaftlich. Sie erpreßte ihre Opfer um große Beträge, aber sie führte genau Buch und war absolut frei von Verschwendungssucht. Sie trank nicht, rauchte selten, wettete und spielte nicht.

Sie wurde in ihrer Beschäftigung gestört, als einer der Diener eintrat und ihr den Marquis de Crevitte-Soligny meldete. Sie sah auf und schlug dann verwundert in ihrem Terminkalender nach, da sie sich diesen Besuch nicht erklären konnte.

»Der Marquis de Crevitte –? Führen Sie ihn herein.«

Vielleicht war er der Freund eines Bekannten, der zu ihr kam, weil er eine begeisterte Schilderung ihrer Persönlichkeit gehört hatte.

Sie kannte den großen, schlanken, weißhaarigen Herrn nicht, der sich galant vor ihr verneigte und ihr die Hand küßte. Er sah hübsch und interessant aus, trug einen kurzen grauen Schnurrbart und hielt sich militärisch aufrecht. In seinem Knopfloch steckte die Rosette der Ehrenlegion.

»Madame scheinen sich nicht auf mich besinnen zu können?« fragte er auf französisch.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, aber ich wüßte wirklich nicht, mein lieber Marquis –«

»Nun, das ist vorzüglich«, erwiderte er auf englisch, drehte sich langsam um, ging zur Tür und schloß ab.

Im nächsten Augenblick war sie am Kamin und öffnete das Geheimfach mit der Marmortür. Aber bevor sie die Pistole herausholen konnte, hörte sie seine Stimme.

»Lassen Sie die Pistole, wo sie ist. Ich habe hier eine Waffe in der Hand. Ich werde Sie nicht damit erschießen, aber wenn ich sie gebrauche, ist Ihr Gesicht derartig entstellt, daß Sie sich nach einem anderen Beruf umsehen müssen. Drehen Sie sich zu mir um.«

Sie gehorchte.

»Wer sind Sie denn?«

Er lächelte.

»Der Mann, dem Sie so gern einmal begegnen wollten – der Hexer!«

Sie starrte ihn ungläubig an.

»Was? Sie sind der Hexer? Dann haben Sie wohl eine Perücke aufgesetzt?«

Er nickte.

»Nehmen Sie Platz, liebe Kollegin! Sie haben meinen jungen Freund heute um zehntausend Pfund gebracht.«

Kein Muskel in ihrem Gesicht zuckte.

»Sie sprechen von Dingen, die ich nicht verstehe«, begann sie.

Er lachte leicht auf, legte die Waffe auf den Tisch, zog einen Stuhl herbei und ließ sich nieder.

»Die Sache scheint ja länger zu dauern, als ich dachte, Miss Ross.«

Diese Worte trafen sie, denn sie schrak zusammen.

»Ich tadle Sie nicht, weil Sie sich an charakterlosen Männern bereichern. Denen geschieht ganz recht, wenn sie ihr Geld verlieren. Und Sie haben sich Ihre Opfer bis jetzt mit derartiger Sorgfalt ausgesucht, daß ich Ihre Klugheit bewundere.«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Der Hexer ging mit einigen Schritten geräuschlos hin und drehte den Schlüssel um, ohne daß man etwas hören konnte.

»Herein!« rief Lou atemlos. Ihre Wangen hatten sich vor Aufregung gerötet, und ihre Augen glänzten triumphierend.

Der Diener Bennet trat ein.

»Chefinspektor Bliss von Scotland Yard«, meldete er.

Sie sah den Hexer durchdringend an. Er stand am Tisch, legte die Hand auf die Waffe und ließ sie gleich darauf unauffällig in der Tasche verschwinden.

»Lassen Sie Mr. Bliss näher treten«, sagte sie ruhig.

Bevor Milton ein Wort sagen konnte, öffnete sich die Tür weiter. Offenbar hatte Bliss schon draußen gewartet. Er sah von Lou zu dem tadellos gekleideten Fremden.

»Ich möchte nicht stören, Miss Makala. Was wir zu besprechen haben, ist nicht so eilig.«

»Aber bitte, treten Sie doch näher«, erwiderte der Hexer höflich. »Ich wollte sowieso gehen.«

»Bleiben Sie hier«, befahl sie. Sie stand jetzt dicht am Kamin und konnte den Browning herausziehen, wenn Bliss hereintrat und zwischen ihnen durchging.

Der Hexer zuckte leicht die Schultern. »Ganz wie Sie wünschen ...«

Chefinspektor Bliss grüßte ihn durch eine leichte Verbeugung.

Auch Milton verbeugte sich.

»Es ist ein glücklicher Zufall, daß ich Sie hier treffe«, meinte er, »denn ich möchte Sie in einer schwierigen Sache um Rat fragen. Ich kenne eine alte Dame, die in einer schönen Villa in Devonshire lebt. Sie glaubt, daß ihre Tochter mit dem berühmten Filmstar Stella Maris identisch ist. Aber das stimmt nicht. Ich frage Sie nun: Sollte man die alte Dame nicht besser aufklären und ihr sagen, ihre Tochter ist ... nun, was sie eben ist?«

Lou war kreidebleich geworden und setzte sich nieder.

»Ich weiß nicht, was mich das angehen sollte«, erwiderte Bliss unhöflich, wandte sich dann an Lou und sprach leise mit ihr. »Miss Makala, ich wollte nur von Ihnen hören, ob Sie jemals einen gewissen Mr. Marksen getroffen haben?«

Er beschrieb ihr den Mann kurz, aber sie verneinte.

»Die Polizei ist davon überzeugt, daß er der Hexer ist. Er hat in der letzten Zeit Nachforschungen nach Ihnen angestellt. Kennen Sie vielleicht einen Privatdetektiv dieses Namens?«

»Nein«, entgegnete sie entschieden.

Bliss wandte sich nach dem anderen Herrn um, der vor dem Spiegel stand und sich betrachtete.

»Wer ist das eigentlich?« fragte er leise.

»Der Marquis de Crevitte-Soligny«, erwiderte sie nach einer kurzen Pause. »Ich kenne ihn schon seit mehreren Jahren.«

Bliss gab ihr noch einige Instruktionen, was sie tun solle, wenn Mr. Marksen bei ihr Besuch mache, aber sie hörte kaum zu.

Kurz darauf verabschiedete sich der Chefinspektor, und die Haustür fiel hinter ihm ins Schloß.

»Also, jetzt wären wir soweit«, sagte der Hexer liebenswürdig. »Ich möchte Sie bitten, mir einen Scheck über zehntausend Pfund zugunsten Mr. Bayfords auszustellen.«

»Und wenn ich das nicht tue?«

Er sah ihr lächelnd ins Gesicht.

»Dann zwingen Sie mich dazu, zu Ihrer Mutter zu gehen und ihr einmal reinen Wein über Ihr Gewerbe einzuschenken«, erwiderte er höflich. »Sie wird sich ja gerade nicht sehr darüber freuen, wenn sie erfährt, daß Sie kein Filmstar, sondern eine ganz gemeine Erpresserin sind.«

Er hatte sie scharf angesehen und wußte, daß er das Spiel gewonnen hatte. Er hatte entdeckt, wie er die Erpresserin erpressen konnte.

*

»Es ist doch merkwürdig«, sagte Bliss, »daß sich Lou plötzlich vom Geschäft zurückgezogen hat. Sie hat all ihre Häuser und Besitzungen verkauft und wohnt jetzt irgendwo in Devonshire. Ich wette, sie hat Angst vor dem Hexer bekommen!«