11. Kapitel

Inhaltsverzeichnis


Ich muß die beiden Beamten kurz beschreiben, da sie in der Geschichte der Lahore-Vase noch weiter eine Rolle spielen.

Ihle sah sehr jung aus. Jünger als Tory. Freilich – Tory machte ja stets einen weit älteren Eindruck infolge seiner gleichmäßigen Abgeklärtheit.

Ihle hatte ein paar Schmisse auf der Wange und trug einen Kneifer ohne Einfassung auf der messerscharfen Hakennase. Die Augen hinter den Gläsern waren müde und schläfrig.

Einen Kopf kleiner als der mittelgroße Kommissar war Justus Spengler. – Wenn ich sage, er sah aus wie ein total abstinenter und sehr magerer, glatt rasierter Küster, so genügt das wohl. In seinem Gesicht war alles ‚gewöhnlich‘, wie es in der Paß-Sprache heißt.

Daß in diesem kleinen, unauffälligen Männchen, der früher mal Dorfschullehrer gewesen, wie ich zufällig erfuhr, und aus reiner Neigung zur Polizei übergetreten war, wo er von der Pike an dienen mußte, – daß in ihm etwas Besonderes steckte, merkte ich sehr bald.

Ihle begann die Unterredung damit, daß er mich fragte, ob nicht der Student Viktor Ruhnau bei mir wohne. Ich bejahte. – Er fragte weiter, wo Ruhnau sich jetzt befände.

Das war die erste Klippe. Aber ich umschiffte sie glücklich.

„Er ist heute nachmittag verreist. Wohin, auf wie lange weiß ich nicht. Ich glaube aber, es handelt sich um so ein kleines galantes Abenteuer.“

Ihle gab sich zufrieden.

„Sie haben doch sicher schon von dem Morde gehört, Herr Doktor,“ sagte er dann. „Der Tote ist ein Engländer namens Tompson.“

Ich nickte sehr eifrig. „Frau Schmitz hat es mir soeben erzählt, meine Mansardennachbarin im Nebenhause.“

„Ruhnau und Tompson waren ja wohl miteinander bekannt, Herr Doktor?“

„Ja. – Viktor wollte ihn heute Morgen noch im Bett überraschen, um die alte Bekanntschaft von Berlin her wieder aufzufrischen.“

„Ich weiß, Herr Doktor – von der Schmitz. – Sie selbst kennen Tompson nicht?“

„Nein.“

„Wann erfuhren Sie beide von dem Morde etwas?“

„Heute früh durch meine Aufwärterin.“

Ihle schaute zu Spengler hinüber. Der machte auch ein sehr enttäuschtes Gesicht.

„Also auch hier keinerlei Winke, keinerlei uns fördernde Angaben …!“ meinte der Kommissar leise aufseufzend. „Ich sage Ihnen, Herr Doktor, dies Verbrechen ist ein Sensationsfall – eben weil wir so völlig im Dunkeln tappen. Wie Blinde fühlen wir hierhin und dorthin – – finden nichts – nichts!“

Ich tat sehr interessiert. „Das klingt ja wenig verheißungsvoll, Herr Kommissar. Können Sie mir nicht näheres erzählen. Ich bin ja hauptsächlich Kriminalromanfabrikant in meiner Eigenschaft als Schriftsteller. Vielleicht lerne ich von Ihnen als Fachmann etwas dazu, erhalte Anregungen.“

Ihle zuckte die Achseln. „Dieser Mord zeigt so viel Seltsames, daß er für ein paar Romane Stoff gibt, denke ich. Stellen Sie sich vor: gestern, nein heute nacht gegen einhalb zwei Uhr morgens wirft ein Unbekannter einen mit Rundschrift geschriebenen Brief in das Dienstzimmer der Polizeiwache auf dem Fischmarkt und läuft davon. Der Brief meldet einen Mord an. Wir begeben uns nach dem uns näher bezeichneten Hause und Zimmer und finden tatsächlich einen Toten neben dem Kachelofen in einer Stahldrahtschlinge an der Wand hängen, finden eine Menge Spuren in dem Staube des Fußbodens, die sich jedoch nicht entwirren lassen, und hören von unserem Arzte, daß der Tote gewürgt wurde, einen Schlag auf den Hinterkopf erhalten hat und dann im bewußtlosen Zustände aufgeknüpft worden ist. –

Dieses Verbrechen muß gestern gegen Mitternacht verübt worden sein. Der Tatort ist ein Zimmer in einem seit Jahren leerstehenden, baufälligen Hause; das Gebäude Eigentum der Hypothekenbank; der Tote ein Ausländer, der angeblich in Geschäften hier weilte; der Mörder – fraglos der Schreiber des Rundschriftbriefes! – hat seinem Opfer alles geraubt, was Aufschluß über dessen Persönlichkeit hätte geben können. Ein reiner Zufall bringt uns heute Nachmittag einen Zeugen, der den Ermordeten erkennt. Es ist der Schließer der Nachtwachgesellschaft, zu dessen Revier auch der Pfeffergang gehört. Sonst würden wir vielleicht noch jetzt nicht wissen, wie das Opfer eigentlich heißt, wo es wohnt usw. … – Eine Durchsuchung der beiden Koffer des Toten fördert nicht das Geringste zu Tage, was irgendwie auch nur im entferntesten auf ein Motiv zu dem Verbrechen hinweist. Im Gegenteil, der Inhalt der Koffer Tompsons ist so unpersönlich wie nur möglich, alles neue Gegenstände – sowohl die Toilettenutensilien wie die Wäsche, die Kleider und sonstigen Kleinigkeiten. –

Kurz, man kann bei diesem Kriminalfall hinfassen wo man will, überall greift man sozusagen Quecksilber, alles zerrinnt zwischen den Fingern, entgleitet … –

Hm – nur etwas haben wir gefunden – etwas so recht für einen Kriminalroman: fünf Zeichnungen von Schmuckstücken, und zwar von zwei Haarreifen und drei Halsbändern! Diese Zeichnungen befinden sich auf einer Art Pergament und haben etwa Quartblattgröße. Sie waren eingehüllt – als zusammengebundene Rolle – in ein sehr feines, golddurchwirktes Gewebe. – Aber – sie helfen uns auch nicht weiter!“

Beinahe wäre es mir jetzt entfahren: ‚Kann ich die Zeichnungen einmal sehen?‘ Unwillkürlich hatte ich an das Geschmeide gedacht, das die blonde Madonna bei Katzenstein versetzt hatte. Es war nur eine ganz lose Ideenverbindung. Aber – sie regte mich doch etwas auf und hätte mich fast zu einer großen Unvorsichtigkeit verführt.

Nein – ich mußte so tun, als seien mir die Zeichnungen ganz gleichgültig – ich sagte daher nur: „Vielleicht war Tompson Juwelier, Herr Kommissar.“

„Ah, sehen Sie, auch Sie sprechen diese Vermutung aus!“ rief er lebhaft. „Justus Spengler will davon zwar nichts wissen, aber – ich werde doch recht behalten!“

Spengler saß scheinbar ganz teilnahmslos in seinem Sessel. Aber seine grauen Augen wanderten unablässig hin und her. Diesen Augen entging nichts. Sie lagen stets auf der Lauer. Schon Spenglers Schüler hatten darunter zu leiden gehabt und wurden stets bei jedem dummen Streich abgefaßt.

Spengler sagte jetzt bescheiden: „Der Tote ist meiner Meinung nach ein Inder, kein Europäer, wenn auch ein Inder mit sehr heller Hautfarbe, wie dies in Asien häufig gerade bei Abkömmlingen edler Geschlechter beobachtet worden ist. Die Zeichnungen stellen indische Schmuckstücke dar, sind alte Kunsterzeugnisse. Hinter diesem Morde steckt etwas ganz Besonderes!!“ Die letzten Worte betonte er stärker.

Ich aber starrte ihn ganz entgeistert an. – Ein Inder – indische Arbeiten! – hatte er behauptet. Und der Schmuck der Madonna war gleichfalls indischen Ursprungs gewesen …!!

Sofort mahnte aber auch die Vernunft: ‚Benimm dich nicht auffällig …! Du darfst nicht zeigen, daß gerade die Tatsache, daß es sich um Zeichnungen indischen Schmuckes handelt, dich interessiert …!‘

Ihle zuckte die Achseln. „Inder hin – Inder her …!! Was nützt es uns?! Es verwirrt die Sache nur noch!“ Und er seufzte wieder. Er war ehrgeizig, und zu gern hätte er sich durch die Aufdeckung dieses Falles hervorgetan.

Hiermit war das rein Dienstliche erledigt. Ihle wollte sich dann noch die Aussicht von meinem Balkon ansehen. Wir standen eine Weile draußen zwischen meinen Blumen. Spengler war drinnen im Arbeitszimmer geblieben. Leider …!! Während ich dem Kommissar stolz meine Radieschen zeigte, erntete der Wachtmeister andere Früchte – Früchte eines ungewöhnlichen Scharfsinns! –

Aber hiervon erfuhr ich erst später. – –

Ich war wieder allein … Und ich dachte an Tory. Ob er wirklich in einer Verkleidung nach Heubude gefahren war? Ob er die Madonna finden würde …?

Ich war jetzt heiterer, fühlte mich freier als zuvor. Von der Lahore-Vase ahnten die Beamten zum Glück nichts! Wie sollten sie auch?! Sie hatte ja in dem ehemaligen Kontorzimmer drüben nur eine Spur zurückgelassen, in dem Staube der Tischplatte einen Kreis dort, wo sie gestanden hatte, bevor der Mörder sie herunterhob um sie mitzunehmen.

Dann zuckte in meinem Geiste plötzlich die so naheliegende Frage auf: Wer hat die Vase überhaupt in das leere Haus gebracht, und zu welchem Zweck ist dies geschehen? – Ein so wertvolles Stück verbirgt man doch anderswo, selbst wenn es gestohlen ist, stellt es nicht auf einen Tisch in ein verschlossenes Zimmer in einem unbewohnten, ebenfalls wohl für gewöhnlich verschlossenen alten Gebäude …?!

Weiter eilten meine Gedanken, bauten allerlei Schlußfolgerungen auf aus Tatsachen, die wie die bunten Steine eines Steinbaukastens waren. Aber ich brachte nichts Gescheites zurecht mit meinem Kombinieren – gar nichts! Obwohl ich doch weit mehr wußte als Ihle und Spengler.

Dieser fruchtlosen Geistesarbeit machte das Bimmeln meiner Flurglocke ein Ende.

Ich ging öffnen.

Wachtmeister Spengler war’s …!!

„Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich, Herr Doktor?“ fragte er sehr höflich.

„Ja, bitte …!“ Das klang wohl recht zögernd.

Wieder saßen wir in meinem Arbeitszimmer. Spengler lehnte die Zigarre, die ich ihm anbot, dankend ab.

„Bin stets Nichtraucher gewesen und will es bleiben,“ meinte er. „Ich kaufe für das Geld lieber meinen Kindern Süßigkeiten. Und ich habe vier zu Hause, Herr Doktor! Bei den teuren Zeiten ein kleiner Luxus, die vier …! Aber – ich habe meine Freude dran! – Die Älteste sitzt bereits in der vierten Klasse und leistet sehr gutes. Sogar Zierschrift schreibt sie in der Vollendung, besonders Rundschrift.“

Rundschrift hatte er gesagt …!! – Ich fühlte die grauen Augen fast durchdringend auf mir ruhen …

Hätte ich mich doch nur besser beherrschen können! – Aber – ich war zusammengezuckt, und alle Energie half nichts, mir schoß das Blut ins Gesicht!

Schnell täuschte ich einen Hustenanfall vor … Oh – er gelang kläglich … kläglich!

Und Spengler sprach weiter …

„Schreiben Sie eigentlich auch Rundschrift, Herr Doktor? – Ich sah da vorhin, als Sie mit meinem Chef auf dem Balkon waren, auf Ihrem Schreibtisch einen Halter mit einer Rundschriftfeder. Ich suche nun für Erna – das ist meine Älteste, schon seit langem eine wirklich gute Feder. Können Sie mir eine bestimmte empfehlen?“

Ich hätte mich mit den stärksten Schmeicheleien für die unglaubliche Dummheit belegen können, den – gerade den Federhalter nicht weggepackt zu haben!! – Jetzt war’s zu spät! Dieser durch seinen Beruf zu stetem Mißtrauen verpflichtete Kriminalbeamte dachte sicherlich an den Mann, der den Brief mit der Meldung von dem Morde in die Polizeiwache geworfen hatte …! – Daß er von seiner Tochter so harmlos dabei sprach, war Finte, war eine kalte berechnete Schlauheit.

Jetzt hieß es mehr denn zuvor, jeden Argwohn bei ihm zu zerstreuen …! Ich durfte mich nicht mehr verraten – durfte nicht!

„Ich schreibe sogar sehr gut Rundschrift,“ erwiderte ich. „Nur – nie mit einer bestimmten Sorte von Federn.“

„So – so! Schade!“

Und nach kurzer Pause wieder: „Herr Doktor, Sie wollten, so schien es mir wenigstens, vorhin eine Zwischenbemerkung machen, als von den Zeichnungen gesprochen wurde, besonders als ich im Anschluß daran betonte, Tompson sei ein Inder.“

„Da haben Sie sich getäuscht, Herr Spengler. Oder aber – diese Bemerkung wäre dann so gleichgültiger Natur gewesen, daß ich sie sofort wieder vergessen habe.“

Er wiegte den Kopf hin und her. Und plötzlich sagte er dann: „Ich möchte jetzt Gedankenleser sein …!“

„Weshalb denn, Herr Spengler?“

„Weil es mir auf Ihre Gedanken mehr ankommt als auf Ihrer Worte.“

„In diesem Augenblick auch?“ fragte ich scharfen Tones, da ich mir nämlich gerade nicht für Spengler Schmeichelhaftes gedacht hatte.

„Ja, – denn alles hängt ja doch mit den beiden Männern zusammen, die Ihr leider sehr kurzsichtiger Hauswirt Herr Hönig in der verflossenen Nacht aus dem leeren Hause kommen sah, als er an das Fenster eines Vorderzimmer seiner im ersten Stock gelegenen Wohnung trat, nachdem ihn Gichtschmerzen von seinem Lager aufgescheuchte hatten. –

Wie gesagt – er ist sehr kurzsichtig, der Hönig, – aber gesehen hat er doch, daß der eine der Leute einen ziemlich großen Gegenstand im Arm trug …“

Mein Herzschlag setzte aus … Und es war mir, als presse die Hand eines Riesen mit plötzlichem Druck mir auch die Kehle zusammen.

Aber wie oft gerade in Momenten höchster Gefahr selbst einem Menschen mit geringer Geistesgegenwart ein rettender Gedanke, oder mit einemmal eine erstaunliche Energie zufliegt, so erging es jetzt auch mir.

Hier stand alles auf dem Spiel …!! – Diese Erkenntnis genügte. Gelang es mir jetzt nicht, völlig harmlos zu erscheinen, dann war mit Sicherheit anzunehmen, daß der Argwohn Spenglers noch weiter wachsen und daß diese Unterredung mit einer Katastrophe endigen würde …! Wir hatten ja einen Diebstahl verübt, wir hatten uns weiter dadurch verdächtig gemacht, daß wir von dem von uns entdeckten Verbrechen die Polizei nicht in üblicher Weise in Kenntnis gesetzt hatten …! Konnte man da nicht gar zu leicht auf den Gedanken kommen, wir selbst seien die Mörder …?!

Alles stand auf dem Spiel …!!

Aber ich bekam es jetzt wirklich fertig, etwas überlegen zu lächeln und mit feinem Spott zu sagen:

„Allerdings, – Herr Hönig ist sehr kurzsichtig, sehr! Zahlt man die Miete, so geht er mit jedem Schein, jeder Münze ans Fenster und prüft, ob auch nicht Falschstücke darunter sind …!!“

Ich schaute den Wachtmeister dabei ohne Scheu an. Und – er lächelte auch. –

Ich fügte hinzu:

„Auf Hönigs Beobachtungen würde ich für meine Person wenig geben, recht wenig, zumal die vergangene Nacht doch sehr dunkel war. Wir, Viktor Ruhnau und ich, begaben uns vor Mitternacht zu Ruhe. Als ich die Vorhänge meiner Schlafzimmerfenster schloß, schaute ich auf die Straße hinab. Da war kaum die Hand vor Augen zu sehen.“

„Ganz recht, Herr Doktor,“ meinte Spengler jetzt in einem Ton, der sich wesentlich von dem bisherigen unterschied, da das Gespannte, Lauernde, Nebenbedeutungsvolle fehlte. „Ganz recht … Aber der Himmel klärte sich bald auf, sehr bald. Herr Hönig kann sich diese seine Angaben doch nicht einfach aus den Fingern gesogen haben …!“

„Bewahre, – das wollte ich auch nicht etwa andeuten, – nein! Dazu ist mein Hauswirt viel zu gewissenhaft. Nur – ob er sich nicht insofern getäuscht haben mag, daß es sich bei den beiden Männern nur um harmlose Passanten handelte, – dies wollte ich unterstreichen.“

Ich redete, lächelte, machte Bewegungen, als sei ich ein Automat. Aber ein sehr guter, naturgetreuer. Die Worte kamen mir über die Lippen, ganz unbewußt, während meine Gedanken anderes dachten …

Die Gefahr für uns war noch größer geworden. Hönig war wach gewesen, hatte am Fenster gestanden, hatte uns gesehen …!! Konnte er uns dann nicht auch gehört haben, wie wir die Treppe hinauf schlichen …?! Und – wenn er etwas gehört hatte, – wußte Spengler auch davon?! – Ich warte gierig, was Spengler jetzt antworten würde.

„Harmlose Passanten, – ja, ja, kann sein, Herr Doktor, kann sein!“ sagte er freundlich. „Wir, der Herr Kommissar und ich, messen Hönigs Beobachtung auch keinen besonderen Wert bei.“ – –

„Eine harte Nuß für uns, dieser Mord …!!“ seufzte er dann und stand auf, um sich zu verabschieden.

Da fragte ich etwas, das ihn ganz von unserer Harmlosigkeit überzeugen sollte.

„Seien Sie mal ganz ehrlich, Herr Wachtmeister,“ meinte ich, ihn fest ansehend. „Unser Gespräch vorhin über Rundschrift, – – das roch so ein wenig danach, als ob Sie mich in Verdacht hätten, den Brief an die Polizei geschrieben zu haben?!“

Er erwiderte nichts, kniff nur das rechte Auge zu und lächelte pfiffig.

Dann trennten wir uns mit freundschaftlichem Händedruck.