Kommissar Ihle trommelte nervös mit den Fingern auf dem blauen Aktendeckel, der die Aufschrift ‚Tompson, Mord‘ trug.
„Wie lange sollen wir denn noch warten, Spengler, he …?! Ein Tag nach dem andern vergeht, und wir kommen keinen Schritt vorwärts! Etwas muß geschehen! Der Brief Ruhnaus kann ebenso gut eine Irreführung sein …! Ich bin dafür, daß wir uns wenigstens der Person des angeblich erkrankten Schriftstellers versichern.“
Er hatte ziemlich erregt gesprochen und den Wachtmeister dabei ärgerlich angesehen, denn dieser war es ja gewesen, der ihn dazu bestimmt hatte, jenem Briefe Glauben zu schenken und den Doktor Wilde unbelästigt zu lassen.
Spengler erwiderte sehr ruhig und sehr feierlich:
„Ich gestatte mir zu bemerken, daß der Brief nur in einer Hinsicht Einfluß auf unseren Nachforschungen gehabt hat. Wir haben Dr. Wilde nicht verhaftet! – Im übrigen haben wir genau so gehandelt, als existierte der Brief gar nicht, das heißt, wir haben weiter nach dem verschwundenen Ruhnau gesucht, der sich meines Erachtens hier in Danzig verborgen hält, haben die Personen, auf die es uns ankommt, ständig beobachten lassen und mithin … gar nichts verabsäumt! Eines dagegen haben wir gewonnen in diesen Tagen, die Überzeugung, daß wir so nicht vorwärtskommen! Wir sind auf dem toten Punkt angelangt! Ob wir auf diesem noch ein paar Tage länger verharren müssen, bleibt sich gleich! Was würde uns auch die Verhaftung des Doktors helfen?! Nichts – gar nichts. Nur die Öffentlichkeit würde beruhigt werden! – – Nein, Herr Kommissar, ich kann auch heute nur wiederholen: Der Ruhnau weiß tatsächlich mehr als wir!“
Ihle war aufgesprungen und lief im Zimmer umher.
„Wenn der Doktor womöglich auch ausgekniffen ist, wenn wir auch in dieser Hinsicht die Geleimten sind!!“ rief er im Zwiespalt seiner Empfindungen, da er ja Spenglers Ausführungen innerlich nur beipflichten konnte, so schwer ihm das auch wurde.
„Er ist zu Hause, Kommissar, – ganz bestimmt, – beruhigte der Wachtmeister ihn. „Ich habe seine Aufwärterin noch heute Vormittag als Gasrevisor verkleidet, in der Mansardenwohnung gesprochen. Der Doktor war in seinem Schlafzimmer. Ich hörte ihn mit der Frau reden, als ich mir an dem Gasautomaten zu schaffen machte. Und – auskneifen …?! Bei der strengen Überwachung des Hauses?! – Ausgeschlossen!“
Es klopfte, und herein trat ein Kriminalbeamter in Zivil, der in der verflossenen Nacht im Pfeffergang Posten gestanden hatte.
„Nun, Merkel, – was gibt’s,“ fragte Ihle kurz.
„Ich möchte Ihnen nur etwas mitteilen, Herr Kommissar, was mir gestern Nacht aufgefallen ist. Ich hatte doch Dienst im Pfeffergang. Um nun nicht fortwährend vor jenem Hause auf und ab laufen zu müssen, hatte ich mich zwei Häuser weiter gegenüber in einen tiefen Torweg auf einen Prellstein gesetzt. Gegen halb elf abends kam ein älterer Mann aus dem Nebengebäude links heraus, schloß hinter sich die Haustür ab und wollte nun nach der Breitgasse zu davongehen, als der Schließer dieses Häuserblocks ihm begegnete. Ich hörte, wie der Schließer den Mann ziemlich barsch fragte, wer er eigentlich sei und was er in dem Hause zu suchen habe. –
‚Sie sind mir schon gestern aufgefallen,‘ sagte er. ‚Ich habe mich erkundigt, ob Sie ins Haus gehören. Die Leute, die hier wohnen, kenne ich alle. Sie aber nicht. Am liebsten würde ich Sie mal nach der Polizeiwache nehmen!‘ Worauf der Mann erwiderte: ‚Bitte, tun Sie das ruhig. Dann holen Sie aber vorher noch die Witwe Schmitz. Von der komme ich nämlich gerade. – Halten Sie mich vielleicht für einen Dieb?! Ich bin jederzeit im Stande, mich zu legitimieren. Aber nicht Ihnen gegenüber! So grob laß ich mich nicht anfahren!‘ –
Der Schließer, wohl etwas eingeschüchtert, brummte eine Entschuldigung und ging weiter, während der alte Herr nach der Breitgasse zu verschwand. – Ein Uhr morgens kamen dann zwei Männer von der Breitgasse her den Pfeffergang entlang und betraten das Haus, in dem die Schmitz tatsächlich wohnt. Einer von ihnen war derselbe, der dem Schließer gegenüber so sicher aufgetreten war. –
Um sieben Uhr früh wurde ich heute abgelöst. Müller 2 übernahm die Wache. Und bis dahin waren die beiden aus dem Hause nicht wieder herausgekommen. –
Ich war mißtrauisch geworden. Nachdem ich mich dann bis gegen vier Uhr nachmittags ausgeschlafen hatte, begab ich mich nach dem Pfeffergang. Ich hatte Müller wegen der beiden Männer Bescheid gesagt. Er versicherte mir, sie hätten das Haus noch immer nicht verlassen. –
So, das wollte ich nur melden.“
Ihle und Spengler tauschten einen langen Blick.
Und der Kommissar befahl dann: „Gehen Sie sofort zu der Schmitz, Merkel. Wenn diese nichts von den beiden weiß, dann …!! Man kann ja auch über das Dach vielleicht in des Doktors Mansardenwohnung gelangen!!“ – – –
Der ‚falsche‘ Dr. Wilde hatte an demselben Abend, als das eben Geschilderte auf dem Polizeipräsidium verhandelt wurde, einen lieben Gast bei sich.
Die beiden Herren saßen beim Abendrot und unterhielten sich sehr angeregt, tauschten alte Erinnerungen aus und bedauerten nur, daß nicht auch der echte Doktor zugegen war.
„Er wird dir gefallen,“ meinte Viktor warm. „Ein prächtiger Mensch. Als Kriminalschriftsteller von einer unerschöpflichen Phantasie, als Mensch goldeswert!“
Als die Uhr an der Wand zehn schlug, machten sie sich zum ausgehen fertig.
„Hoffentlich laufen wir nicht dem verd… Schließer in die Arme!“ meinte Viktor lachend. „Ich fürchte heute würde er doch stutzig werden.“
„Und wenn er sich bei der Schmitz erkundigt hat, ob deine Angaben stimmen?!“ fragte der Gast nachdenklich.
„Hm – das wäre fatal! – Na – hoffen wir, daß er harmlos genug ist, an den Schwindel geglaubt zu haben.“ –
Wieder war es etwa um einhalb elf Uhr, als die Haustür des Nachbargebäudes sich öffnete und zwei Männer nach einem spähenden Blick die Straße aufwärts und abwärts den Pfeffergang betraten.
Bis dicht an die Einmündung in die Breitgasse waren sie bereits gelang, als hinter ihnen eine Trillerpfeife ertönte.
„Verflixt!“ brummte Ruhnau. „Du, ich ahne, die Geschichte geht heute schief!“
„Allerdings!“ meinte der andere. „Total schief!“
Aus einer Haustür vor ihnen waren drei Gestalten wie Geister aufgetaucht, kamen auf sie zu. Und hinter ihnen versperrten gleichfalls drei Kriminalbeamte den Weg.
Kommissar Ihle sprach die beiden an.
„Einen Augenblick, meine Herren.“ Er zog seine Legitimationsmarke und nannte seinen Amtstitel. Dann fügte er hinzu: „Woher kommen Sie?“ –
„Von Frau Schmitz, der Witwe eines Straßenbahnoberkontrolleurs, die dort in Nummer …“
„Danke!“ unterbrach Ihle ironisch den alten Herrn. „Die eine Lüge genügt mir! – Können Sie sich ausweisen?“
Viktor flüsterte seinem Begleitern schnell zu: „Gib dich nicht zu erkennen!“
„He – was haben Sie da zu flüstern!“ fuhr Ihle ihn an. „Vorwärts – haben Sie Papiere bei sich, die über Ihre Person Aufschluß geben?“
„Nein,“ erwiderte Viktor. Und auch der andere sagte: „Bedaure …!“
„Dann müssen Sie mit!“ entschied der Kommissar.
Ein bereitgehaltener Taxameter brachten die beiden sowie Ihle und Spengler nach dem Polizeipräsidium.
Hier in des Kommissars Dienstzimmer konnten die Beamten sich ihren Fang genauer ansehen. Der Alte machte äußerlich einen fast ärmlichen Eindruck, der andere dagegen war ein kräftiger, schlanker Herr in den besten Jahren mit scharfgeschnittenem, bartlosem Gesicht und sehr elegant gekleidet.
Bevor Ihle noch nach dieser schnellen Musterung etwas äußern konnte, begann der ältere Herr mit feinem Lächeln:
„Wenn Sie mich gestern verhaftet hätten, Herr Kommissar, wäre mir’s recht unangenehm gewesen. Heute macht es nichts mehr aus.“ Er griff in die Innentasche seines Rockes und holte einen Brief hervor, reichte ihn Ihle und meinte: „Ich brauche also die Post nicht mehr zu bemühen. Sie sehen, der Brief trägt Ihre Adresse.
Spengler beugte sich vor, erkannte sofort die Handschrift.
„Sie sind Viktor Ruhnau?“ fragte er gespannt. Ihle fuhr zusammen, rief: „Wirklich – Ruhnau?“
„Ja, meine Herren. Ich freue mich, daß ich Ihnen diese Überraschung bereiten konnte. – Ich denke aber, wir nehmen Platz. Unsere Unterredung dürfte einige Zeit beanspruchenden.“
Der Kommissar drehte noch immer halb verlegen den Brief in den Fingern hin und her.
„Das – das ist ja unglaublich …!“ sagte er unsicher. „Sie waren also in Dr. Wildes Wohnung verborgen! Eine ziemliche Unverfrorenheit!“
„Nicht verborgen. Ich habe mich dort ganz frei bewegt, nur – krank war ich nicht. Ich vertrat meinen Freund sozusagen.“
„Daraus werde ein anderer klug!“ rief Ihle unwillig. „Sie schlagen hier überhaupt einen Ton an, der …“
Viktor schüttelte den Kopf und fiel ihm ins Wort:
„Wir sind doch Verbündete, Herr Kommissar. – Gestatten Sie jetzt, daß ich Ihnen diesen meinen Begleiter hier vorstelle – –: Herr Kriminalkommissar Haßfeld aus Berlin!“
Ihle blieb der Mund offen. – Haßfeld streckte ihm lachend die Hand hin:
„Es regnet Überraschungen, Herr Kollege. – Damit Sie aber an mir nicht zweifeln – hier meine Legitimation mit abgestempelter Photographie!“
Ihle kam langsam zu sich. „Nein – so etwas! Wer hätte das denken können!“ meinte er, jetzt endlich mit vollem Verständnis für die eigenartige Komik der Situation. –
Man saß jetzt zwanglos um Ihles Schreibtische herum. Viktor Ruhnau ließ sein Zigarettenetui die Runde machen und blies behaglich die ersten Züge in tadellosen Ringen von sich. Dann begann er:
„Der Brief dort enthält das, was ich jetzt hier vortragen muß. – Ich will mir die Sache erleichtern und ihn vorlesen. Zunächst aber noch einiges zur Aufklärung für Sie, Herr Ihle, und Herrn Spengler. –
Ich sagte vorhin, daß mir gestern eine Verhaftung peinlich gewesen wäre. Gestern hatte der, den ich überführen will, nämlich noch nicht auf den Köder angebissen. Heute hat er’s. –
Hier habe ich die heutige Abendzeitung, und hier sehen Sie eine Annonce, die lautet:
!! Vase !!
Diskretion zugesagt. Rückgabe in der Weise, daß dorthin zurückgeschafft wird, wo gefunden, mit aller Vorsicht. Antwort erbeten.
Diese Annonce ist nicht die erste mit der Überschrift ‚!! Vase !!‘ Und die Antwort, die ich auf die erste dieser Anzeigen durch den Pfandleiher Katzenstein einrücken ließ, ist eben der Köder gewesen. Morgen Abend wird in der Zeitung eine neue zu finden sein.
!! Vase !!
Einverstanden! Gegenseitiges Interesse an Diskretion! Heute früh schon an Ort und Stelle gebracht.
Und vielleicht morgen nacht schon können wir den Mörder haben!“
Ihle und Spengler riefen jetzt in einem Atem.
„Die Vase ist der gestohlene Gegenstand …!!“
„Die Vase – ganz recht!“ nickte Viktor. „Es ist das große runde Ding, das Herr Hönig uns fortschleppen sah.“ Und nach kurzer Pause fuhr er fort: „Sie werden nicht verlangen, meine Herren, daß ich Ihnen den Namen des Mörders schon jetzt nenne und auch das Motiv dieses Verbrechens erläuterte. Gönnen Sie mir bitte die Genugtuung, Ihnen die Spannung auf den Erfolg meines Planes erhalten zu dürfen! Dieser Plan war in allen Einzelheiten genau zurechtgelegt und muß glücken, wenn Sie mir helfen wollen, woran ich nicht zweifle. Hätte der Mörder zum Beispiel einen anderen Ort zur Rückgabe der Vase bestimmt, so wäre ich genau so bereitwillig darauf eingegangen, – denn ob Sie ihn am Tatort selbst oder anderswo festnehmen, bleibt sich gleich. – So, und nun will ich den heutigen Brief verlesen:
Um den Täter mit voller Sicherheit an den Ort zu locken, wo Sie ihn verhaften können, ist folgendes nötig: Die morgigen Abendzeitungen müssen die Nachricht bringen, daß der Schriftsteller Dr. Wilde unter dem Verdacht des an dem Engländer Tompson verübten Mordes heute, das heißt morgen mittag, verhaftet worden und die Polizei auch dessen Komplizen auf der Spur ist. –
Hierdurch wird der Mörder in Sicherheit gewiegt werden. Er braucht den, der mit ihm durch die ‚Vase‘-Anzeige verhandelt hat, nicht mehr zu fürchten. – –
Das ist der eine Punkt. Dann der zweite. Morgen im Laufe des Tages kann in den am Forstweg in Heubude einsam gelegenen, von einer Witwe Schollert bewohnten Hause in aller Stille eine Haussuchung vorgenommen und die Schollert sowie ihre Tochter dann bis zur Festnahme des Täters bewacht werden. Man wird wahrscheinlich bei der Schollert außer wertvollem Schmuck aller Art auch verschiedene Pfandscheine finden. Beides, Schmuck und Pfandscheine, werden helfen, den Mörder auch früherer Verbrechen zu überführen. – –
Was schließlich die Vorbereitungen zur Festnahme des Täters anbetrifft, so müssen in dem leeren Hause im Pfeffergang unauffällig morgen nach Dunkelwerden Beamte sich einschleichen und in der Nähe des Mordzimmers sich verbergen. Ebenso sind Beamte auf dem Hofe des Lagerplatzes zu postieren, der sich von der Rückseite des leeren Hauses bis nach der Lavendelgasse erstreckt. –
Ich selbst werde mich gleichfalls rechtzeitig im leeren Hause einfinden. – –
Sollten Sie, Herr Kommissar, im Zweifel sein, ob ich ein ehrliches Spiel mit Ihnen treibe, so mache ich Sie als besten Beweis meiner Zuverlässigkeit auf die Anzeigen aufmerksam, die unter der Überschrift ‚!! Vase !!‘ in den Abendzeitungen erschienen sind. Die Vase ist nämlich der Gegenstand, den mein Freund und ich nach Entdeckung des Mordes aus dem leeren Hause mitnahmen. –
Ich hoffe, diese Andeutung wird Sie ganz auf meine Seite bringen. Alles Übrige erfahren Sie morgen von mir. –
Bis dahin bleibe ich – Ihr Verbündeter Viktor Ruhnau. – –
Noch etwas: Vorsicht und Schweigen gegen jedermann!“ –
Ihle verzog das Gesicht in komischer Verzweiflung, schaute Spengler an und sagte:
„Sie, verehrter Jugenderzieher a. D., – verstehen Sie was von alledem?! – Eine Vase als Köder …?! Und in Heubude ein einsames Haus …?! – Das ist wahrhaftig eine ganz tolle Geschichte …!!“
Spengler nickte betrübt. Worauf Viktor heiter erklärte: „Es handelt sich sogar um eine Lahore-Vase, meine Herren, und weiter um ein Brillantgeschmeide, das jetzt in Katzensteins Tresor ruht, schließlich noch ein Brillantdiadem und um ein zweites Diamantenhalsband – alles indischen Ursprungs!!“
Ihle hielt sich die Ohren zu. „Hören Sie auf, Herr Ruhnau, – hören Sie auf! In meinem Schädel schwirrt’s schon wie im Bienenhaus!!“ Dann wandte er sich an Haßfeld:
„Kollege, was haben Sie nun eigentlich mit dieser Sache zu tun?“
„Genau dasselbe wie Sie! Sie suchen einen Mörder, ich einen Verbrecher, dessen Taten allerdings schon Jahre zurückliegen. Aber, nichts ist so fein gesponnen, es kommt doch an das Licht der Sonne!“