Kommissar Ihle und Wachtmeister Spengler hatten soeben in Ihles Dienstzimmer auf dem Polizeipräsidium eine lange Unterredung über den Tompson-Mord gehabt.
„Wir können zufrieden sein mit dem bisher Erreichten,“ sagte der Kommissar zum Schluß. „Wir wissen, wer die Täter sind. Hönigs Zeugnis ist das wertvollste. Er hat die beiden nicht nur gesehen, sondern auch gehört, wie sie nach Verübung des Verbrechens in Wildes Wohnung zurückkehrten. Wenn auch des Schriftstellers Charakter durchaus nicht für seine Teilnahme an einem so schweren Delikt spricht, so ist dies bei Viktor Ruhnau umso mehr der Fall, wie wir durch vorsichtige Nachfrage über dessen ganze Lebensauffassung und Führung festgestellt haben; er ist leichtsinnig, eitel, oberflächlich und mit seiner hochangesehenen Familie zerfallenden, die jetzt sogar vor dem traurigen Entschluß steht, ihn entmündigen lassen zu wollen, um seiner Verschwendungssucht vorzubeugen. Der Konsul hat ihn zu diesem Zweck heimlich durch einen Privatdetektiv, durch den Zarnke, beobachten lassen. Und aus Zarnkes eigenem Munde haben wir ja erfahren, in wie raffinierter Weise sich Viktor Ruhnau ihm auf dem Hauptbahnhof entzogen hat und dann entflohen ist. Ruhnau erscheint somit auch als der eigentliche Täter, während Dr. Wilde wohl mehr der Verführte ist. –
Um auch nochmals das Motiv des Verbrechens zu nennen: Habgier, Eigennutz, – denn Tompson ist ja fraglos Juwelenhändler oder dergleichen gewesen, und die beiden haben ihn gründlich ausgeplündert, nachdem sie ihn in das leere Haus gelockt hatten. Der Brief in Rundschrift wurde dann nur geschrieben, um den Tatbestand noch mehr zu verwirren. –
Das ist ein kurzer Überblick über das bisher Erreichte, und alle Einzelheiten passen da so gut zueinander und fügen sich so zwanglos in- und aneinander, daß diese Fährte die richtige sein muß, – – trotz ihres noch immer zweifelnden Gesichtsausdrucks, mein lieber Spengler …! In diesem Falle sind Sie wirklich zu gewissenhaft …!!“
Spengler schüttelte ernst den Kopf.
„Sie können nicht leugnen, Herr Kommissar,“ meinte er, „daß verschiedene Punkte noch sehr der Aufklärung bedürfen und uns stutzig machen müssen. – Wir wissen über Tompson noch nichts Bestimmtes trotz aller telegrafischen Nachfragen. Niemand kennt ihn. Hier in Danzig hat er ganz für sich gelebt. Von irgendwelchen Geschäften als Juwelenhändler haben wir nichts erfahren. Wir halten ihn dafür, weil wir in seinem Koffer die Zeichnungen gefunden haben, – ein sehr, sehr schwacher Beweis!! Heißt der Mann überhaupt Tompson? Ist er wirklich Engländer und in London zu Hause? – Unser Polizeiarzt bleibt dabei, Tompson seit ein sehr hellhäutiger Asiate, vielleicht ein Hindu aus Indien. – –
Dies ist der eine dunkle Punkt. Der zweite, was schleppten die beiden Freunde damals nach dem Morde in des Doktors Wohnung? Hönig behauptet, es sei ein großer, runder Gegenstand gewesen. Spricht dies für Diamantenraub? – Nein! Niemals! Diamanten sind Objekte von so geringer Größe, daß sich schon Millionen Werte davon in einem Beutel unterbringen lassen. – Um was für einen Gegenstand also handelte es sich? – Wir wissen noch gar nichts Näheres darüber, können nicht einmal eine leidlich begründete Vermutung in dieser Beziehung aufstellen.
Ich kann mir nicht helfen, Herr Kommissar, aber ich fürchte, wir befinden uns mit unserer Theorie recht sehr auf dem Holzwege.“
In demselben Augenblick betrat ein Schutzmann das Zimmer und überreichte Ihle einen Brief, indem er erklärte:
„Ich habe den Brief soeben aus dem Kasten in der Vorhalle genommen. Er muß vor kurzem hinein geworfen worden sein.“ Dann verschwand er wieder.
Der Umschlag hatte die Adresse des Kommissars. Die Schrift war groß und steil, energisch und eigenartig.
Ihle riß den Umschlag auf.
Während er den Inhalt des Briefes überflog, verstärkte sich in seinem Gesicht der Ausdruck ungläubigen Staunens. Dann reichte er den Bogen seinem Untergebenen hin.
Spengler griff hastig danach. Er ahnte Überraschungen besonderer Art.
Ohne Anrede stand da:
‚Ich habe mein Versprechen gehalten und der Polizei geholfen, den Mörder Tompsons zu ermitteln. Ich kenne ihn, kenne auch die Beweggründe der Tat. Wenn Sie mich weiter unbelästigt noch ein paar Tage handeln lassen und wenn Sie, was die Hauptsache ist, niemanden, der nicht zu Ihren nächsten Mitarbeitern gehört, von dem Inhalt dieses Briefes Mitteilung machen, so werde ich in der Lage sein, Ihnen sehr bald diesen Mörder in die Hände zu spielen. Die geringste Unvorsichtigkeit Ihrerseits, besonders meine Verhaftung, würde den Erfolg meiner Arbeit sehr infrage stellen. Es ist auch nötig, daß Sie weiter so tun, als ob Sie meinen Freund Dr. Wilde und mich selbst für die Täter halten und diese Spur weiterverfolgen. Kurz: Sie sollen ihre Ermittlungen nach der bisherigen Richtung hin fortsetzen. –
Um ihnen den Beweis zu liefern, daß ich Sie nicht mit diesen Angaben nasführen will, folgende Andeutungen: Tompson ist Inder. Das Verbrechen ist kein Raub-, sondern ein Meuchelmord. Der Mörder schaffte sich einen unerbittlichen Feinde auf sehr raffinierte Art vom Halse. –
Wir, mein Freund und ich, hatten die Todesschreie des Opfers gehört; wir sind dann in das leere Haus eingedrungen und haben von dort einen Gegenstand mitgenommen, der zu dem Morde in aller engster Beziehung steht. – –
Dies mag vorläufig genügen. Suchen Sie nicht nach jenem Gegenstand! Sie würden ihnen doch nicht finden und den Erfolg nur gefährden! Das, was wir sozusagen nur mit Beschlag belegten, wird zur rechten Zeit wieder auftauchen. –
Viktor Ruhnau.‘
„Na, was sagen Sie nun?!“ fragte Ihle, als Spengler die Hand mit dem Briefe sinken ließ.
„Ich glaube, der Brief wird wohl die Wahrheit enthalten,“ erwiderte der Wachtmeister ebenso feierlich würdig, wie dies stets sein Gesichtsausdruck war.
Der Kommissar zog zweifelnd die Augenlider hoch.
„Die Wahrheit?! Hm, das wäre wirklich höchst eigenartig, – der Mörder auf der Jagd nach dem Mörder …!! Für meinen Geschmack zu romantisch …!“
„Ich werde mal zu den Eltern des Ruhnau gehen und feststellen, ob es seine Handschrift ist. Wenn ja, dann ist der Brief von großer Bedeutung. Und ich bin auch eigentlich schon jetzt davon überzeugt, daß Ruhnau ihm geschrieben hat. Außer uns und Hönig, Herr Kommissar, weiß bis jetzt niemand etwas von dem großen, runden Gegenstand, den die beiden nächtlichen Besucher des leeren Hauses mitgenommen haben. Das dürfen wir nicht vergessen!!“
„Allerdings. – Hm – ich werde mit zu Konsul Schimpel kommen, und wir werden nichts tun, was gegen die Anordnung des Briefes verstößt. Vielleicht – na, das wird sich ja aufklären!“
Ich muß hier einschalten, das Tory diese Schreiben am Mittag des Tages in den Briefkasten des Polizeipräsidiums geworfen hatte, an dem ich in meiner vorzüglichen Verkleidung morgens mit dem ersten Dampfer verabredungsgemäß nach Heubude gefahren war.
Tory hatte mir nichts von diesem Brief gesagt, ebenso wie er auch hinsichtlich der weiteren Einzelheiten seines Planes, den Täter zu überführen, sehr verschwiegen gewesen war, was mich etwas gekränkt hatte. Später war ich ihm ganz dankbar für die vorsichtige Zurückhaltung. Wer weiß, ob nicht vieles anders gekommen wäre, wenn er mich völlig eingeweiht hätte. Vielleicht wäre ich dann noch heute Junggeselle und nicht Ehegatte eines reizenden, lieben Geschöpfchens, das im Grunde genommen auch nur durch die Lahore-Vase mein wurde. –
Ihle hatte vorher bei der Firma Ruhnau telephonisch angefragt, wann und wo der Herr Konsul zu sprechen sei.
Das Telephonfräulein der Firma hatte ihn sofort mit dem Privatkontor des Chefs verbunden, und Schimpel hatte geantwortet, er erwarte Ihle sofort. –
„Ist es etwas Unangenehmes?“ hatte er noch gefragt. –
„Ja, es geht Ihren Schwiegersohn an!“ lautete die Entgegnung, und der Kommissar hatte dann einen tiefen Seufzer drüben am anderen Ende des Drahtes gehört. – – –
Professor Pinkemüller, der gerade seinen Schwager besucht hatte, um mit ihm weitere Schritte zur schleunigsten Entmündigung des ‚Verkommenen‘ zu beraten, sagte mit gen Himmel gerichtetem Blick: „Was werden wir wieder hören, Schwager …!! Welch’ ein Elend mit diesem jungen Menschen …! Sogar die Polizei beschäftigt sich schon mit ihm!“
Der Konsul erwiderte nichts. Ihm ging es in den letzten Tagen gesundheitlich recht schlecht. Er litt an allerlei nervösen Erscheinungen, war sehr zerstreut, hatte eine graue Gesichtsfarbe und stets dunkle Ringe unter den matten Augen.
Er schaute vor sich hin mit einem geistesabwesenden Ausdruck in dem sonst so energischen und lebhaften Antlitz.
Pinkemüller trank schnell sein Glas Madeira aus und füllte es wieder.
Dann meinte er zögernd: „Hm – was ich noch sagen wollte, Schwager … Könntest du mir bis zum Ersten vielleicht hundert Mark leihen? Ich bin durch …“
„Laß nur, – schon gut – – bitte! Und wegen der Rückgabe eilt es ja nicht. Schreib’s zu dem übrigen.“
Pinkemüller goß den schweren Wein abermals in einem Zuge hinunter.
„Wenn wir nur erst wüßten, wo Viktor steckt,“ begann er nachdenklich. „Dieser Privatdetektiv ist ein Esel! Ihn so entwischen zu lassen. – Ob das Material, das wir zusammen haben, wohl zu einer Entmündigung genügen wird?“
„Nein!“ entgegnete der Konsul lebhaft und schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. „Leider nein! Wenn wir ihm nicht noch ganz dumme Streiche nachweisen, wird unser Antrag glatt abgelehnt. So können wir zum Beispiel den letzten Trunkenheitsexzeß gar nicht mit anführen, ich meine, als Viktor damals frühmorgens mit nassen und schlammbedeckten Kleidern heimkehrte. Es hat sich jetzt herausgestellt, daß er an jenem Morgen einen Hafenarbeiter mit höchster eigener Lebensgefahr durch tauchen aus dem Wasser geholt hat. Man wird für ihn die Rettungsmedaille beantragen.“
„Nein – so etwas! Das heißt Pech haben!“ polterte Pinkemüller.
Der Konsul lächelte gequält. „Der Gerettete wird anders sprechen, und die Welt und die Richter auch,“ sagte er heiser auflachend. „Auch das Versetzen der Uhr und der Ringe darf in unserem Entmündigungsantrag nicht erwähnt werden. Für Viktor ist nachträglich noch bei uns ein Brief von einem Feldwebel Kuhnke aus Neufahrwasser eingegangen. Ich habe diesen Brief – natürlich nur aus Versehen! – geöffnet. Kuhnke ist der frühere Feldwebel der Kompagnie, bei der Viktor als Einjähriger gestanden hat. Es muß dem Mann sehr schlecht gehen, denn er bedankt sich für die Geldzuwendungen, die Viktor ihm in so feinfühliger Weise zugestellt hat, besonders für die letzten hundert Mark. –
Und diese hundert Mark, Schwager, hat Kuhnke erhalten, nachdem dieser, mein … hochherziger Herr Schwiegersohn, die Uhr bei Katzenstein untergebracht hatte …!! Mithin dürfte es besser für unsere Zwecke sein, dies ganz aus dem Spiel zu lassen.“
„Ja – aber was bleibt denn dann noch von dem Belastungsmaterial übrig, wenn …“ – Pinkemüller war ganz entsetzt, konnte den Satz nicht einmal beenden, trank dafür aber das dritte Glas Madeira.
Gleich darauf erschienen Ihle und Spengler und wurden sehr höflich zum Platz nehmen aufgefordert. Der Kommissar war es dann, der die beiden Herren vorsichtig darüber aufklärte, daß leider, leider sehr schwer wiegende Verdachtsgründe gegen Viktor Ruhnau und seinen Freund vorlägen, aus dem leeren Hause einen ihnen nicht gehörigen Gegenstand in der Mordnacht mitgenommen zu haben.
Der Konsul war hellhörig genug, um aus den Andeutungen Ihles dessen wahre Ansicht über diesen Besuch der beiden in dem alten Gebäude herauszuhören.
„Sie brauchen mich nicht zu schonen, – halten Sie mit nichts zurück, Herr Kommissar,“ sagte er plötzlich mit stark gerötetem Gesicht und vor Aufregung unruhig hin und her tastenden Händen.
Ihle holte jetzt den Brief hervor, breitete ihn so, daß nur die Unterschrift zu sehen war und hielt ihn dem Konsul hin.
„Ist dies ihres Schwiegersohnes Namenszug?“ fragte er ernst.
Schimpel wollte nach dem Brief greifen. Aber Ihle wehrte ab. – „Bedaure, – ich kann ihn nicht aus der Hand geben!“ meinte er.
„Es ist Viktors Unterschrift!“ erklärte der Konsul darauf. „Mein Schwager wird dies ebenfalls bestätigen. – Was hat es mit den Brief auf sich?“
„Dienstgeheimnis, Herr Konsul,“ meinte Ihle mit höflicher Verbeugung.
„Aber ich darf doch wohl erfahren, ob Viktor etwa im Verdacht steht, jenen Tompson – hm, ja –, – ach, ich bringe es gar nicht über die Zunge!!“ –
Schimpel betupfte sich die schweißfeuchte Stirn.
„Ich darf nichts sagen,“ erwiderte Ihle ausweichend.
„Das genügt!“ rief der Konsul und tauschte mit Pinkemüller einen Blick aus. „Mein Gott, dieser Mensch ist eine Schande für die Familie …!!“
„Ja, Sie haben ihn ja wohl auch durch einen Detektiv beobachten lassen, Herr Konsul. Uns konnte das kaum entgehen, da wir jetzt viel im Pfeffergang zu tun haben.“
Dann erhob er sich, dankte für die Auskunft und verließ mit Spengler das Privatkontor.
Draußen auf der Straße sagte der frühere Dorfschullehrer kopfschüttelnd:
„Herr Kommissar, – das Entsetzen Schimpels über den schlimmen, auf seinem Stiefsohn ruhenden Verdacht war für meinen Geschmack etwas stark theatralisch. Und der andere, der Professor, machte sogar Augen, als freue er sich über diesen Verdacht! Merkwürdig! – Die Herren sind ja, wie mir der Zarnke, der Privatdetektiv, nebenbei ein Alkoholiker aus heiliger Überzeugung, anvertraut hat, eifrig dabei, den Ruhnau entmündigen zu lassen. Ich habe so meine besonderen Gedanken darüber. Viktor Ruhnau besitzt gegen vierhunderttausend Mark eigenes Vermögen, jedoch nicht zur freien Verfügung. Da muß so ein Testament des alten Herrn Ruhnau vorhanden sein, besser ein Nachtrag; an dem scheint der Konsul nicht so ganz unschuldig zu sein. Er soll es verstanden haben – als damaliger Prokurist der Firma –, den Vater gegen den Sohn … aufzusetzen, – hm ja.“
„Woher wissen Sie denn das alles, Spengler?“ fragte Ihle erstaunt.
„Na – man horcht doch so überall herum! Als ich den jungen Menschen erst beargwöhnte – im Falle Tompson, da wollte ich mir doch ein Bild von seinem Charakter machen und da habe ich viel Gutes über ihn gehört, so zum Beispiel von dem alten Justizrat Sperling, der jenes Testament aufgesetzt hat – mit Ausnahme des Nachtrags. Dazu gab er sich nicht her. – Na – der Konsul steht jedenfalls bei dem Justizrat nicht sehr hoch im Wert. – Das ist ja aber alles nebensächlich! Wir werden nun wohl das tun, was Viktor Ruhnau vorschlägt, nicht wahr?“
„Vielleicht,“ meinte Ihle nachdenklich.