Die Fischerwitwe Ernestine Klaus empfing mich als den Intimus des Bürovorstehers Gottlieb Schmidt – Tory hatte mir einen Brief für sie mitgegeben – überaus freundlich. Ich bezog dasselbe kleine Hinterzimmer und gab mich auch bei der Klaus ganz in Pension.
Mir erging es an diesem ersten Tage genau so wie Tory während der ersten Stunden nach seiner Verwandlung in den bescheiden gekleideten Herrn Schmidt; ich fühlte mich unsicher, wurde bei jedem Blick eines Fremden, der mehr galt, verlegen und achtete nun beständig darauf, ja nicht aus der Rolle fallen.
Diese Ängstlichkeit verlor sich bald. Bereits am Nachmittag wagte sich der Kanzleisekretär unter Menschen, wenn auch noch mit dem steten Empfinden, von Gefahren umlauern zu sein.
Nachdem ich einen Spaziergang nach der Meeresküste unternommen hatte, wollte ich versuchen, auch mal etwas von der blonden Madonna Torys zu sehen zu bekommen. Tory hatte mich durch die ihm sonst fremde Überschwänglichkeit bei der Schilderung ihrer körperlichen Vorzüge neugierig gemacht.
Im weiten Bogen plante ich mich durch die Felder an das einsame Haus anzupirschen. Ich ging zwischen zwei Roggenäckern auf einem grünen Rain entlang, der hier und da mit Obstbäumen bepflanzte war. Zahllose Butterblumen wucherten hier. Es gab ganze Strecken, die goldgelb schimmerten von all den Blüten. Vom Waldrande her kam mit dem sanften Winde bläulicher Qualm, der recht gewürzte roch. Dort drüben stand ein Häuschen, und es spie unausgesetzt Tag und Nacht diesen Qualm aus. Es war eine Flunderräucherei, und der Eigentümer benutzte zum Räuchern Tannenzapfen und -nadeln sowie Kiefernzweige. Das gab den reinen Weihnachtsduft ab.
Ich befand mich in träumerischer Stimmung. Die Rolle, die ich hier in Heubude spielte, regte meine Phantasie an. Ich baute in Gedanken ganze Romane auf. Gute Ideen flogen mir zu. Oft blieb ich stehen, zog mein Notizbuch hervor und notierte mir dies und jenes. Tatsächlich habe ich dann später eine dieser Romanideen ausgearbeitet.
Wieder war ich stehen geblieben und schrieb. Da drangen gar seltsame Töne an mein Ohr …
Ich lauschte, schaute vorwärts. Dort stand eine mächtige Eberesche, und um sie herum wucherten wilde Rosen und Brombeeren.
Ich lauschte … Jemand weinte dort hinter dem Gestrüpp, schluchzte zuweilen auch – so recht qualvoll.
Es mußte ein weibliches Wesen sein, ein Mädchen. Selbst diese Laute bitteren Kummers hatten etwas Melodisches an sich.
Ich schlich leise näher, ganz leise. Nun bog ich um das Gestrüpp. Es bildete hinter der Eberesche etwas wie eine Laube. Und dort saß ein junges Weib mit wundervollem Blondhaar, das in breitem Zopf um das Hinterhaupt gelegt und vorn lose gescheitelt war.
Eine Ahnung sagte mir: Die blonde Madonna!
Von dem Gesicht konnte ich nichts sehen; das bedeckten die Hände, während die Ellenbogen sich auf die hochgezogenen Knie stützten.
Gerade jetzt stieß das Mädchen, das ein blauggraues, einfaches Leinenkleid trug, unter dem ein paar gelbe Halbschuhe mit großen Schleifen hervorlugten, ein paar Worte aus …
„Ich halte es nicht länger aus, – oh, die Schmach, – die Schande …!!“
Das verstand ich ganz deutlich.
Schon wollte ich mich wieder davon schleichen, als mir noch zum Glück einfiel, daß ich ja jetzt ein würdiger, älterer Herr war, der es wohl wagen durfte, die Bekümmerte anzusprechen und zu trösten mit dem Vorrecht der reifen Jahre.
Ich zog mich also leise zurück und näherte mich, laut aufhustend, von vorn der kleinen Naturlaube.
Das blonde Kind war erschrocken aufgesprungen und zeigte mir nun ein tränenfeuchtes Gesicht von einer Reinheit der Linien und einem Liebreiz, daß ich nun meiner Sache völlig sicher war. Es konnte nur Torys Madonna sein!
Ich nickte ihr freundlich zu, brachte weiche Milde in meine Stimme und sagte:
„Glauben Sie einem alten Manne, liebes Kind, der in seinem Leben viel durchgemacht, sehr viel Trübes, für jedes Herzeleid gibt es ein Heilmittel – für jedes!“
Sie schämte sich wohl der Tränen, trocknete verstohlen die großen, dunklen, schwermütigen Augen und erwiderte verzagt:
„Für das meine nicht, – nein, – für das meine nicht …!!“
„So hat schon mancher gesprochen, mein Kind! Jeder Schmerz läßt nach. Die Zeit lindert alles, die Zeit und – die Arbeit.“
Sie schaute zu mir empor ohne Scheu. Und dann schüttelte sie langsam den Kopf und meinte dumpf und in trüber Verzweiflung:
„Sie kennen die Ursache meines Leides nicht. Wenn Sie in meiner Lage wären, – Sie würden sich auch so überflüssig auf der Welt dünken wie ich!“
Zwei einzelne Tränen rannen über ihre Wangen. Um den roten Mund zuckte es.
„Überflüssig dünkt sich nur ein schwacher Charakter,“ sagte ich ernst. Und fügte hinzu: „Darf ich mich ein Weilchen zu Ihnen setzen? –
Sehen Sie, der Zufall hat uns hier zusammengeführt. Vielleicht wird aus diesem Zufall eine Fügung der Vorsehung. Mein Beruf zwingt mich, menschliche Charaktere zu studieren, um sie richtig …“
Ich stockte. Beinahe hätte ich gesagt: ‚um sie richtig schildern zu können …‘ Zur rechten Zeit fiel mir noch ein, daß ich jetzt nicht mehr der Schriftsteller Dr. Karl Wilde, sondern der Kanzleisekretär Reinhold Henning war …!! Und deshalb beendete ich den Satz „richtig beurteilen zu können …“
Ihre großen, ehrlichen Augen glitten über mich prüfend hin. Aber ich bestand diese Prüfung.
„Sie haben so etwas Gütiges an sich, mein Herr, das Vertrauen einflößt,“ erwiderte die Madonna leise. „Wenn ich Ihnen die Ursache meines Kummers auch nicht angeben darf, so wird es mir vielleicht doch wohltun, einmal mit einem guten Menschen plaudern zu können.“
Das war gewiß eine seltsame Antwort für dieses junge Geschöpf! – „Mit einem guten Menschen …!“ Das klang, als ob sie sonst dazu verurteilt war, mit Leuten umzugehen, die sie nicht achten konnte, die sie in ihren Schwächen erkannt hatte.
Ich setzte mich auf eine grasbewachsen Erdscholle.
„Sie weilen hier zur Kur, mein Herr, nicht wahr?“ fragte sie zwanglos. „Wir wohnen ja schon so lange in Heubude, daß ich jeden Ortseingesessenen von Ansehen kenne.“
Ich nickte. „Leider darf ich nur einige Tage mich an Gottes freier Natur erfreuen. Der Urlaub ist kurz. Dann geht es wieder an die Arbeit. Aber ich werde trotzdem frohen Herzens an meinen Schreibtisch zurückkehren, wenn ich nur die Überzeugung mitnehmen darf, Sie, mein Kind, ein wenig seelisch wieder aufgerichtet zu haben. –
Nicht wahr, Sie legen doch keinen Wert darauf, daß ich Ihnen meinen Namen nenne und meinen Beruf?! Wozu hier fern von den Stätten, wo die Menschen sich unter dem Zwange ungeschriebener Ehrgesetze sogenannter guter Umgangsformen bewegen, sich ebenfalls unter diese Gesetze beugen? Ist es nicht viel poetischer, wenn in Ihrer Erinnerung – vielleicht! – für kurze Zeit ein alter Herr lebt, der nichts wollte als Sie trösten und Ihnen etwas von seiner Lebensweisheit abgeben …?!“
„Oh – Sie haben recht! Ich liebe das Förmliche gewiß nicht!“ –
So plauderten wir weiter, wohl eine Stunde lang. Ich erzählte ihr von einem Freunde, der Schriftsteller sei und der sich in all seiner Einsamkeit bei seiner Arbeit so wohl fühle.
Der Schriftsteller interessierte sie. –
„Schreibt er Romane?“ fragte sie. „Oh, ich möchte so gern wissen, wie sie so einen Roman entwerfen, die Schriftsteller, überhaupt wie’s gemacht wird …“
Sie war köstlich in ihrer zwanglosen Offenheit. Bald hatte sie wirklich das große Leid vergessen, lächelte schon mitunter. Behutsam änderte ich den Ton, wurde heiterer, führte sie mit mir hinaus aus ihrem düsteren Alltagsgrau in ein Sonnenland, erzählte von dem Freunde, dem Schriftsteller, von dem Junggesellenleben, dem Balkon mit den Blumen und den Radieschenkästen, von der geschwätzigen Aufwärterin, mischte kleine Erlebnis sein, flocht billige Weisheitssprüche bei … –
Dann sah sie nach der silbernen Uhr mit einem Male, sprang auf …
„Oh, schon so spät!! Schade! Ich muß heim! – Und ich danke Ihnen von Herzen für diese Stunde …“
Wie schön sie war – wie schön!! – Sie reichte mir die Hand …
„Es ist mir, als hätten Sie mir einen belebendem Trank gereicht,“ sagte sie schlicht. „Sie haben mich wirklich getröstet. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich noch lachen könnte …“
„Der Arzt will sie noch weiter behandeln, liebes Kind. Wenn Sie also morgen Zeit haben …“ meinte ich mit väterlicher Güte.
„Zeit? Ja, das wohl! Aber ich darf Ihnen die Ihrige nicht stehlen.“
„Ei ei!! – – Plötzlich so förmlich?! Wozu Phrasen, Kind?!“
„Gut denn – vielleicht komme ich sogar heute Abend noch her … Es ist mein Lieblingsplätzchen …“ –
Sie kam wirklich. Und wieder saßen wir nebeneinander.
Die Abenddämmerung verwischte die Umrisse des Waldes, der Bäume auf dem Rain. Ein paar Rehe traten vorsichtig aus einer Schonung heraus auf den Acker. Ein erstes Glühwürmchen umschwirrte uns. Weihnachtsduft umgaben uns. Die Glocke des Dorfkirchleins bimmelte …
Die Madonna war gekommen, und die erste Kur hatte vorgehalten. Ich sah keine Tränen mehr.
Wie ehrlich junge Mädchen doch sein können, wenn sie ein graues Haupt neben sich wissen, wie gern sie dann jedem aufquellenden Gefühl folgen …!
Plötzlich haschte die Madonna nach meiner Hand, nahm sie zwischen ihre beiden lebenswarmen Hände und sagte bewegt:
„Oh – wie gut Sie sind – wie gut! Noch nie hatte ich zu einem Menschen solches Vertrauen gehabt wie zu Ihnen …“
Da kann ich mir zum erstenmal wie ein Betrüger vor …! – Hätte sie geahnt, wer neben ihr saß, – wie ein scheues Reh wäre sie geflüchtet …!! –
Der Mond lugte schon über die Wipfel der Kiefern, als sie sich verabschiedete … – –
Ich war wieder allein, blieb noch eine Weile sitzen und träumte vor mich hin.
Ich war ein doppelter Betrüger …!! Hatte Tory mich dazu hierher geschickt, daß ich mich in das Vertrauen seiner Madonna einschlich …?! War es nicht wie ein häßlicher Verrat von mir, meine Maske dazu zu benutzen, um dieses reizende Geschöpfchen Freund zu werden …?!
Freund …?! – Ich prüfte mich, meine feinsten Empfindungen, dachte an den Augenblick, wo die Madonna meine Hand in den ihrigen gehalten hatte …
Ich war jung. Wenn ich den Frauen bisher aus dem Wege gegangen war, so hatte das seinen sehr ernst Grund. Eine große Leidenschaft hatte einst scheinbar alles in mir aufgezehrt, aufgesogen förmlich, was an wärmeren Gefühlen für das andere Geschlecht in mir lebte … – Gewiß – genug holde Weiblichkeit hatte auch nachher noch meinen Weg gekreuzt. Mit einem gewissen Lächeln überlegenen Wissens hatte ich auf alle herabgesehen: ‚Ich kenne eine, die hunderte von euch nicht aufwiegen, die alles in sich vereinte, was ein Weib begehrenswert macht! Was könntet Ihr mir geben …? Auch ich würde vergleichen, und dann würde die wilde Sehnsucht kommen nach der, die ich einst liebte … Und die jetzt tot ist für mich, tot sein muß!!‘ –
Heute an diesem Vorsommerabend inmitten der Felder, heute, nachdem die Madonna neben mir gesessen, ich in ihre schwermütigen Augen geschaut hatte, – heute zum ersten Mal seit Jahren hätte ich nicht überlegen lächeln können. Ein Neues war in meinem Herzen aufgegangen wie ein zarter Sprößling einer Wunderblume …
Oh – ich doppelter Betrüger …!! –
Ich ging heim und nahm mir vor, die Madonna nicht wiederzusehen …
Der Morgen kam. Ich schaute nach dem Wetter aus. – Klarer Himmel …! Da freute sich der würdige Herr Kanzleisekretär. Daß er am Abend vorher beschlossen hatte, einem blonden Kinde auszuweichen, hatte er längst vergessen …
Ich trank den Morgenkaffee in der Weinlaube im Gärtchen. Frau Klaus brachte mir die Zeitung vom Abend vorher. Ich blätterte darin, suchte nach der bewußten Annonce, fand sie auch. – Aber – nur die Überschrift war dieselbe. Der Text lautete anders …
Ah – also so sandte Tory dem Mörder die Antwort …
!! Vase !!
Mitnahme nur aus Übermut geschehen. Wenn Diskretion zugesagt wird, erfolgt sofort Rückgabe auch ohne Belohnung. Möchte Vase gern und schnell wieder loswerden.
Ich las – las nochmals. – Was sollte diese merkwürdige Antwort?! Was bezweckte Tory damit?! Glaubte er etwa, er würde den Unbekannten dazu verleiten können, die Vase aus meiner Wohnung abzuholen …?!
Doch – alles Grübeln war hier umsonst. Tory kam man so leicht nicht hinter seine Schliche! –
Und eine Stunde später saß ich wieder unter einer Eberesche zwischen Heckenrosen und Brombeersträuchern und … wartete …? Wartete klopfenden Herzens – – ich – Betrüger …!!
Die Madonna erschien sehr bald … Beide Hände streckte sie mir entgegen …
„Sie sind ein guter Arzt, mehr noch, Sie sind ein Zauberer …! – Ich werde Ihren Rat befolgen. Ich werde mir eine geregelte Tätigkeit suchen, werde arbeiten! Es war ein harter Kampf mit meiner Mutter. Bisher habe ich stets in allem nachgegeben, habe fast willenlos gehorcht. Jetzt blieb ich fest …“
Sie seufzte plötzlich, gab meine Hände frei.
„Ja – zu willenlos gehorchte ich,“ fuhr sie leise mit gesenktem Kopf fort. „Ich habe etwas getan, wogegen sich alles in mir sträubte, – etwas Schlechtes …!! Ich bin sonst nicht raffiniert, wirklich nicht. Ich hasse alles Unwahre, Unklare … – Doch – wozu diese Erinnerung aufrühren – wozu …?!“
Ich ahnte, worauf sie anspielte, auf jenen Vormittag, als sie zu dem Pfandleiher ging … Als sie auf dem Postamt sich das an die Kartenlegerin gerichtete Schreiben aneignete, um eine Legitimation für alle Fälle zu haben.
Wir setzten uns. Und ich sagte:
„Wozu man Erinnerungen aufgerührt, kleine Madonna?! – Vielleicht um sich von einem alten Manne bestätigen zu lassen, daß für das Schlechte genug Entschuldigungsgründe vorhanden sind, um es in anderem Licht erscheinen zu lassen, um wieder Ruhe vor dem eigenen Gewissen zu haben!“
Sie sah mich überrascht an.
„Gewissen – ja, das ist’s! – Oh, wie gut Sie doch in meiner Seele zu lesen verstehen …!“ meinte sie leise. „Ich vertraue Ihnen. Daher möchte ich Ihnen beichten, damit Sie entscheiden, ob ich schuldig bin. –
Ich hatte einen Auftrag, nein, einen Befehl erhalten von einem Manne, der mir nahe stehen sollte und den ich doch verachten muß, einem schlimmen Heuchler, einem … –
Doch nein, ich darf nicht sprechen! –
Ich gehorchte jedenfalls. Aber nachher packte mich die Angst vor der Ausführung des Befehles, als ich erst den Gang schon einmal umsonst gemacht hatte, als man von mir einen Ausweis, eine Legitimation verlangte. Da wollte es ein verführerischer Zufall, daß ich auf der Post ein Schriftstück fand, wie ich gerade einige Marken einkaufen wollte. Und … da habe ich dieses Schriftstück benutzt, habe …“
Tränen erstickten ihre Stimme. Und in ihrem reuevollen Schmerz lehnte sie sich wie haltsuchend an mich … Und ich habe sie sanft an mich gezogen … Ich, der würdige Herr Kanzleisekretär – der Betrüger!!