17. Kapitel

Inhaltsverzeichnis


Ich sitze wieder in der Laube von wildem Wein. Mutter Klaus’ leicht nach Zichorie schmeckender Kaffee erscheint mir als Mokka … Die ganze Welt um mich her ist verändert …

Ich liebe die blonde Madonna. Die Vergangenheit ist tot. Ich ziehe keine Vergleiche mehr …

Ich liebe sie! Und ich könnte vielleicht unaussprechlich glücklich sein, wenn ich … nicht der Kanzleisekretär Reinhold Henning wäre …!! – –

Frau Klaus bringt mir auch heute wieder die Zeitung. Ob der Mörder wohl geantwortet haben wird …? –

Meine Gedanken werden abgelenkt von dunklen Märchenaugen, schwellenden Lippen, einer süßen Stimme … –

Da habe ich sie ja schon, die Annonce, die Antwort des Mörders.

!! Vase !!

Diskretion zugesagt. Rückgabe in der Weise, daß zurückgeschafft wird, wo gefunden, mit aller Vorsicht. Antwort erbeten.

Ich schüttelte ganz ratlos den Kopf. – Zurückgeschafft …?! Also wieder in das Mordzimmer …?! – Wollte der Mörder sie sich von dort abholen …? – Undenkbar. Würde er so leichtsinnig sein?! Würde er nicht einen Falle befürchten, die man ihm stellte?! Oder vertraute er so fest darauf, daß der, der die Vase mitgenommen hatte, allen Grund hätte, diesen Diebstahl zu verheimlichen und keinerlei Hinterlist anzuwenden …?!

Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Jedenfalls, wäre ich der Mörder gewesen, so würde ich um keinen Preis mich nochmals in das leere Haus gewagt haben! –

Kaum hatte ich die Zeitung aus der Hand gelegt, da waren meine Gedanken auch schon wieder bei ihr – bei der Madonna, bei Hildegard – Hilde …

Ich sah nach der Uhr. Bald war es Zeit, bald würde ich wieder unter der Eberesche sitzen, lauschen und schauen, – auf die strahlende Jugend, die neben mir war … – –

Auch dieser Tag verging in einem Taumel junger Seligkeit für den alten Herrn Kanzleisekretär … Hildegard ahnte noch immer nichts …

Ein neuer Tag zog herauf. Aber heute war der Himmel mit jagenden Wolken bedeckt. Regen drohte. Der Wind pfiff durch die Bäume und Sträucher. Es war kühl draußen wie im März.

Ich mußte in meinem Hinterstübchen das erste Frühstück einnehmen. Mein natürlicher Bart war inzwischen so nachgewachsen, daß ich mich notwendig, damit der falsche sich durch Abblättern des Klebstoffes nicht löste, rasieren mußte. Gerade als ich bei verschlossener Tür, wieder zum Dr. Karl Wilde geworden, mit dem Rasieren fertig war und mir das Gesicht abtrocknete, hörte ich draußen Stimmen, – die meiner Wirtin und eine helle, liebe, süße … Aber diese klang so anders, so erschüttert durch eine große Erregung.

Was wollte nur Hilde hier …?! Was war geschehen …?!

Da klopfte es schon. Und Hilde rief laut, flehend …

„Öffnen Sie … Bitte, bitte, – ich muß Sie sofort sprechen, – so–fort …!!“

„Es geht nicht, Kind … Ich bin gerade beim Anziehen,“ rief ich zurück, vollständig kopflos vor Schreck. – Wie sollte ich mein Madonna jetzt wohl gegenübertreten …?! Ich war ja nicht ihr alter, würdevoller, gütiger Freund, ich war eben … ich selbst …!!

„So ziehen Sie irgend etwas über – schnell, schnell, – ich muß mit Ihnen reden, – muß, oder …“ Hildes Stimme erstickte in einem lauten Aufschluchzen …

Ich öffnete. Ich durfte es, soweit es sich um meinen Anzug handelte, – freilich mein Gesicht …!!

Aber ich sagte mir: Einmal muß diese Spiel ja doch aufgegeben werden! Ich wollte meine Madonna nicht aufgeben – niemals mehr – niemals!!

Ich trat zur Seite, damit die Klaus mich nicht sah.

Hilde stürmte ins Stübchen, schaute nach mir hin, wich mit weiten Augen zurück …

Ich drückte schnell die Tür im Schloß, stellte mich davor.

„Wer – wer sind Sie …?“ stotterte Hilde. Dann glitt ein Ausdruck des Erkennens über ihr Gesicht, das ganz bleich und blutleer war.

Sie sank in den plumpen Holzstuhl, schlug die Hände vor das in schmerzlich Enttäuschung zuckende Antlitz und stöhnte verzweifelt: „Auch Sie einer von der Polizei – auch Sie …!!“

Wie dann alles weiter sich abspielte, was ich gesprochen habe, was Hilde antwortete, ich weiß es nicht mehr, weiß nur, daß sie plötzlich an meiner Brust lag und stammelte: „Rette mich – nur nicht noch mehr der Schande, der Demütigungen …!“

Ein köstliches Gefühl der Sicherheit ist da wohl in mein Herz eingezogen. Madonna war mein – liebte mich, liebte meine Seele, hatte unter Tränen gelächelt, als ich scheu fragte, ob ich ihr so nicht fremd sei, so als der Schriftsteller Karl Wilde, – – gelächelt unter Tränen und geflüstert: „Fremd …?! Wie sollte das wohl möglich sein …!“ –

Ja – auf diese Einzelheiten besinne ich mich doch noch, – und darauf, daß wir uns küßten, daß es lange dauerte, ehe ich sie aus den Armen ließ, mich nur mit ihren Händen begnügte, die ich fest umspannt hielt … – –

Was in dem einsamen Hause ihrer Mutter geschehen war, ist bald erzählt. Zwei Kriminalbeamte waren erschienen, um Haussuchung abzuhalten. Hildes Mutter fiel vor Entsetzen in Ohnmacht, schrie nur noch auf: ‚Alles ist verloren …!‘ Da war Hilde unbemerkt entflohen, zu mir geeilt …

*     *     *

Nachdem ich damals frühmorgens das Haus durch den geheimen Gang und durch das Nachbargebäude verlassen hatte, wartete Viktor Ruhnau auf das Erscheinen der geschwätzigen Frau Meller. Diese hatte einen Schlüssel zur Flurtür, brauchte daher nicht erst die Alarmglocke in Bewegung zu setzen und kam nun, als sie in der kleinen Küche das Kaffeewasser auf den Gaskocher gestellt hatte, in des Doktors Arbeitszimmer, um hier mit dem Aufräumen zu beginnen.

Viktor saß am Sofatisch und sagte freundlich:

„Morgen, Frau Meller …!“

Die kleine, bewegliche Person erstarrte erst zur Salzsäule. Dann grinste sie und zeigte all ihre Zahnlücken.

„Ach nee, Herr Ruhnau, Sie hätten mir wirklich beinahe erschreckt! Sie sind doch mal ein ulkiger Herr …!! Wozu haben Sie sich denn so maskiert …?“

Sie trat näher, faltete die Hände über der Schürze, musterte kopfschüttelnd den Freund ihres Doktors und fügte hinzu: „Wahrhaf’gen Gott, wenn ich Ihnen nicht an die Stimme erkannt hätte, ich hätt geschworen, Sie wären’s nich!“

Viktor lachte. „Ich bin’s auch nicht, Frau Meller, – darf es nicht sein! Ich bin jetzt Dr. Karl Wilde.“

„Aber Herr Ruhnau, was reden Sie da bloß für’n Unsinn …! Nee – können Sie ulkig sein!“

„Mir ist nach Ulk verteufelt wenig zumute, – wirklich nicht! Alles andere als das! – Aber – da, setzen Sie sich! Der Kaffee hier ist noch heiß. Ich habe eben mit Karl ein Abschiedstässchen getrunken. Schenken Sie sich nur ein! Ich kenne ja Ihre Leidenschaft für dieses Getränk. – Vorwärts, – ich habe nämlich mit Ihnen zu reden!“

Sie gehorchte zögernd. Viktor mußte aber selbst die Kanne nehmen und ihr die Tasse füllen. Dann begann er, indem er im Zimmer langsam auf und ab ging, eifrig dabei seine geliebten Zigaretten qualmend …

„Nun passen Sie mal genau auf, Mellern! Sie wissen von dem Morde im Hause gegenüber … Die Polizei sucht natürlich mit allen Mitteln dem Täter auf die Spur zu kommen. Bisher ist ihr nur ein Erfolg beschieden gewesen, sie hat zwei Herren in Verdacht, die allerdings infolge einer Verkettung besonderer Umstände tatsächlich nicht ganz ‚hosenrein‘ erscheinen, was diesen Mord anbetrifft. In Wahrheit sind sie schuldlos. – Diese beiden Herren kennen Sie sehr gut, Frau Meller …“

„Um Himmels willen,“ rief das Weiblein entsetzt, „doch nicht etwa der Herr Doktor und Sie …?!“

Viktor blieb vor ihr stehen, nickte ernst. „Allerdings, Mellern, – Karl und ich! Und besonders hinter mir ist die Polizei am eifrigsten her. Deshalb die Verkleidung, deshalb war ich verreist. Aber auch Karl droht vielleicht Verhaftung. Er ist daher nun ebenfalls verduftet.“

„Gott nee – mir wird ganz schwach, Herr Ruhnau.“ Schnell trank sie die Tasse leer. „Wie sie nur bei solche Gelegenheit noch ‚verduftet‘ sagen können …!!“ fügte sie mißbilligend, aber auch bewundernd hinzu.

„Auf den Ausdruck kommt’s ja nicht an, nur auf die Tatsache als solche. – Also – Karl ist nun weg, und ich will hier seine Stelle einnehmen. Dies ist nötig. Warum, das sollen Sie später erfahren. Wenn nun jemand während des Vormittags, wo Sie doch noch hier sind, nach mir fragt, das heißt nach Ihrem Doktor, weisen Sie jeden mit dem Bemerken ab, ich sei krank und liege zu Bett. – Verstanden?“

„Jawohl, Herr Ruhnau. Wird gemacht. – Aber – hm –, wenn nun wer am Nachmittag oder Abends kommt?“

„Dann hängt draußen an der Flurtür ein Zettel: ‚Dr. Wilde erkrankt. Bestellungen usw. sind bei Frau Meller, Pfeffergang 2, Erdgeschoß links, auszurichten‘, und dann öffne ich einfach nicht. –

Im übrigen können sie unauffällig überall erzählen, ich hätte starkes Fieber, und man könnte nicht wissen, was für eine Krankheit sich noch daraus entwickeln würde.“

„Schön, soll gesorgt werden …“

„Die Hauptsache aber, Mellern, zu niemandem ein Wort, daß ich jetzt hier Ihren Doktor spiele! – Sie könnten uns sehr schwer schaden, wenn Sie nicht reinen Mund hielten! Sind Sie verschwiegen, so sollen Sie nachher bare fünfzig Mark erhalten.“

„Fufzig Mark – – Ach nee …?! Dafür lasse ich mir das Maul für Wochen zubinden, Herr Ruhnau! Aber – auch ohne dem Jelde hätt’ ich Ihnen nie reinjelegt durch Redereien – niemals nich! Gerade Ihnen nich! Sie sind ‘n so feiner Herr, und doch stets freindlich zu unsereinen, und zu Weihnacht haben Sie mir auch zehn Mark und das scheene Tuch jeschenkt …“

Viktor reichte der Alten jetzt die Hand.

„Also sind wir einig, Mellern?“

„Und ob …!!“

Der Tag verging. Niemand ließ sich sehen mit Ausnahme des Postboten und der Zeitungsfrau.

Viktor wurde die Zeit lang. Aber vor Dunkelwerden wollte er sich doch nicht ins Freie wagen. Erst gegen zehn Uhr abends verließ er des Freundes Wohnung mit Hilfe des Verbindungsganges, begab sich zu Katzenstein, der in alles eingeweiht wurde und die Annoncen besorgen mußte, ging dann nach dem Telegrafenschalter des Hauptpostamtes, wo er eine nur mit Viktor unterzeichnete lange Depesche an den Kriminalkommissar Haßfeld absandte, und besuchte schließlich noch eine kleine, gemütliche Kneipe in der Hundegasse, die das Stammlokal einiger älterer Prokuristen und Buchhalter Danziger Großfirmen war.

Hier setzte er sich in die Nähe des großen, runden Stammtisches, tat, als ob er eifrig die Zeitungen studiere, lauschte aber gespannt auf jedes Wort, das zwischen den Junggesellen gewechselt wurde, die zumeist fachsimpelten und von der Börse, überseeischen Geschäften und geschäftlichem Klatsch sprachen.

Viel Erfolg hatte er nicht auf seinem Horcherposten. Nur einmal fiel eine Bemerkung über die geradezu wahnwitzige Spekulationswut des Konsuls Schimpel, wobei einer der Herren erklärte: ‚Den bringt das Börsenspiel auch noch vor die Hunde …!‘ –

Gegen Mitternacht war Viktor wieder in dem Pfeffergang, öffnete mit einem Dietrich die Haustür des Nebengebäudes und gelangte so nach oben in des Schriftstellers Mansardenheim.

Viktor war vorsichtig. Er durchsuchte die Zimmer und die Nebenräume sehr genau, trat auch auf den Balkon hinaus, und wollte dann zu Bett gehen, – nicht etwa in des Freundes Schlafzimmer, sondern in der Kammer nebenan.

Im Schlafzimmer ließ er eine Weile Licht brennen und schaute durch das Kammerfenster auf die Straße hinab. Dort patrouillierte noch derselbe Mensch auf und ab, dem er schon bei der Heimkehr im Pfeffergang begegnet war, – natürlich ein Kriminalbeamter. Der als Arbeiter verkleidete Geheime schaute gerade jetzt nach den Fenstern des Schriftstellers empor, mußte also den Lichtschein bemerken und war nun wohl beruhigt in dem Gedanken, daß Dr. Wilde anwesend sei.

Viktor schloß sich für alle Fälle in die Kammer ein, entkleidete sich und suchte sein Kofferpatentbett auf, schlief fest bis gegen sieben Uhr morgens und sah wieder einen langweiligen, endlosen Tag vor sich. Er mußte diesen Stubenarrest aber geduldig ertragen. Bevor die Annoncen nicht ihre Schuldigkeit getan hatten, war nichts weiter zu unternehmen, abgesehen von geringfügigen Vorbereitungen für den ‚großen Schlag‘.

Die Meller erschien sehr bald, brühte Kaffee auf, erzählte allerlei aus ihrem kümmerlichen Leben an der Seite eines selbstsüchtigen, unverbesserlichen Trunkenboldes und eilte dann hinaus, als der Postbote sich wie immer durch starkes Klopfen an die Flurtür bemerkbar machte.

Sie überbrachte Viktor zwei an Dr. Wilde adressierte Briefe.

Der eine trug auf der Rückseite des Umschlags als Absender den Namen M. Schimpel. Der zweite war von einem Berliner Verlag. Diesen legte Viktor beiseite, den anderen öffnete er unbekümmert.

Sehr geehrter Herr!

Mein Stiefsohn Viktor Ruhnau hat, nachdem er das elterliche Haus verlassen hatte, zunächst bei Ihnen ein Unterkommen gefunden. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir uns gezwungen sehen, gegen Viktor bei Gericht einen Antrag auf Entmündigung zu stellen. Ich rate Ihnen also dringend ab, Viktor pekuniär Hilfe zu gewähren, da wir für seine Schulden nicht aufkommen werden. Er dürfte Ihnen verschwiegen haben, daß wir Vorsorge trafen, seine Wertsachen nicht in die Hände von Pfandleihern geraten zu lassen. Da er sich zur Zeit offenbar absichtlich irgendwo verborgen hält und Sie wissen dürften, wo er sich befindet, bitte ich ihm bestellen zu wollen, daß wir bereit sind, ihn wieder ins Elternhaus aufzunehmen, wenn er auf unsere ihm bereits bekannten Bedingungen eingeht: Eintritt in die Firma als Volontär und freiwilliger Verzicht auf das Verfügungsrecht über seinen Erbteil für weitere fünf Jahre. –

Hochachtungsvoll

M. Schimpel.