Henry Arthur Milton ging an einem warmen Frühlingsabend am Themseufer entlang und rauchte eine Zigarre. Plötzlich bemerkte er einen ärmlich gekleideten Mann, der sich mit den Armen auf das Geländer stützte, in das dunkle Wasser starrte und sich dann aufrichtete. Sofort ergriff er ihn am Arm und riß ihn zurück.
»Wenn Sie ins Wasser gehen, muß ich Ihnen nachspringen«, sagte er liebenswürdig. »Ich werde dann furchtbar naß, und das ist sehr unangenehm. Außerdem ziehe ich die Aufmerksamkeit der Leute auf mich, was ich nicht im geringsten beabsichtige.«
Der Mann zitterte von Kopf bis Fuß. Sein hageres, unrasiertes Gesicht war eingefallen und sein abgenutzter Kragen ausgefranst.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, entgegnete er.
Seine Stimme verriet gute Erziehung und Bildung, aber die Worte kamen mechanisch aus seinem Mund. Allem Anschein nach war er ein Gentleman, denn nur ein solcher konnte das plötzliche Eingreifen eines anderen Menschen so ruhig hinnehmen.
»Begleiten Sie mich doch«, sagte der Hexer.
Der Fremde zögerte.
»Ich will kein Geld von Ihnen – auch keine Mildtätigkeit irgendwelcher Art.«
Henry Arthur Milton lachte leise.
»Ich habe auch gar nicht die Absicht, mich menschenfreundlich zu betätigen.«
Er war in sehr schlechter Stimmung, denn er ärgerte sich jedesmal, wenn die Zeitungen Briefe veröffentlichten, in denen sich die Leute beklagten, daß es der Polizei noch immer nicht gelungen sei, ihn festzunehmen. Heute morgen hatte er drei solcher Zuschriften in einem einzigen Blatt gelesen. Der Artikel, der ihn am meisten in Harnisch gebracht hatte, war von einem gewissen Ferdinand Goldford verfaßt, der in Crakehall, Bourne End, wohnte.
»Es ist vielleicht gut, wenn ich Ihnen sage, daß ich erst heute morgen aus dem Gefängnis entlassen wurde«, erklärte der fremde Mann. »Ich mußte eine Strafe von zwei Monaten absitzen, weil ich in ein Haus auf dem Lande eingebrochen war. Ich tat es, um mir mein Eigentum zu nehmen.«
»Sie sagten, daß Sie aus dem Gefängnis entlassen worden sind? Ich freue mich jedesmal bei dem Gedanken, daß ich noch nicht hineingekommen bin.«
Der Lebensmüde hieß Lopez Burt. Er war früher Offizier in einem Kavallerieregiment in Indien und der Erbe eines reichen, wenn auch exzentrischen Vaters gewesen. Die wunderlichen Neigungen des alten Burt nahmen jedoch während der Abwesenheit so ernste Formen an, daß er sein großes Vermögen den Kindern seines Schwagers hinterließ.
Lopez Burt hätte das Testament anfechten können, aber er entdeckte erst Monate später, daß sein Vater schon zwei Jahre vor seinem Tod ein verändertes Wesen an den Tag gelegt hatte. In dieser Zeit hatte der alte Mann auch seinen Neffen Ferdinand zu sich genommen und das neue Testament aufgesetzt.
»Ich mache meinem Vater keine Vorwürfe«, sagte Burt mit philosophischer Ruhe. »Der arme alte Herr hatte einen Unfall bei der Fuchsjagd und fiel vom Pferd. Dabei mußte er sich am Kopf verletzt haben. Später hat er seine vollen geistigen Fähigkeiten nie wieder zurückerlangt. Die Familie Goldford hat mir diese Tatsache natürlich verheimlicht –«
»Wie heißen Ihre Verwandten?« fragte der Hexer, der sich plötzlich sehr für den Fall interessierte. »Es sind doch nicht etwa die Goldfords von Crakehall, Bourne End?«
Lopez nickte.
»Ja. Bei ihnen habe ich auch eingebrochen«, erwiderte er beinahe heiter. »Es ging mir in der Armee sehr schlecht, ich geriet in Schulden, machte mir aber keine Sorgen, da ich ja immer annahm, eines Tages ein großes Vermögen zu erben. Aber als mein Vater starb und mir nichts hinterließ, kam ich in Schwierigkeiten und mußte den Dienst quittieren. Ich traf in England ein und hatte nur noch einen halben Shilling in der Tasche. Natürlich hatte ich nicht den geringsten Wunsch, die Goldfords wiederzusehen und sie um Unterstützung zu bitten. Deshalb hatte ich auch noch nichts davon gehört, daß die geistigen Fähigkeiten meines Vaters vor seinem Tod nachgelassen hatten. Als ich bei ihnen einbrach, befanden sie sich gerade im Ausland, und der Hauptzeuge gegen mich war der Hausmeister. Das klingt wie eine Geschichte, die ein alter Sträfling erfunden hat, um das Mitleid seiner Zuhörer zu erregen – finden Sie nicht auch?«
Der Hexer schüttelte den Kopf.
»Nein. Ich habe einige Zimmer im Adelphi. Wollen Sie mitkommen, ein Bad nehmen und etwas essen?«
»Nein«, erwiderte Burt entschieden.
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen einen Schlag auf die Nase zu versetzen«, sagte Milton traurig. »Ich bin sehr empfindlich, wenn Leute meine Einladungen ablehnen.«
Er hörte, wie Burt lachte.
»Nun gut, dann will ich Ihre Güte und Freundlichkeit in Anspruch nehmen. Ich bin so hungrig, daß ich vor Schwäche fast umfalle.«
*
Der Hexer hatte ein möblierte Wohnung von einem Herrn gemietet, der für ein Jahr nach Kanada gereist war. Die Flucht von Zimmern war in moderner Einfachheit und Schönheit ausgestattet. Überall lagen gediegene Teppiche, und die Wände zeigten zum Teil Stoffbespannung.
»So, hier ist das Badezimmer. – Nachher wäre es gut, wenn Sie etwas Leichtverdauliches äßen. Wie wäre es mit einigen belegten Butterbroten? Ich lasse mir jeden Tag einige aus dem Restaurant heraufschicken.«
Er suchte Anzug, Hemd, Kragen, ein Paar Schuhe und die übrigen Kleinigkeiten zusammen, die ein Mann braucht.
»Danken Sie mir, wenn Sie wieder herauskommen, aber machen Sie es kurz.«
Damit entfernte er sich, um Bettwäsche für das Fremdenzimmer herauszusuchen.
Später unterhielt er sich noch eingehend mit seinem Gast und ließ sich seine Geschichte in allen Einzelheiten erzählen. Bis zwei Uhr morgens hörte er geduldig zu, dann kam er endlich auf den Punkt zu sprechen, der ihn am meisten interessierte.
»Diese Goldfords scheinen also recht unangenehme Leute zu sein.« Er schaute nachdenklich zur Decke hinauf. »Sie haben wohl nichts mehr von Ihren früheren Habseligkeiten. Besitzen Sie vielleicht noch Briefe von Ihrem Vater?«
Lopez Burt sah ihn schnell an.
»Warum fragen Sie danach? Ich habe tatsächlich noch eine Menge Briefe von ihm. Sie liegen in einem Kasten bei meinem früheren Bankier.«
»Können Sie sich diese Briefe beschaffen?«
Burt betrachtete ihn erstaunt.
»Was haben Sie denn damit vor?«
Henry Arthur Milton streckte sich in seinem Stuhl aus und schaute an Burt vorbei.
»Ich bin in gewisser Weise hellsichtig. Diese Gabe haben mehr Menschen, als man ahnt. Als ich Sie sah, hatte ich sofort das Gefühl, daß Sie der Erbe eines großen Vermögens seien, und ich wunderte mich natürlich, daß ein Mann, der vom Schicksal so begünstigt war, sich das Leben nehmen wollte.«
»Aber das ist doch alles Unsinn, was Sie da sagen.«
Der Hexer neigte den Kopf und sah Burt freundlich an.
»Ja. Manchmal rede ich dummes Zeug. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie die gesetzlichen Vorschriften über das Erbrecht sind. Aber ich nehme an, daß Ihre Verwandten jetzt ein großes Vermögen besitzen und im Geld wühlen können. Wie hoch war denn die Erbschaft?«
»Siebzigtausend Pfund«, entgegnete Burt traurig und zuckte die Schultern. »Aber was kommt es jetzt noch darauf an?«
»Wie lauteten denn die Bestimmungen des Testaments?«
»Das Vermögen wurde zu drei gleichen Teilen den Geschwistern Goldford vererbt, und zwar Ferdinand, Lena und Anthony. Es war merkwürdig, daß die Namen in dem Testament nicht einzeln aufgeführt waren. Mein guter, alter Vater schrieb nur ›Ich vermache mein Vermögen den Kindern meines verstorbenen Schwagers Tobias Goldford‹, und daraus entwickelte sich ein Erbstreit.«
»Wieso?« fragte der Hexer schnell. »Ist das Testament denn irgendwie angefochten worden?«
»Ach, wir wollen lieber nicht mehr darüber sprechen«, sagte Burt müde.
»Im Gegenteil, wir wollen sehr viel darüber sprechen. Ist das Testament vom Gericht nicht anerkannt worden, oder was ist sonst geschehen?«
»Die Sache ist vor Gericht noch nicht geregelt. Ich glaubte, ich hätte eine Möglichkeit, das Testament anzufechten, aber ein Rechtsanwalt, den ich auf dem Weg nach London traf, sagte mir, daß ich absolut keine Aussichten hätte. Es gibt nämlich noch ein viertes Kind des verstorbenen Tobias Goldford, und zwar aus einer früheren Ehe. Das hatten sie ganz vergessen, als sie den alten Herrn überredeten, das Testament aufzusetzen. Der junge Mann war zu der Zeit in Südamerika, und er klagt jetzt vor Gericht um seinen Anteil an der Erbschaft. Tobias Goldford war in erster Ehe in Südamerika verheiratet, und aus dieser Ehe stammt der Sohn. Es mußten viele Zeugenaussagen beigebracht werden, und durch die weiten Entfernungen traten beträchtliche Verzögerungen ein. Natürlich waren die anderen Goldfords furchtbar wütend auf ihren Stiefbruder, und nun haben sie allerhand Prozesse gegeneinander angestrengt.«
»Was ist dieser Ferdinand Goldford für ein Mann?«
»Er ist ein großer Schuft.«
»Ich bin in diesem Augenblick tatsächlich hellsichtig«, sagte Henry Arthur Milton leise, und ein vergnügtes Lächeln ging über sein Gesicht.
Am nächsten Morgen stellte er schon sehr frühzeitig Nachforschungen an. Er sah eine Abschrift des Testaments ein, das zwei alte Diener Burts als Zeugen unterschrieben hatten. Es war drei Monate vor dem Tod des alten Herrn aufgesetzt worden.
»Wer waren denn die Zeugen?« fragte der Hexer, als er wieder nach Hause kam.
Burt hielt erstaunt mitten im Frühstück inne.
»Sie sind aber schon sehr früh an der Arbeit gewesen. Sie meinen die Leute, die als Zeugen fungierten?«
»Wo kann man sie finden?«
»Sie sind tot«, erwiderte Lopez ernst. »Sie haben meinen armen Vater nur um fünf Monate überlebt. Mein Rechtsanwalt sagte mir, daß ich vielleicht eine Chance hätte, wenn die beiden noch am Leben wären. Es waren nette alte Leute; sie kannten mich von meiner Kindheit an und schrieben mir regelmäßig nach Indien. Ich habe noch viele Briefe von ihnen –«
»Liegen die auch in dem Kasten bei der Bank?« erkundigte sich der Hexer interessiert.
Burt dachte nach.
»Ja, die müssen auch darin sein.«
»Das ist ja glänzend. Heute morgen noch gehen Sie hin, holen den Kasten und bringen ihn hierher.«
*
Eine Woche später stieg ein eleganter Herr in mittleren Jahren aus einem Luxuswagen, der vor Crakehall hielt.
Ferdinand, der gerade Golf spielte, eilte zum Haus, um den Besucher zu begrüßen.
»Guten Morgen«, sagte der fremde Herr. »Ich bin Colonel St. Vinnes. Ist Burt zu Hause?«
»Burt?« fragte Ferdie erstaunt. »Meinen Sie etwa meinen Vetter Lopez Burt? Großer Gott, ich dachte, seine Verhältnisse seien allgemein bekannt. Er ist in Indien in Schwierigkeiten gekommen und hat den Dienst quittieren müssen ...«
»Ich weiß, ich weiß. Aber das war vor der Lal-Singh-Affäre. Dieser Glückspilz! Wenn er aber jetzt seinen Reichtum auch wieder durchbringt, dann ist ihm wirklich nicht zu helfen. Ich dachte, er sei aus Amerika zurückgekehrt ...«
Ferdinand Goldford war nun äußerst interessiert, denn Geld spielte eine große Rolle in seinem Leben.
»Es ist doch sicher Lopez, von dem Sie sprechen?« fragte er, um sein Erstaunen zu verbergen. »Sie sagten, daß er eine Menge Geld hat? Wir haben lange nichts von ihm gehört.«
Der Colonel wunderte sich.
»Was, er ist nicht hier? Das ist aber schade.«
Seine Persönlichkeit machte großen Eindruck auf Ferdinand.
»Wollen Sie bitte näher treten?« lud er ihn ein.
Der Fremde folgte ihm durch die große Halle in das Wohnzimmer, wo er Ferdies Bruder und Schwester vorgestellt wurde. Sie sahen einander sehr ähnlich und hatten alle in gleicher Weise frische runde Gesichter und kleine blaue Augen.
»Ein Freund von unserem lieben Lopez«, erklärte Ferdinand laut, als ob er den Protest seiner Geschwister dadurch von vornherein erledigen wollte. »Das ist Colonel St. Vinnes. Der gute Lopez hat eine Menge Geld gemacht – in Amerika.«
Er hatte sehr schnell gesprochen, und die anderen betrachteten den Fremden argwöhnisch, als ob sie der Mitteilung nicht trauten. Es erschien ihnen ziemlich unmöglich, daß Lopez Geld verdient haben sollte.
»Wie kann ich denn mit ihm in Verbindung kommen?« fragte der Colonel und schaute auf die Uhr. »Ich habe ein Telegramm erhalten, daß er heute hier sein werde. Sehr lange kann ich nicht warten, da ich nach London zurückfahren muß. Darf ich vielleicht einen Brief für ihn zurücklassen?«
Ferdie Goldford zeigte sich in jeder Weise zuvorkommend.
»Selbstverständlich. Bitte kommen Sie mit, Colonel.«
Sie gingen den breiten Gang entlang, bis sie zu einem Zimmer kamen, dessen Wände von Bücherregalen verdeckt waren. »Dies war die Bibliothek unseres alten Onkels. Wir benutzen sie nicht. Hier ist ein Schreibtisch, und Tinte ist auch da. Aber vielleicht darf ich Ihnen meinen Füllfederhalter anbieten?«
Der Colonel hatte selbst einen, und Ferdie entfernte sich, um noch für Schreibpapier zu sorgen. Einige Minuten später kam er zurück und entschuldigte sich noch einmal, weil das Zimmer so selten betreten wurde.
»Es sind so viele Bücher hier, und es riecht so merkwürdig nach Staub. Wir können sie aber nicht eher hinausschaffen, als bis die Prozesse wegen des Testaments erledigt sind. Immerhin hoffe ich, daß in einigen Wochen alles geregelt sein wird.«
»Es scheint eine sehr wertvolle Bibliothek zu sein«, meinte St. Vinnes und schaute sich um.
Ferdie lächelte.
»Ach, es ist kaum ein Buch hier, das sich zu lesen lohnt.« Der Colonel schrieb seinen Brief, während Ferdie in der Nähe stand. Er hatte scharfe Augen und hätte mitlesen können, aber er gab sich keine große Mühe, den Inhalt des Schreibens im Augenblick zu entziffern. Man konnte ja den Umschlag leicht aufdämpfen, wenn der Colonel gegangen war. Und St. Vinnes hatte sich auch kaum empfohlen, als sich die drei zusammensetzten und den Brief lasen.
»Nichts, aber auch gar nichts kann man daraus ersehen«, erklärte Ferdinand.
Er schloß den Brief wieder und stellte ihn auf den Kamin, falls sein Vetter später kommen sollte.
*
»Was soll ich nun anfangen?« fragte Lopez Burt, als der Hexer abends zum Essen kam.
»Vorläufig verhalten Sie sich ganz ruhig. Mir macht dieses Abenteuer riesigen Spaß. Sind Sie beim Schneider gewesen?«
»Ja. Es ging mit der Konfektionskleidung besser, als ich dachte. Sie machen ein paar Änderungen und wollen die Anzüge noch heute schicken. Wissen Sie auch, daß ich schon beinahe hundert Pfund von Ihrem Geld ausgegeben habe?«
»Sie werden noch mehr ausgeben«, entgegnete der Hexer vergnügt. »Sobald Ihre Anzüge kommen, packen Sie sie hier in diesen eleganten Koffer, nehmen ein Taxi und fahren zum Ritz-Carlton. Ihre Zimmer habe ich bereits bestellt. Wenn Sie dort eingetroffen sind, schreiben Sie an Mr. Stenning, den alten Rechtsanwalt Ihrer Familie. Teilen Sie ihm mit, daß Sie eben angekommen seien und sich sehr freuten, wenn er an einem Abend mit Ihnen speisen würde. Ich kann Ihnen schon im voraus sagen, daß er nicht erscheinen wird, denn er geht nie aus. Ich habe ihm übrigens auch schon geschrieben.«
»Aber warum das alles?« fragte Lopez erstaunt.
»Sie haben versprochen, keine Fragen an mich zu stellen«, erwiderte Milton lächelnd. »Sie sollen nur den alten Herrn mit der Tatsache bekanntmachen, daß Sie verhältnismäßig luxuriös in London leben.«
Lopez schüttelte verwirrt den Kopf.
»Ich weiß gar nicht, was das alles bedeuten soll ...«
»Machen Sie auch nicht den Versuch, es zu erfahren. Sie haben weiter nichts zu tun, als zu warten, bis Sie Ihr Vermögen erhalten. Ich habe Mr. Goldford schon nicht leiden können, bevor ich ihn sah, und als ich ihn jetzt persönlich kennenlernte, war er mir noch unsympathischer. Ich habe einige Erkundigungen über ihn eingezogen. Gewisse Kaufleute sind sehr mitteilsam. Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß diese Menschen sich an Ihren Vater gehängt haben zu einer Zeit, als er ihrem Einfluß nicht widerstehen konnte. Ein glücklicher Umstand war es, daß kein Schreibpapier in der Bibliothek vorhanden war. Hätten ein paar Bogen auf dem Schreibtisch gelegen, so hätte ich meinen Besuch wiederholen müssen.«
»Ich verstehe wirklich die Zusammenhänge nicht, aber ich will keine Fragen mehr stellen. Sie haben mir so sehr geholfen, und ich weiß nicht, ob ich jemals in die Lage komme, Ihnen zu danken ...«
»Sicher kommen Sie in die Lage, mir auch einen Dienst zu erweisen. Vor allem mache ich es Ihnen zur Pflicht, nichts über mich zu erzählen. Hier haben Sie meine Pariser Adresse. Die müssen Sie gut aufbewahren. Sobald Sie Ihr Vermögen haben, schicken Sie mir sechstausend Pfund dorthin. Diese Summe betrachte ich als eine wohlverdiente Provision.«
»Da werden Sie aber noch sehr lange warten müssen, fürchte ich!«
»Ich glaube kaum«, entgegnete der Hexer geheimnisvoll.
Am nächsten Morgen erhielt Mr. Samuel Stenning, der Seniorpartner der gleichnamigen Rechtsanwaltsfirma, einen Brief, der an ihn persönlich gerichtet war. Schrift und Ausdruck waren schlecht, und einzelne Stellen hatte der Schreiber dick unterstrichen.
... Ich könnte Ihnen Dinge erzählen, die im Hause Mr. Burts vor sich gehen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehen. Ich weiß genau, was passierte, bevor er starb. Er schickte damals nach Mr. Brown und hatte eine lange Unterredung mit ihm ... und er war durchaus nicht übergeschnappt, wie die Leute sagen.
Er kam zur Bibliothek herunter, und ich sah, daß er etwas in die schwarze Bibel im dritten Regal legte. Ich wollte oft nachsehen, was es war, aber ich hatte nie Gelegenheit dazu. Ich wette aber, es war irgendein Schreiben, das mit den Goldfords zu tun hatte. Das sind ganz gemeine Leute, die nicht in einem solchen Haus wohnen sollten.
Der Brief trug die Unterschrift ›Ein Freund‹.
Mr. Stenning war daran gewöhnt, anonyme Schreiben zu erhalten, und er warf sie meistens in den Papierkorb. Aber auch er konnte die Goldfords nicht leiden und hatte sich gefreut, als der neue Erbe aus Südamerika auf der Bildfläche erschienen war.
Unglücklicherweise befand er sich gerade auf einem Krankheitsurlaub in Südfrankreich, als das Testament aufgesetzt wurde, und kannte daher die näheren Umstände nicht. Aber er war davon überzeugt, daß der alte Burt nicht in der Verfassung gewesen war, über sein Vermögen zu verfügen. Hätte er nur den geringsten Anhaltspunkt für eine Anfechtung des Testaments in der Hand gehabt, so hätte er Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um den unglücklichen Sohn Burts zu finden.
Es war nun ein merkwürdiger Zufall, daß er am selben Morgen einen Brief von Lopez Burt aus dem Ritz–Carlton erhielt.
»Wirklich sonderbar!« murmelte Mr. Stenning.
Den ganzen Tag dachte er über die Sache nach, und am folgenden Morgen ging er nicht ins Büro, sondern fuhr nach Bourne End. Mr. Goldford war über den Besuch nicht so überrascht, wie der Rechtsanwalt geglaubt hatte.
»Guten Morgen, Mr. Stenning. Haben Sie etwas von Lopez gesehen?«
»Er ist in London«, entgegnete Stenning, nun selbst verwundert. »Wußten Sie es denn schon?«
Ferdinand grinste.
»Von ihm selbst habe ich noch nichts gehört. Aber gestern war ein Herr hier, der ihn sprechen wollte. Er hat einen Brief für ihn zurückgelassen. Vielleicht geben Sie ihm das Schreiben, wenn Sie ihn treffen. Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Das will ich nicht gerade behaupten. Aber ich habe eine Mitteilung bekommen, auf Grund deren ich handeln muß«, erklärte der Rechtsanwalt. »Haben Sie irgendwelche Dokumente Ihres Onkels gefunden?«
»Dokumente?« fragte Ferdie bestürzt. »Welche Dokumente sollten denn das sein?«
»Ist das Haus vollkommen durchsucht worden?«
»Wir haben den Schreibtisch und einige Truhen geöffnet, und fast alle Briefe, die wir gefunden haben, sind in Ihr Büro geschickt worden. Sonst war nichts vorhanden.«
»Kann ich mich einmal in der Bibliothek umsehen?«
Ferdinand zögerte einen Augenblick, aber dann willigte er ein.
Er ging voraus und mußte die Nachricht seinen Geschwistern mitgeteilt haben, denn als Mr. Stenning und sein Sekretär ins Wohnzimmer traten, wurden sie sehr kühl empfangen.
»Was ist das alles für ein Unsinn?« fragte Ferdinand aufgeregt. »Welche Dokumente sollte er denn hinterlassen haben? Ich weiß, daß Sie annehmen, er sei nicht mehr ganz bei Verstand gewesen, als er das Testament aufsetzte, aber das Schriftstück ist doch vorhanden und unterzeichnet. Und die Zeugen –«
»Die leben nicht mehr«, entgegnete Stenning trocken.
Ferdinand wurde rot vor Ärger.
»Das tut doch der Gültigkeit des Testaments keinen Abbruch. Selbstverständlich sind die beiden tot. Aber Sie haben sie doch noch gesehen, als sie lebten. Haben sie Ihnen nicht gesagt, daß Mr. Burt vollkommen normal war, als er das Testament aufsetzte?«
»Es hat doch keinen Zweck zu streiten, Ferdie«, mischte sich Miss Goldford mit schriller Stimme ein. »Wir wollen in die Bibliothek gehen und nachsehen.«
Der Rechtsanwalt und sein Sekretär begleiteten die Geschwister in den düsteren Raum. Stenning ging auf und ab und betrachtete die Bücher im dritten Regal genau. Schließlich nahm er die schwarze Bibel herunter.
»Ich habe eine Nachricht erhalten, daß etwas in diesem Buch liegt«, erklärte er.
Er legte es auf den Tisch, und als er es aufschlug, kam ein vergilbtes Stück Papier zum Vorschein. Ferdinand las die ersten Zeilen, und sein Gesicht wurde bleich.
»Mein Letzter Wille und Testament«, begann die Urkunde, die zweifellos in der merkwürdig kritzeligen Handschrift des alten Burt geschrieben war. »Alle früheren Testamente werden hiermit annulliert, besonders das eine, das ich am 17. Februar letzten Jahres aufsetzte und das ich jetzt weder für gerecht noch für billig halte. Ich vermache hiermit mein ganzes Eigentum Lopez Henry Martin Burt, meinem lieben Sohn.«
Die Unterschrift war richtig, desgleichen stimmten die Namenszüge der Zeugen, die auch schon das Testament zugunsten der Goldfords unterzeichnet hatten. Zeitlich lag nur ein Unterschied von drei Wochen zwischen der Aufstellung der beiden Testamente.
»Ich werde dieses Testament anfechten«, sagte Ferdinand bleich und zitternd. »Es ist eine Fälschung – das sind keine Zeugen.«
»Es sind dieselben, die das Testament unterzeichnet haben, das zu Ihren Gunsten lautet«, erwiderte Stenning ironisch. »Ich fürchte, die Auffindung dieses Schriftstücks wird eine große Änderung herbeiführen.«
Er steckte die Urkunde in die Tasche. Ferdinand war in großer Versuchung, sie ihm mit Gewalt abzunehmen, aber er beherrschte sich.
»Es ist eine Fälschung«, brüllte er. »Ich werde es anfechten, und wenn ich all mein Geld daransetzen sollte ...«
»Sie haben jetzt nicht mehr viel Geld auszugeben, Mr. Goldford«, entgegnete der Rechtsanwalt ruhig.
*
Sieben Monate später schickte Lopez Burt einen Scheck über sechstausend Pfund mit einem Brief nach Paris.
»Ich weiß nicht, wie alles gekommen ist«, schrieb er an Henry Arthur Milton, »aber das Gericht hat meine Klage anerkannt. Es ist mir noch vollständig schleierhaft, wie Sie zu der Kenntnis kamen, daß ein anderes Testament existierte. Das Schriftstück ist zweifellos von meinem Vater geschrieben, und ich könnte einen Eid darauf leisten, daß auch die Unterschriften der beiden Zeugen echt sind. Sie entsinnen sich doch noch, daß ich den Kasten von der Bank holte, in dem Briefe meines Vaters und auch der beiden Dienstboten lagen. Wenn Sie die mit dem Testament hätten vergleichen können, hätten Sie selbst zugeben müssen, daß nicht der geringste Zweifel an der Echtheit des Schriftstücks bestehen kann.«
Der Hexer freute sich sehr über diese Nachricht. Er war stolz auf seine Kunst, Handschriften nachzuahmen, und dieses Testament hatte er in vier Stunden gefälscht. Das war wirklich eine Leistung.