Ich wollte dann gerade die Balkontür wieder zudrücken, als aus dem Schacht ein leises Geräusch zu mir drang …
Wirklich – es kam jemand die Treppe empor! Und – das konnte ja nur Tory sein!
Jetzt bemerkte ich auch einen hellen Schein, – weißes Licht einer elektrischen Taschenlaterne …
Ein Hut tauchte auf, ein bärtiges Gesicht, eine große Brille … – und über meine Lippen kam ein frohes: „Gott sei Dank, daß du da bist!“
Er erschrak nicht, reichte mir die Hand …
„Also hast um mich drüben am Fenster bemerkt, Karl, und mich dann hier erwartet!“ meinte er gelassen. „Wie gefalle ich dir als Bureauvorsteher Gottlieb Schmidt? Feine Maske, wie? Freund Haßfeld kann auf seinen Schüler stolz sein!“
„Du warst also wirklich im leeren Hause?“ fragte ich kopfschüttelnd. „Welch ein Leichtsinn, Tory! Wenn man dich dort erwischt hätte! Die Polizei ist ohnedies schon hinter uns her.“
Er schlug mich derb auf die Schulter, lachte …
„Weiß ich alles schon, Trommler. Nun steck’ aber mal bitte zur Begrüßung eine andere Miene auf. Im übrigen hab’ ich Hunger für fünf!! Also los – baue mir deine Vorräte auf.“ –
Wir saßen am Sofatisch und er speiste mit Behagen. – Ich sage: speiste, – denn ich hatte ihm meine erlesensten Delikatessen aufgefahren; eine Büchse Hummer, eine zweite mit Lachs in Gelee, Pumpernickel, reifen Harzer, und so weiter.
Ich erstattete über alles Bericht, während er mit Genießermiene den guten Dingen zu Leibe ging.
Als ich den Besuch Katzensteins erwähnte, sagte Tory:
„Ja, es war Pech, daß der brave Alte dem Spengler vor dem Hause begegnete. Natürlich ist der Wachtmeister unserem Isidor nachgeschlichen, um zu sehen, wo der ihm von Ansehen bekannte Pfandleiher blieb. Und nun steht auch Katzenstein unter der liebevollen Fürsorge der Polizei, das heißt, – sein Haus wird genau so überwacht wie das unsre hier. Leute, die dich, Trommler, besuchen, sind jetzt sämtlich verdächtige Kreaturen, besonders noch ein Pfandleiher, bei dem die Herren Mörder ihrer Beute losschlagen könnten …!!“
„Du meinst also, daß …“
„Welche Frage!“ unterbrach er mich. „Ohne Zweifel dürfen wir uns rühmen, für die Mörder Tompsons gehalten zu werden! Spengler hat dich fein eingewickelt. Du glaubtest, du hättest seinen Argwohn zerstreut! Keine Rede davon! Dein Hauswirt hat uns fraglos nicht nur mit unserer Beute über die Straße schlüpfen sehen, sondern uns auch auf der Treppe gehört, und dies Spengler alles erzählt. Und zwar dürfte die Sache so liegen, daß, als Ihle und Spengler zusammen hier waren, gegen uns noch keinen Verdacht vorlag. Dann hast du den geriebenen Wachtmeister aber durch dein Benehmen und durch den Federhalter mit der Rundschriftfeder mißtrauisch gemacht. Von hier ging er zum Hönig, erfuhr da das, was ich eben erwähnte, und suchte dich nun allein wieder auf. –
So muß es sein! Und so mag es sein, – ich meine, es ist sehr gleichgültig, ob wir für die Polizei die Mörder sind! Den wahren Täter werden wir bald haben – mit Hilfe der Annonce, auf die mich Katzenstein aufmerksam machte.“
„Aber – wenn man uns verhaftet? Was dann?! Dann haben wir keine Möglichkeit, dem Mörder weiter nachzuspüren, dann …“
„Uns?!“ fiel Tory mir ins Wort. „Gestatte, bei einer Verhaftung kann es sich nur um dich handeln, nur um dich! Viktor Ruhnau ist ausgekniffen und wird auch vorläufig nicht wieder erscheinen. Der Schacht ist ein großartiges Versteck für mich. Du aber wirst nicht allzu lange Gefangener sein, wenn es zum Schlimmsten kommen sollte.“
Ich muß wohl ein sehr entsetztes Gesicht gemacht haben, denn er lachte jetzt plötzlich hell auf und fügte schnell hinzu:
„Dieses Schlimmste wird nicht eintreten, lieber Karl, dafür habe ich schon gesorgt.“
Er holte aus seinen Taschen mehrere Päckchen hervor, legte sie auf den Tisch und erklärte:
„Hier ist alles Nötige, um dich in einen würdigen älteren Herrn zu verwandeln, der morgen früh diese Wohnung und dieses Haus verlassen und nach Heubude übersiedeln wird, bis er eben wieder ohne Gefahr hier seinen Einzug halten kann.“
Kein Wundert, daß ich eine Weile vor Staunen stumm blieb. Dann fragte ich unsicher:
„Mithin hältst du meine Sicherheit doch für gefährdet?“
„Vorläufig insofern nicht, als die Polizei dich noch lediglich zu dem Zweck auf freiem Fuß belassen dürfte, um durch dich mir auf die Spur zu kommen. Ich bin ‚verreist‘, und was das bedeutet, wissen Ihle und Spengler sehr wohl. Sie könnten sich ja nun an dich halten, dich festnehmen, fürchten aber, daß ich Ihnen dann durch die Lappen gehe. Du bleibst also sozusagen als Lockvogel frei – vorläufig! Da es der Polizei nun aber doch eines Tages einfallen könnte, sich deiner Personen lieber zu versichern – du kennst die Geschichte von dem Sperling und von den Tauben auf dem Dache! – so baut der weise Mann vor und schickte dich nach Heubude zu Erholung.“
Mir schwirrte der Kopf von alledem.
„Und du selbst, Tory?“ fragte ich.
„Ich werde inzwischen hier Dr. Karl Wilde spielen, werde … – Doch das müssen alles die Umstände ergeben.“
„Hätten wir nur nie die Lahore-Vase gestohlen!“ seufzte ich halb verzweifelt. „Für mich sind solche Aufregungen nichts! Ich bin bereits halb krank und …“
„ …beweise dadurch, daß Kriminalromane schreiben und wirklich miterleben doch ein himmelweiter Unterschied ist!“ führte Tory den von mir begonnenen Satz zu Ende, wobei er ganz ernst blieb.
Dann stand er auf und drehte schnell das Licht aus.
„Was soll das?“ fragte ich ängstlich. –
Er antwortete nicht, sondern schlich nach der Balkontür, die nur angelehnt war, bückte sich und kroch auf allen Vieren hinaus.
Ich ahnte, daß etwas passiert sein müsse. Jetzt merkte ich wieder, wie sehr meine Nerven schon gelitten hatten. Ein Zittern ging mir durch den Körper. Ich fürchtete, wir könnten belauscht worden sein, irgend jemand könnte meinen Balkon von den Nachbardächern aus erreicht haben.
Draußen stand die volle Mondscheibe am Himmel. Nur leichtes Gewölk zog von Zeit zu Zeit darüber hin wie feine Schleier. Als Tory hinausgeschlüpft war, hatte das Nachtgestirn sich gerade für Sekunden hinter einen hellen Vorhang zurückgezogen.
Tory tauchte nach Minuten – für mich wie Ewigkeiten! – wieder auf.
„Es war nur ein plötzlicher Argwohn meinerseits,“ sagte er. „Zum Glück ist niemand auf den Gedanken gekommen. Dann wären wir in einer bösen Klemme gewesen.“
Wir hatten dasselbe gefürchtet.
„Die Vase muß verschwinden!“ fuhr er fort. „Du hast da auf dem Balkon in einem großen Holzkübel einen halb abgestorbenen Oleander–baum. Ein brauchbares Versteck, wenn die Erde entfernt wird und man nachher nur ein wenig Erde wieder über die Vase deckt und den Baum mit Bindfaden stehend erhält.“
Diese Arbeit erledigten ihr beim Mondschein in meinem Zimmer vor der Balkontür.
Jetzt ging Tory die Vase holen. Ich folgte ihm nach dem Bücherschrank hin.
Er entfernte das Tuch. Ich spürte wieder den seltsamen Geruch.
„Katzenstein hätte hier ein Wiedersehen mit der Lahore-Vase feiern können, die er einmal in Berlin in seinem Panzerschrank kurze Zeit untergebracht hatte. Der Geruch störte ihn zu sehr …!!“
Tory lachte leise auf.
„Ja ja – es ist ein merkwürdiges Ding, unsere Vase!“
Er hatte recht, mehr wie merkwürdig, – denn auch jetzt schien es, als gehe von der Seelenurne ein mattes Leuchten aus, ein ganz eigenartiges Licht, als ob in dem leeren Inneren ein Feuer glühe.
Tory schleppte sie nach dem Kübel, stellte sie hinein, schüttete Erde darauf und drückte den Wurzelstock des Oleanderbaumes hinein.
Das Werk gelang recht gut. Nun wurde der Kübel wieder auf seinen alten Platz auf den Balkon geschafft.
In meinem Schlafzimmer spielte Tory dann bei dicht geschlossenen Vorhängen Theaterfriseur – an mir! Er hütete sich, daß sein Schatten je auf die Vorhänge fiel.
Während er mich in einen alten, würdigen Herrn verwandelte, erstattete er weiter Bericht über seine Erlebnisse.
Was er in Heubude ausgekundschaftet hatte, darüber glitt er schnell hinweg. Auffallend schnell sogar. Ich hatte das Gefühl, daß er mit etwas zurückhielt. Ich erfuhr nur, daß die blonde Madonna Hildegard Schollert hieß, daß sie mit ihrer Mutter, einer noch sehr stattlichen Dame, in dem einsamen Hause wohne und daß der Konsul dort recht häufig aus und eingehe, stets aber abends käme und in Heubude allgemein als Bruder der Frau Schollert bei den nächsten Nachbarn gelte.
Dann erzählte Tory, wie er heute abend gleich nach seiner Ankunft sich zu Katzenstein begeben habe, unbekümmert um den Kriminalbeamten, der Isidors Haus beobachtete. –
„Wie sollte der Mann ahnen, daß ich der vielgesuchte Viktor Ruhnau bin!“ meinte er mit einem gewissen Stolz. „Meine Verkleidung hat sich tadellos bewährt. –
Bei Katzenstein hörte ich, was du mit ihm verhandelt hattest. Ich ließ ihn bei dem Glauben, daß du indische Altertümer in einem Roman mitverwerten wolltest und daß nur deshalb die Rede auf die Lahore-Vase gekommen sei. Er teilte mir nach einigem Zureden dann folgendes über ‚seine‘ Lahore-Vase mit:
Diese hatte ihm ein Herr gebracht, der ein Zeugnis des Direktors der Königlichen Museen vorwies, daß die plumpe Urne einen Wert von mindestens fünfzigtausend Mark als eine der seltsamsten Raritäten indischen Kunstgewerbes habe. Natürlich dachte Katzenstein nicht im entferntesten daran, diesen Wert einer Beleihung zugrunde zu legen. Er gab dem Herrn nur dreihundert Mark, und der Mann war – recht merkwürdig!! – auch zufrieden. Auf Namen und Aussehen des Vasenbesitzers besinnt er sich nicht mehr, meint aber, der Herr hätte einen recht vornehmen Eindruck gemacht und sich wohl als Forschungsreisender ausgegeben. –
Der brave Isidor erlebte an der Seelenurne jedoch wenig Freude. Sie roch seiner Geruchsempfindung nach nach Leichen, und er war froh, als er dem ‚Forschungsreisenden‘ dann bereits nach zwei Tagen die Vase wiedergeben konnte. Er nennt sie nur ein ‚unheimliches Ding‘. Na – so ganz unrecht hat er damit ja nicht! – –
Von Katzenstein lenkte ich meine Schritte nach der Parallelstraße des Pfefferganges, der Lavendelgasse. Eine ganz bestimmte Absicht hatte ich dabei. Ich wollte feststellen, ob man nicht von der Lavendelgasse aus in das leere Haus gelangen könne. –
Ja, man kann’s sogar sehr bequem und unbemerkt. An die Rückseite des leeren Hauses schließt sich ein Lagerplatz mit langen Schuppen an, dessen Torweg in die Lavendelgasse führt. Der Holzzaun dort ist leicht zu übersteigen. Ich probierte es, schlich über den Lagerplatz, erkletterte einen zweiten Zaun und stand im kleinen Hofraum des leeren Hauses. Ich hatte mich mit Dietrichen schon bei Katzenstein versehen, so daß es mir keine großen Schwierigkeiten machte, in das Innere des alten baufälligen Kastens zu gelangen. Ich habe dort jedoch nichts von Wichtigkeit entdeckt – nichts! Aber – und das ist wertvoll! – ich weiß jetzt, wohin der Mörder damals seinen Rückweg genommen hat, – über die beiden Zäune.“
Schließlich berichtete er nun auch, daß Katzenstein ihm die Annonce ‚Vase!‘ gezeigt hätte. –
„Ich hoffe“, sagte er, „diese Annonce wird dem Mörder verhängnisvoll werden. Der Mann glaubt die Diebe der Vase leicht ‚einwickeln‘ zu können, fühlt sich ihnen geistig so überlegen, daß er dieses gefährliche Spiel mit der Anzeige ruhig wagt. Daran siehst du schon, ein wie ernsthafter, starker Gegner dieser Mann ist. Nun – wir werden eben noch schlauer sein!!“
Er preßte jetzt die Lippen so fest aufeinander, daß sein Mund nur noch ein schmaler Strich war. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, der mich fast erschreckte.
„Tory, du siehst aus, wie Satanas, der nach einer armen Seele greift,“ meinte ich beklommen.
„Nein – wie die Vergeltung!!“ sagte er hart und schneidend. Und fügte hinzu – in ganz anderem Ton, so leichthin: „Du wirst morgen in der Zeitung eine Antwort auf die Vasen-Annonce finden, Karl. Gib Acht darauf.“
Dann hielt er mir einen Handspiegel vor das Gesicht.
„Bist du zufrieden?“
Ich mußte es sein! Er hatte seine Sache vorzüglich gemacht.
Er gab mir noch für Heubude ganz genaue Verhaltungsmaßregeln. Ich wieder hatte noch allerlei Fragen. Ich fürchtete für seine Sicherheit. Wie leicht konnte er der Polizei in die Hände geraten bei diesem gefährlichen Unterfangen, mich hier in seiner Wohnung zu vertreten. Ich hielt es geradezu für ausgeschlossen, daß ihm nichts zustieß. –
Ich war ehrlich und brachte alle meine Bedenken vor.
„Mein Plan ist so einfach,“ meinte er lachend. Er war jetzt beständig so übermütig, so lebhaft. Wo war nur der blasierte Viktor geblieben …?!
„Ja, sehr einfach, lieber Trommler! Deine Aufwärterin geht für mich durchs Feuer. Sie wird meine Verbündete werden.“ –
Einzelheiten erfuhr ich von ihm erst später. Wenn er nicht reden wollte, hätte man ihn foltern können und doch kein Wort herausgepreßt.
Wie falsch beurteilten doch die allermeisten Menschen meinen Freund!! – Das sah ich jetzt erst so recht ein. Und wie oft mag er spöttisch die Lippen verzogen haben, wenn er hörte, daß man ihn das ‚Danziger Gigerl!‘ nannte …!
Ich kam nachher auch noch auf das unheimliche, leuchtende Bild des schwebenden Frauenkopfes zu sprechen.
„Du wirst es noch einmal sehen!!“ sagte er bedeutungsvoll. „Jetzt verkneife dir alle weiteren Fragen danach und denke daran, daß du so schnell mit der Laterna Magika bei der Hand warst.“
Dann wagte ich einen ganz kräftigen Vorstoß.
„Ich weiß nicht, Tory, ich habe das unklare Empfinden, als ob du bereits den Mörder kennst. Weshalb schenkst du mir eigentlich nicht reinen Wein ein?! – Es ist doch sicher, daß die Erscheinung des Weiberhauptes, die Vase, der versetzte Schmuck und das einsame Haus in Heubude gleichsam Seitenpfade sind, die nach einem Ziel hinlaufen, nach dem Mörder, – das heißt, daß das alles zusammen gehört.“
„Großartig – großartig, liebes Karlchen!!“ Er triefte förmlich vor Hohn. „Wenn das alles zusammengehört, so muß es auch verbindende Nebenpfade in diesem Strahlenkranz von Wegen geben! Bitte – schildere mir diese Nebenpfade! Vorwärts! Du bist ja mit Behauptungen so fix bei der Hand!!“
Da gab ich alles Forschen und Bohren auf.
Ich mußte abwarten. – Später, als der Schuldige längst entdeckt war, sah ich erst, wie leicht ein scharfsinniger Kopf diese Nebenpfade des Strahlenkranzes hätte finden können, – wenn auch nicht alle! – –
Vielleicht ist dies auch bereits diesem oder jenem der Leser gelungen. Das sollte mich freuen, und ich mache dem Betreffenden mein Kompliment!