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Der unheimliche Dr. Lutteur

Inhaltsverzeichnis


Mr. Mander hatte eine gute Freundin, aber Miss Carberry war doch nicht so zuvorkommend, wie er hätte wünschen mögen.

Er hielt Scotland Yard für den interessantesten Platz der Welt und sprach dauernd über seinen Beruf. Sie dagegen liebte die Operette und den Tanz und verkehrte gern in besseren Nachtklubs, wo die Orangeade, die nach den Schankstunden verabreicht wurde, auch tatsächlich Orangeade war. Wenn er von Verbrechen und Verbrechern sprach, langweilte sie sich, und wenn sie vom letzten Tanzturnier berichtete, versuchte er immer wieder, das Gespräch auf das alte Thema zurückzubringen.

Sie traf häufig einen eleganten fremden Herrn, der sie auch ins Theater und in die Nachtklubs mitgenommen hätte; aber er fürchtete, daß ihr guter Ruf darunter leiden könne. Sie dinierten deshalb in einem kleinen Restaurant zusammen. Sie nannte ihn Ernest, obwohl er nicht so hieß. Aber diese Tatsache war ihr unbekannt.

Um ein erfolgreicher Detektiv zu sein, braucht man im Grunde keinen überragenden Verstand, man muß aber die Fähigkeit haben, sich in die Seele und in den Zustand des Mannes zu versetzen, den man fangen will. Die größten Detektive sind immer diejenigen gewesen, die sich vollständig der Denkweise ihrer Gegner anpassen konnten. Chefinspektor Bliss hatte Mr. Mander hierüber einen kleinen Vortrag gehalten.

»Es ist eben schlimm, daß Sie versuchen, besonders klug zu sein. Viel besser wäre es, wenn Sie nur Ihre fünf gesunden Sinne brauchten und sich überlegten, was Sie an Stelle des Verbrechers tun würden, der sein Ziel erreichen will. Statt dessen vergeuden Sie Ihre Zeit mit dem Aushecken verrückter Theorien und lassen sich dabei von alten Detektivschmökern anregen, die vor fünfundzwanzig Jahren einmal gelesen wurden. Es wäre viel gescheiter, Sie schliefen in dieser Zeit.«

Mr. Mander machte ein dummes Gesicht.

»Der Verbrecher, den ich augenblicklich suche«, fuhr Bliss rücksichtslos fort, »trägt weder Abendkleidung noch bewegt er sich in den vornehmen Lokalen im Westen. Er verkehrt in ›Elephant and Castle‹ und Sie brauchen Ihren Verstand nicht übermäßig anzustrengen, um Theorien auszuknobeln. Sie müssen nur gut zuhören, denn Libby ist ein Mann, der seine Abenteuer überall zum besten gibt.«

»Ich war im Augenblick nicht damit beschäftigt, Libby zu suchen«, verteidigte sich Mander. »Meiner Meinung nach ist der Hexer –«

Bliss seufzte verzweifelt.

»Libby ist ein ganz gewöhnlicher Verbrecher der einfacheren Klasse. Er ist ein Falschmünzer und schon zehnmal vorbestraft. Wenn Sie unter dem Eindruck leben, daß der Hexer auch nur das geringste mit ihm zu tun hat, dann irren Sie sich schwer.«

Aber hierin täuschte sich Bliss in gewisser Weise.

Henry Arthur Milton kümmerte sich gerade um diese schwer arbeitenden Menschen, die der Unterwelt angehörten. Er liebte sie nicht und verabscheute sie ebenso wie Chefinspektor Bliss. Aber er beobachtete sie.

Der Hexer wohnte zu der Zeit in einem Haus in der Enther Street in Lambeth. Sein möbliertes Zimmer war größer, als diese Räume zu sein pflegen, und zeichnete sich vor allem durch tadellose Sauberkeit aus, da seine Wirtin fast den ganzen Tag putzte und fegte. Mrs. Kilford war Witwe und hatte zwei Töchter. Nelly, die ältere, war sehr schön und auch neugierig. Daß sie schön war, wußte Henry Arthur Milton längst, und daß sie auch neugierig sein konnte, entdeckte er. als sie ihm eines Morgens den Tee brachte und dabei etwas länger in der Tür stehenblieb, um ihm von ihren Erlebnissen zu erzählen.

»... er ist viel älter als ich, aber er hat einen sehr vornehmen Charakter. Mutter sagt, er solle doch ins Haus kommen, aber das will er nicht. Er ist entsetzlich scheu.«

»Soso, er wird also verlegen und errötet, wenn man ihn ansieht?« meinte der Hexer vergnügt.

Er hatte augenblicklich nichts Besonderes vor. Er mußte sich nur vor der Polizei verstecken, die ihn so dringend suchte. Für die Liebesgeschichten dieses Mädchens interessierte er sich durchaus nicht. Bedeutend wichtiger erschien es ihm, daß gerade ihm gegenüber ein gewisser Libby wohnte, der falsches Geld machte. Der Hexer hatte eine besondere Abneigung gegen ihn, weil er Zweieinhalbshillingstücke fälschte. Und die kleinen Händler und andere Leute, die der Mann damit hereinlegte, traf ein Verlust von zweieinhalb Shilling schon schwer genug.

Als er eines Abends spät nach Hause zurückkehrte, sah er Nelly an der Ecke der Straße, in der er wohnte. Sie sprach mit einem Herrn, der einen Kopf größer war als sie. Als er vorüberging, wandte sich der Mann ab, so daß er sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte.

»Aber ich habe doch noch nie eine Stelle als Dienstmädchen gehabt«, sagte Nelly gerade, als er vorbeikam.

Eine Woche später erzählte ihm Mrs. Kilford unter Tränen, daß Nelly von zu Hause fortgelaufen sei und einen Mr. Hackitt geheiratet habe. Der einzige Trost für sie war, soweit der Hexer herausbringen konnte, daß die Ehe in allen Ehren vor dem Standesamt geschlossen worden war.

Zu seinem größten Erstaunen hörte Milton, daß das junge Paar die Flitterwochen in Paris zubringen wolle.

Der Hexer hatte keine Zeit für die Liebesabenteuer Nellys und wandte seine volle Aufmerksamkeit der Tätigkeit Libbys zu. Er wollte keineswegs das Gesetz als solches außer Kraft setzen. Wenn ein Verbrecher eine Untat beging, für die ihn das Gericht genügend strafen konnte, war Milton zufrieden, wenn Scotland Yard in Tätigkeit gesetzt wurde. Eines Abends verhaftete die Polizei Mr. Libby. In seiner Werkstatt fand man eine Anzahl vorzüglich geschnittener Stahlstempel und Galvanos. Als die Angelegenheit durch Verhöre geklärt worden war, entschied sich Chefinspektor Bliss dafür, die Nachbarschaft abzusuchen, denn er wußte, daß der Hexer dort in der Nähe wohnte. Aber Henry Arthur Milton hatte das vorausgesehen und war verschwunden.

Eines Abends zwischen elf und zwölf sah er auf dem Strand den geheimnisvollen Liebhaber Nellys. Die Theater waren gerade zu Ende, und die Leute befanden sich auf dem Heimweg.

Mr. Hackitt hatte kein Recht, in London zu sein, im Gegenteil, er mußte seine Flitterwochen mit Nelly in Paris verbringen. Es war auch erstaunlich, daß er einen Zylinder und vornehme Kleidung trug und außerdem eine Dame begleitete, die nicht Nelly war.

Da der Hexer auch über die Privatangelegenheiten seiner Gegner gut unterrichtet war, erkannte er in der Dame Miss Carberry wieder, Inspektor Manders Freundin.

»Das ist ja äußerst interessant«, sagte er vor sich hin.

*

Ein paar Tage später verlegte er den Schauplatz seiner Tätigkeit nach Esher.

Das Sanatorium, das Dr. Lutteur in der Nähe dieses Dorfes unterhielt, war ein sehr praktischer, wenn auch einfacher Bau, der in einem großen Park lag. Wenn der Doktor auch nicht viele Patienten hatte; so stammten sie doch aus sehr guten Kreisen. Er besaß ein freundliches Wesen und tat alles, um seinen Kranken den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen. Es gab wenig Anstalten, die so komfortabel und modern eingerichtet waren wie sein Sanatorium. Dr. Lutteur war reich und unverheiratet und kümmerte sich eigentlich nur um seine Arbeit. Seine Patienten und die wenigen Menschen, die zu dem Sanatorium Zutritt hatten, schätzten ihn sehr.

Er konnte es sich leisten, sich die Leute auszusuchen, und wenn er solche wählte, die ihm am wenigsten Arbeit machten, konnte man ihm daraus schließlich keinen Vorwurf machen.

Mr. Ross war ein neuer Patient. Dr. Lutteur hätte ihn kaum von sich aus zugelassen, da der Mann ein zwar herzliches, aber lautes Wesen hatte.

»Meine Tante war vor fünf Jahren bei Ihnen im Sanatorium, und sie schrieb mir nach Südafrika, daß Sie sich mehr und besser um sie gekümmert hätten als irgendein anderer Arzt, den sie vorher konsultiert hatte. Deshalb bin ich jetzt auch zu Ihnen gekommen.«

Mr. Ross hatte einen Nervenzusammenbruch auf dem Dampfer gehabt, und sein Zustand war auf der Reise so bedenklich geworden, daß der Kapitän ihn beinahe in Madeira an Land gesetzt hätte.

»Auf Geld kommt es mir nicht an, und Sie haben auch keine Unannehmlichkeiten durch Besucher, wenn Sie mich in Ihre Anstalt aufnehmen. Ich kenne niemand in England.«

Man sah ihm an, daß er sehr nervös war. Seine Hände zitterten, und seine Gesichtsmuskeln zuckten. Dr. Lutteur hielt das für die Folgen schwerer Trunksucht.

Trotzdem gab er dem Mann ein Zimmer, schrieb ihm eine bestimmte Diät vor und war angenehm überrascht, als Mr. Ross ruhig im Bett blieb, Zeitungen las und keine Neigung zeigte, die anderen Patienten in ihrer Ruhe zu stören.

Es waren noch drei andere Kranke in demselben Stockwerk untergebracht, unter ihnen eine ältere Dame, die bereits zwei Jahre in der Pflege Dr. Lutteurs war. Mr. Ross beobachtete sie einmal im Garten. Sie sah bleich und ernst aus und betrachtete ihn argwöhnisch. Einem der Gärtner, der sie angefahren hatte, weil sie Blumen abgepflückt hatte, war vom Doktor gekündigt worden. Er erzählte Mr. Ross ausführlich, daß es eine gewisse Miss Alicia Timms sei.

Mr. Ross war vier Tage in der Anstalt, als eines Nachmittags Besuch kam. Die Patienten ruhten sich gerade in verschiedenen Teilen des Parks aus. Auch Mr. Ross war eingenickt, denn das warme Wetter und die frische Frühlingsluft taten das ihre, um ihn nach einer guten Mahlzeit einzuschläfern.

Das Arbeitszimmer des Doktors befand sich unter seinem Zimmer, und die schrille Stimme einer Frau weckte ihn. Sie protestierte gegen etwas, und der Doktor verwies sie zur Ruhe. Dann unterhielten sie sich in gedämpftem Ton.

Mr. Ross war an dem Tage aufgestanden und hatte angekleidet auf dem Bett gelegen. Er nahm jetzt ein Buch und seine Brille und ging in den Park. Von dort aus sah er, wie das Auto der Anstalt den Besuch zur Bahn brachte. Die anderen Patienten schliefen fast alle, aber der entlassene Gärtner begegnete ihm nach einer Weile.

»Ich bin gar nicht traurig, daß ich gehen muß«, meinte er. »Man sieht immer nur alte Leute, und meistens dauert es gar nicht lange, bis sie sterben. Wir haben nur einen einzigen Patienten hier gehabt, der nicht das Zeitliche segnete.«

»Na, das sind ja düstere Aussichten, alter Freund«, entgegnete Mr. Ross.

»Natürlich sterben sie, weil sie alt sind. Ewig kann der Mensch ja nicht leben. Ich halte ihn für einen recht guten Arzt, und bis jetzt ist es eben noch nicht gelungen, alte Leute wieder jung zu machen. Der einzige, der hier nicht starb, war ein alter Herr, den seine Verwandten wieder abholten. Und die Leute wissen auch, daß sie nicht mehr lange zu leben haben. Sie machen immer ihr Testament, wenn sie hier sind.

Sehen Sie dort Miss Timms? Sie hat unheimlich viel Geld, und das hinterläßt sie alles ihrem früheren Mädchen, das sie gepflegt hat. Ich weiß es zufällig, weil ich das Testament als Zeuge unterschrieben habe. Ich habe es mir genau ansehen können, denn die alte Dame bekam einen Ohnmachtsanfall, als sie es unterzeichnet hatte.«

»Können Sie sich vielleicht noch auf den Namen des Mädchens besinnen?« fragte Mr. Ross gleichgültig.

»Ja. Sie hieß Hachett oder Hackitt oder so ähnlich. Die letzte alte Dame, die hier starb, vermachte ihr Geld übrigens auch einer Pflegerin. Den Namen habe ich allerdings vergessen. Ich weiß nur noch, daß sie ertrank, und zwar sechs Monate, nachdem sie die Erbschaft gemacht hatte. Dann war ein alter Herr hier, der vermachte ein Vermögen von fünfzigtausend Pfund einem Mädchen, weil er ihren Vater in seiner Jugend gut gekannt hatte.

Ich erzählte das der jungen Dame, die gestern hier einen Besuch machte, während der Doktor in Bagshot war Sie war sehr schön und ähnelte der Dame, die den Doktor vor ungefähr einer Stunde besuchte.«

Spät am Abend, als die Patienten schliefen oder wenigstens schlafen sollten, kam das junge Mädchen, das schon am Nachmittag in der Anstalt gewesen war, wieder in das Haus zurück. Mr. Ross lag der Länge nach auf dem Fußboden und hatte ein kleines Hörgerät am Ohr angebracht. Er lauschte mit dem größten Interesse der mehr oder weniger verworrenen Unterhaltung, die im Zimmer unter ihm geführt wurde.

»... Du magst mich für neugierig halten, aber ich habe jetzt alles herausgebracht ... Ich bin dir bis zum Waterloo-Bahnhof gefolgt ... Was hat das alles denn nur zu bedeuten?«

Später schien sie nicht mehr so stürmisch zu sein und zu widersprechen. Es mußte wohl zu einer Verständigung zwischen ihr und dem Doktor gekommen sein. Mr. Ross hörte noch die Worte: »Kleines Haus«.

Er hatte den Zusammenhang nicht ganz verstanden, denn er war überrascht, als er nach drei Tagen erfuhr, daß der Doktor eine Geschäftsreise nach Paris machen mußte.

Eine Stunde später verließ auch er das Sanatorium, aber es dauerte lange, bis er den Aufenthalt des Doktors feststellen konnte.

Die Ruhe der Enther Street in Lambeth wurde eines Nachts um zwei Uhr durch einen lauten Schrei gestört. In dieser traurigen Gegend war ein Schrei um diese Zeit kein außerordentliches Ereignis. An der Ecke der Straße hatten sich zwei Polizisten getroffen, deren Reviere hier zusammenstießen. Sie rauchten ganz gegen die Dienstvorschrift, und einer drehte sich nach der Richtung um, aus der der Schrei gekommen war.

»Da wird jemand verprügelt«, bemerkte er nur kurz.

Sie warteten auf weitere Schreie, aber die blieben aus. Das war ungewöhnlich. Ein Schreckensruf, dem keine weiteren folgten, hatte meistens keine gute Bedeutung.

Die beiden Polizisten gingen langsam die Straße entlang. Sie sahen ein offenes Fenster, aus dem jemand herausschaute.

»Im nächsten Haus«, sagte der Mann. »Das ist das erstemal, daß man etwas von den beiden Leuten hört, seitdem sie hier sind. Warten Sie einen Augenblick, ich komme gleich hinunter.«

Die Beamten waren an derartige Mitteilungen von Seiten der Hausbewohner gewöhnt. Gleich darauf kam der Mann heraus. Er hatte inzwischen einen Mantel angezogen.

»Im Nebenhaus wohnt ein Mann mit einer Frau zusammen. Sie sind erst vorigen Monat eingezogen. Nur meine Frau hat es gesehen. Sie brachten ihre Möbel eines Abends her, als es regnete. Aber bis jetzt hat man weiter noch nichts von ihnen gehört.«

Einer der Polizisten betrachtete die Front des Hauses, das zwei Stockwerke hatte. Ein großer Mann mit einer Angelrute hätte die Dachrinne erreichen können. Oben waren zwei Fenster und unten eine Tür und ein Fenster.

»Ja, aber wir können den Leuten doch nichts anhaben, weil sie nicht aus ihrem Haus herauskommen«, meinte er nachdenklich.

Der Nachbar mußte ihm recht geben. Er wäre auch wahrscheinlich wieder zu Bett gegangen, und die Polizisten hätten weitergeraucht, wenn der zweite Beamte nicht in diesem Augenblick im oberen Fenster Licht bemerkt hätte. Es flackerte hin und her, war bald heller, bald dunkler.

»In dem Zimmer brennt es«, sagte er, nahm seinen Gummiknüppel von der Seite und hämmerte damit gegen die Haustür.

Die Straße wurde bald lebendig. Eine Türfüllung brach ein. Als der Polizist durchfaßte und aufschloß, schlug ihm eine Rauchwolke entgegen.

»Sieh zu, daß die Leute aus den Nachbarhäusern geweckt werden«, rief er seinem Kollegen zu. »Sie, junge Frau, laufen Sie mal schnell und alarmieren Sie die Feuerwehr!«

Er selbst ging in das Haus, tastete sich die Treppe hinauf und stieß die Tür zum Vorderzimmer auf. Die Hitze der Flammen trieb ihn erst zurück, aber als er eine Frau in dem brennenden Bett liegen sah, nahm er alle Kraft zusammen, und es gelang ihm, sie aus dem Raum zu ziehen.

Es war eine fast übermenschliche Anstrengung, sie die Treppe hinunterzutragen, denn der Rauch erstickte ihn beinahe. Als er ins Freie wankte, rasten gerade die Wagen der Feuerwehr heran. Ein Krankenauto folgte einige Minuten später und brachte die Frau zum nächsten Krankenhaus. Sie lebte noch, trotz einer schrecklichen Schnittwunde in der Seite, aber kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus starb sie. Sie war noch jung und sehr schön.

Der Polizist telefonierte an seinen Vorgesetzten, und Inspektor Mander berichtete Bliss am nächsten Morgen.

»Es ist ein ganz gewöhnlicher Fall. Ein gewisser Brown hat seine Frau erstochen, und während des Streites muß die Lampe umgestürzt sein. Brown ist noch nicht verhaftet worden, aber wir haben seine Personalbeschreibung überall zirkulieren lassen.«

Bliss hatte bereits die Meldung des Polizeiinspektors gelesen, in dessen Revier sich das Unglück zugetragen hatte.

»Es weiß niemand, ob der Mann Brown heißt, es hat ihn niemand gesehen, und der Fußboden war mit Petroleum getränkt. Abgesehen von diesen Tatsachen stimmt Ihr Bericht ja einigermaßen. Es ist besser, daß Inspektor Lindon den Fall bearbeitet. Er gehört ja sowieso zu seinem Bezirk.«

Den ganzen Tag suchten Detektive und Feuerwehrleute unter den rauchenden Trümmern nach dem vermißten Mann. Aber der hielt sich ganz woanders auf und ließ es sich gutgehen.

Dr. Lutteur saß in seinem Arbeitszimmer, rauchte und las in einem großen medizinischen Werk. Nach einer Weile schloß er das Buch, stellte es in ein Regal und nahm einen Bogen Aktenpapier aus einer Schublade. Er las das Schreiben durch und klingelte. Kurz darauf erschien eine Pflegerin.

»Ach, Schwester, Miss Timms läßt mir keine Ruhe mehr. Sie will ein neues Testament machen.«

»Sie hat doch erst vor einem Monat ihren Letzten Willen aufgesetzt? Hat sie nicht ihr ganzes Geld einer gewissen Mrs. Hackitt vermacht?«

Er nickte. »Offenbar hat sie ihre Ansicht wieder geändert. Sie möchte jetzt ihr Vermögen der Tochter einer alten Freundin, einer Miss Carberry, hinterlassen, und ich habe ein Testament nach ihren Wünschen aufgesetzt. Würden Sie so gut sein und als Zeugin unterschreiben?«

Sie sah ihn nachdenklich an.

»Miss Timms ist aber kaum in der Verfassung, ein Testament zu machen. Halten Sie es wirklich für gut?«

»Es macht ihr doch Freude. In ein paar Tagen wird sie wahrscheinlich wieder anderer Ansicht sein. Aber wir wollen nach oben gehen und ihre Unterschrift holen, solange sie wach ist. Die Nachtschwester kann ebenfalls unterschreiben.«

Die Uhr schlug eins. Der Doktor hatte das neue Testament in seinen Geldschrank eingeschlossen und wollte gerade zu Bett gehen, als ein Fremder an der Tür läutete. Er war mit drei Begleitern in einem Auto gekommen. Lutteur betrachtete das Gesicht des bärtigen Mannes, das ihm sehr bekannt vorkam.

»Ich bin Chefinspektor Bliss von Scotland Yard«, stellte sich der Beamte vor, »und ich möchte den Tod einer gewissen Mrs. Brown aufklären, die in der Enther Street in Lambeth ermordet wurde, ebenso den Tod zweier anderer Frauen, die von Ihren früheren Patientinnen große Vermögen erbten. Folgen Sie mir.«

Nach einigen Wochen wurde Dr. Lutteur zum Tode verurteilt, aber er konnte die Zusammenhänge immer noch nicht verstehen.

»Dr. Lutteur hatte sich ein einfaches Arbeitsschema zurechtgelegt«, erklärte Bliss Inspektor Mander. »Er unterhielt ein Sanatorium, und man kann nicht im mindesten nachweisen, daß die Patienten ermordet wurden, die dort starben. Sie starben eines natürlichen Todes, aber er wählte sie sehr sorgfältig aus. Das ganze Land hat er nach reichen älteren Damen abgesucht, die keine Verwandten hatten. Er überredete sie, in sein Sanatorium zu ziehen, wo er eine vorzügliche Bibliothek unterhielt. Natürlich zeigte er ihnen Fotos des herrlichen Parks und der komfortablen Krankenzimmer. Waren sie dann erst einmal dort, dann war der Rest ziemlich leicht.

Vor allem suchte er nach einer Erbin, der die Patientinnen ihr Vermögen vermachten. Durch seinen persönlichen Einfluß, vielleicht auch durch Betäubungsmittel brachte er dann seine Opfer dazu, ein Testament aufzusetzen und zu unterzeichnen. Ob er die Erbinnen jedesmal heiratete, habe ich nicht feststellen können, aber auf jeden Fall hat er die Tochter von Mrs. Kilford geheiratet. Er brachte sie um, als sie entdeckt hatte, wer er war. Sicher wäre er auch mit Miss Carberry so verfahren –«

»Carberry?« fragte Mander. »Ich kenne eine junge Dame dieses Namens. Aber wie haben Sie denn eigentlich das alles herausgebracht?«

»Ich habe einen Brief vom Hexer bekommen.«