Ahnungslos kam Viktor Ruhnau um halb ein Uhr mittags nach Hause. –
Er sagte, als er mir diesen Teil der Geschichte erzählte:
„Sieh mal, meine schön angezogene Seele, lieber Trommler, war noch so ganz erfüllt von dem weichen, entzückenden Liebreiz der Verschleierten, daß ich der Bande ganz wie im Dusel in die Krallen fiel …“ –
Gut gelaunt, betrat er sein Zimmer, legte Hut und Stock weg und steckte sich gerade eine Zigarette an, als die alte Dörte erschien.
„Der junge Herr möchte mal in den Salon kommen.“
Viktor nickte nur. Er dachte an die Madonna … Hätte er schärfer achtgegeben, wurde ihm kaum entgangen sein, daß Dörte, die ganz auf Seiten des Herrn Manfred Schimpel stand, höhnisch grinste und denselben Hohn auch in die Aufforderung legte, die ja völlig die Frage offen ließ, wer eigentlich Viktor zu sprechen wünsche. –
Im Salon der geräumigen, vornehm und solide ausgestatteten Wohnung des Herrn Konsuls Schimpel – den schönen Titel und einen Orden verdankte er einer mittelamerikanischen Republik und dem Umstande, daß er dem Vermittler tausend Mark mehr geboten hatte als sein Konkurrent, Herr Konrad – saßen um den großen Tisch in stilvollen Seitensesseln die Vertreter der Familie Ruhnau–Schimpel. –
Erstens: Die Hauptperson: der Herr Konsul, mittelgroß, kräftig, leicht ergrautes Haar, hochgestrichener, gefärbter Schnurrbart, goldener Kneifer, dahinter ein Paar kühle, graue Augen – sehr sorgfältig angezogen – im ganzen eine Erscheinung, die imponierte. –
Zweitens: Frau Anna Schimpel, verwitwete Ruhnau – korpulent, Doppelkinn, stark gepudert und parfümiert; Gesicht ganz unbedeutend. –
Drittens: Herr Gymnasialprofessor Dr. Pinkemüller, Bruder der Frau Schimpel, solide, ehrbar, verknöchert und verbittert durch den Daseinskampf bei fünftausend und achthundert Mark Gehalt und sieben Kindern. –
Viertens: Fräulein Adele Ruhnau, altes, hageres Fräulein mit freundlichem, aber stets etwas verängstigtem Gesicht und dem Naturparfüm der Katzenliebhaberin, deren Pussis und Mietzen nicht stubenrein sind. –
Das war der Gerichtshof, vor dem Viktor sich heute urplötzlich zu verantworten hatte.
Als der schlanke, so selbstsicher auftretende Student die feierlichen Gesichter sah, wußte er sofort Bescheid. – Das würde wieder einen netten Tanz geben …!! Wer weiß, was der hohe Familienrat wieder von ihm wollte …!!
„Setz’ dich!“ begann der Konsul sehr ernst, aber mit einem Unterton, als habe er tiefes Mitleid mit dieser verirrten Seele.
Viktor hatte sich leicht verbeugt.
„Ich kann auch stehen,“ meinte er, indem er sich gegen den Flügel lehnte, sein Monokel vornahm und es zu putzen begann.
Der Konsul seufzte leise. Dann hub er an, erst mit halber Stimme, die aber in scheinbar wachsender Erregung mehr und mehr sich verstärkte: „Du bist jetzt wieder einmal vier Wochen während der Osterferien in deinem Elternhause gewesen, so daß wir Gelegenheit gehabt haben, dich und deine Daseinsführung unparteiisch und persönlich betrachten zu können. Zu unser aller größtem Kummer mußten wir feststellen, wie wenig all unsere eindringlichen Ermahnungen früherer Zeiten genützt haben. Nach wie vor vergeudest du das Geld mit vollen Händen, treibst dich die Nächte umher, betrinkst dich …“
Konsul Schimpel mußte hier innehalten. Hell und scharf war Viktors Stimme dazwischen gefahren …:
„Betrinken? – Bitte – Beweise?!“
„Ja – du betrinkst dich – sinnlos sogar! Du bist vorgestern morgen sieben Uhr heimgekehrt in einem völlig durchnäßten, mit Schlamm beschmutzen Anzug, ohne Hut …“
„Aha – Dörte hat wohl die Angeberin gespielt?!“
„Allerdings – aus ehrlicher Entrüstung heraus! Du hast ihr gegenüber zugegeben, ins Wasser gefallen zu sein als …“
„Danke – kenne ich!“ schnitt Viktor den Satz mit ironischem Lächeln entzwei.
„Unerhört!“ stieß Professor Pinkemüller hervor.
Der Konsul machte eine Handbewegung, als wollte er sagen: ‚Sieh ihm das nach, dem armen Gestrauchelten!‘ Dann nahm er die Aufzählung der moralischen Gebrechen seines Stiefsohnes wieder auf:
„In diesen vier Wochen bist du fünfmal betrunken nach Hause gekommen …“
„Bitte – viermal, und nur stark angeheitert …“ verbesserte Viktor seelenruhig.
Der Professor klopfte, flatternd vor Empörung, mit dem Knöchel des gekrümmten Zeigefingers auf den Tisch …
„Wüstling!!“ fauchte er dazu.
Viktor sah ihn an und zuckte nur die Achseln.
„Fünfmal – fünfmal!“ donnerte der Konsul los.
„Streiten wir uns nicht um einmal mehr oder weniger,“ meinte Viktor indem er sich seine Fingernägel besah.
„Dann weiter hast du auch wieder Schulden gemacht – Rechnungen sind eingegangen, die …“
„… die nur ein Schnüffler, mit einem Nachschlüssel bewaffnet, bei mir im Zimmer gefunden haben kann,“ vollendete Viktor kalt.
„Soll das auf mich gehen?!“ brüllte der Konsul, der jetzt jede Selbstbeherrschung verloren hatte. „Deine Mutter hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, sich zu überzeugen, ob …“
„Arme Mama, hast du dich zu dieser Spioniererei wirklich bestimmen lassen?“ fiel der Student dem Tobenden abermals ins Wort.
Der Konsul schnellte empor.
„Genug, genug, Lotterbube …!! Wir werden dir zeigen, daß …“
Da erhob sich auch Professor Pinkemüller und streckte den Arm so gebieterisch gegen den Lasterhaften aus, daß ihm die Manschette über die Hand flog und seiner Schwester gerade in den Schoß fiel.
„Wir könnten dich deines Lebenswandels wegen unter Vormundschaft stellen lassen,“ sagte er voll tiefster Verachtung. „Aber wir haben noch ein anderes Mittel! Dein seliger Vater, der dir gegenüber nur leider stets zu schwach gewesen ist, der schon aus dem heranwachsenden Jüngling einen eitlen Fant, einen …“
Bis jetzt hatte Viktor sich beherrscht. Nun aber riß auch ihm der Geduldsfaden.
„Ich verbiete mir, daß hier das Andenken an meinen Vater durch derartige Bemerkungen geschmäht wird!“ rief er mit einer Stimme, die all das Müde, Blasierte völlig verloren hatte. „Ich weiß jetzt, woran ich bin! In dieser Sache liegt System! Man will mich aus dem Vaterhause verdrängen, will mich als einen moralisch Verkommenen hinstellen! – Gut – ich gehe freiwillig! Nur verlange ich natürlich, daß …“
Sein Zorn war schon wieder verraucht. Diese Leute hier – auch seine ihm längst völlig entfremdete Mutter, standen ihm so fern wie gänzlich Unbekannte. Für seinen Stiefvater und den scheinheiligen Professor empfand er sogar nur Verachtung. Einzig und allein die Tante Adelheid bildete eine Ausnahme, war nichts als eine Verführte, die in ihrer Altjungferlichkeit und Weltfremdheit alles glaubte, was man ihr nur mit der nötigen Überzeugungstreue vorerzählte. Sie saß denn auch jetzt ganz verschüchtert da, rang stumm die Hände und wußte nicht, wo sie die Augen lassen sollte.
Nein – sein Stiefvater und der Professor waren es wirklich nicht wert, sich über sie aufzuregen! Und daher wurde auch Viktors zu anfangen so scharf klingende Verteidigung schnell wieder matter und ging in eine ironische Tonart über, die, freilich unbeabsichtigt, auf den Konsul den Eindruck der Unsicherheit machte und ihm den Mut gab, Viktor ins Wort zu fallen.
„Was du zu verlangen hast und was nicht, werden wir dir nachher mitteilen. Zunächst bitte ich mir so viel Achtung aus, daß du mich nicht unterbrichst! – Wenn es lediglich deine Trunk- und Verschwendungssucht wären, die uns Sorgen bereiten, schwere, schwere Sorgen, ging das noch hin. Aber – du bist als Sohn einer hochachtbaren, hochangesehenen Patrizierfamilie dieser alten Handelsstadt schon so weit gesunken, daß du … deine Wertsachen versetzt …!! Heute Vormittag bist du in einem Leihhause gewesen …“
„Ah – soweit geht die Spioniererei schon!“ lachte Viktor verächtlich auf.
„… gewesen und hast Uhr und Kette deines seligen, hochverehrten Vaters, – – – Wie meintest du eben?“
„Ekelhaft! – sagte ich.“
Der Konsul warf seiner Frau einen Blick zu, als ob er sie ganz besonders auf diese bodenlose Frechheit aufmerksam machen wollte. – Dann fuhr er eisig fort:
„Auch sonst bist du auf Abwege geraten, die dich notwendig in das moralische Verderben hineinführen müssen. Du bist heute, nachdem du dem Pfandleiher Katzenstein Uhr und Kette vorläufig übergeben hattest, einem jungen Mädchen nachgeeilt, hast sie …“
„Danke für Einzelheiten. Ich weiß das alles sehr gut!“ fiel Viktor ihm ins Wort, indem er sich mit übertriebener Höflichkeit verbeugte. „Wenn irgend etwas mir die Augen über diese Umtriebe hier zu öffnen im Stande war, so ist es diese harmlose Geschichte. Ich glaube, daß mein mißglücktes Abenteuer von heute noch immer anständiger ist, als wenn ein Familienvater und Pädagoge in aller Heimlichkeit Kneipen aufsucht, die …“
„Bube – Bube!!“ Der Professor war aufgesprungen. Wieder flog ihm die rechte Manschette über die Hand und auf Viktor wie ein weißes Geschoß zu. Der stieß sie mit dem Fuß bei Seite …
„Bube – wagst du mich etwa zu verdächtigen?! – Schwager – heraus jetzt mit dem, was zu sagen ist, damit dieser junge Mensch einsieht, daß wir – wir seine Meister sind …!!“
Eine Dunstwolke von Haß und unüberwindlicher Feindseligkeit schien das Zimmer zu füllen.
Gegensätze prallten hier aufeinander, wie sie kaum größer sein konnten …