20. Kapitel

Inhaltsverzeichnis


Ihle hatte für ein einfaches kaltes Abendbrot und etwas Trinkbares gesorgt.

Wir saßen in seinem Dienstzimmer um den großen Schreibtisch herum. Papierservietten vertraten das Tischtuch, und mit Tellern, Messern und Gabeln war es auch schwach bestellt. So war es zwar recht gemütlich, doch – wir hatten alle keinen rechten Hunger. Nur die Kognakflasche und die beiden vorhandenen Gläschen wanderten häufig von einer Hand in die andere.

Spengler erzählte, wie er dazu gekommen war, seinen friedlichen Dorfschullehrerberuf gegen seinen jetzigen etwas aufregenderen zu vertauschen. Die Geschichte war ein ganzer Roman, er verstand zu erzählen, und die Zeit verging schnell.

Ihle sah nach der Uhr. –

„Aufbruch, meine Herren!“ sagte er und erhob sich. „Wir müssen kurz nach zehn Uhr an Ort und Stelle sein.“

Alles war schon vorher verabredet.

Tory und ich bildeten sozusagen die Vorhut. Dann kam in hundert Schritt Entfernung das Gros, Ihle und Haßfeld, und Spengler wieder stellte allein die Nachhut dar.

Als wir in die Breitgasse einbogen, begann es zu tröpfeln. Die Luft war mit warmer Feuchtigkeit gesättigt, richtige Gewitterluft.

Im Pfeffergang waren abends ‚zufällig‘ gerade die beiden Laternen rechts und links vom leeren Hause durch einen ‚Betrunkenen‘ nicht nur ausgedreht, sondern auch der Glühstrümpfe beraubt worden, so daß bei dem sternenlosen Himmel vor dem alten leer stehenden Gebäude nun eine sehr zweckdienliche Finsternis lagerte.

Tory hatte im Moment die Haustür mit dem Dietrich geöffnet, nachdem hinter uns Ihle dreimal kräftig gehustet hatte – ein Zeichen, das uns besagte: Die im Pfeffergang postierten beiden Beamten haben nichts verdächtiges bemerkt und der Weg ist frei!

Wir fünf stiegen nun im Dunkeln die Treppen empor. Die Haustür war wieder abgeschlossen worden. – Wir nahmen uns nicht weiter in acht. Mochten die Stufen ruhig knarren.

Jetzt ging’s in das Mordzimmer hinein. Auch diese Tür wurde hinter uns wieder verschlossen, wie wir sie gefunden hatten.

In dem unheimlichen Raume war es stockfinster. Wir standen dicht beieinander regungslos still, bis Ihle seine Laterne eingeschaltet hatte und uns nun schnell unsere Plätze zuwies und zwar so, wie Tory es gewollt hatte.

Tory und ich setzten uns auf die morschen Dielen in die Ecke links von den Fenstern. Als Deckung hatten wir einen alten Aktenbock vor uns. Spengler wieder saß vor dem Mauerpfeiler zwischen den Fenstern hinter zwei zusammengerückten Stühlen, und Ihle und Haßfeld hatten die andere Fensterecke uns gegenüber inne, wo ein kleiner, umgelegter Tisch sie gegen vorzeitiges Bemerktwerden schützte. –

Wir fünf hatten unsere Plätze also so, daß die Tür nach der Treppe links von uns, die nach dem Nebenraum rechts von uns lag, während der große Tisch mit der Vase darauf vor uns stand. Da wir uns mit dem Rücken gegen die Wand lehnen konnten, war die Sitzgelegenheit leidlich bequem, wenn auch etwas hart.

Nachdem wir uns zurechtgesetzt hatten, schien das dunkle Mordzimmer wieder so still und leer zu sein wie vordem. Nur ein sehr gutes Ohr hätte das Atmen mehrerer Menschen vielleicht wahrgenommen. –

Was die folgenden Vorgänge anbetrifft, so kann ich natürlich nur meine eigenen Beobachtungen hier wiedergeben. Ich glaube aber, daß auch die anderen genau dasselbe gesehen und gehört haben müssen. – –

Die anfangs so undurchdringliche Dunkelheit vor mir – von den Fenstern konnte ich, so wie ich saß, nichts sehen – wurde bald durch einen hellen Fleck ein wenig lichter, der bei etwa runder Gestalt allmählich deutlicher und deutlicher wurde.

Tory hatte mich durch ein paar Worte, die wie ein Hauch an mein Ohr drangen, auf ihn aufmerksam gemacht. Ich hätte ihn aber ohnedies bemerken müssen, da er wie gesagt langsam an Lichtstärke zunahm und die Umrisse auch bald ziemlich klar hervortraten.

Dieser runde helle Schein machte ganz den Eindruck, als wenn eine vor uns ausgespannte schwarze Leinwand etwa einen Meter über dem Boden ein mit durchsichtigem Papier überklebtes, großes Loch hätte, das von hinten durch eine Laterne mit weißem Licht, deren Docht man höher und höher schraubte, erleuchtet wurde.

Ich war mir schnell klar darüber, daß es nur die Lahore-Vase sein konnte, die jetzt infolge der besonderen Bestandteile ihrer Gußmasse die am Tage aufgesogene Lichtmenge verstärkt wieder ausstrahlte. Bald wurde das Leuchten so intensiv, daß ich einen Teil des großen Tisches ebenfalls erkennen konnte. Die Umrisse der Vase hoben sich nun in leicht verschwommenen Linien von dem ringsum lastenden Dunkel ab.

Ich gebe zu, daß meine Nerven, die schon vorher in Erwartung der kommenden Dinge recht rebellisch gewesen waren, jetzt so ziemlich versagten.

Man stelle sich auch vor, ich saß in einem finsteren, dumpf riechendem Zimmer, in dem vor kurzem ein Mensch unter den Händen eines Mörders sein Leben ausgehaucht, saß wenige Schritte von dem Kachelofen entfernt, neben dem die Leiche in der Drahtschlinge an der Wand gehangen hatte; und ich saß hier und lauerte darauf, daß der erscheinen sollte, der die Leiche dort an dem Haken aufgeknüpft hatte …!!

Möglich, daß die Leute vom Fach wie Ihle, Haßfeld und Spengler und auch Tory, der am besten eingeweihte, durch diese Vorstellung, sich am Tatorte eines Mordes zu befinden, nicht weiter berührt wurden. Mir jedenfalls war schon reichlich unbehaglich zu Mut, bevor noch die Lahore-Vase ihre geheimnisvolle Fähigkeit zu beweisen begann. Als diese nun deutlicher und deutlicher sich bemerkbar machte, rannen mir kalte Schauer über den Leib, meine Stirn wurde feucht und meine Hände kalt und klebrig.

Ich stierte jetzt wie hypnotisiert auf die Vase, ließ kein Auge davon …

Dann geschah das Wunderbare …

Aber ehe es geschah, spürte ich wieder jenen seltsamen Geruch, jene Mischung von Moschus und Leichenausdünstung, den ich nur zu gut kannte.

Das Wunderbare …

Erst nahm die Lichtwirkung an den Rändern der Vase ab, schritt nach der Mitte zu vorwärts, machte halt, bildete so neue Umrisse von veränderter Gestalt – die eines Frauenkopfes …!!

Nun schien’s, als löse sich die uns zugekehrte Wandung des Gefäßes auf. Ich finde hierfür nur einen Vergleich. Es war so, als ob hinter einem milchigen Eisblock ein Licht brennt, als ob der Eisblock schnell schmilzt und die Lichtquelle immer klarer hervortritt, ihre Form zeigt – die eines Weiberhauptes mit hoher, eigenartiger Frisur …

Jetzt war die Wandung der Lahore-Vase scheinbar ganz verschwunden, jetzt sah ich … denselben Frauenkopf in seltsamem Licht erglühen, den wir damals von meinem Fenster aus durch das Fernglas anstaunten …

Aber jetzt befand ich mich nur etwa zwei Meter von dem rätselhaften, leuchtenden Bilde entfernt, jetzt erkannte ich, daß es sich um ein plastisches Etwas handelt, um einen vollständigen Kopf nebst Hals – vielleicht um einen künstlich hergestellten, vielleicht aber auch um das Haupt einer Toten, das vom Rumpf getrennte Haupt …

In magischem Licht erstrahlte es. Die Augen waren geschlossen. Die Ohrläppchen trugen große Gehänge und in dem Haar blitzte und funkelte es in allen Farben, so ebenso um den Hals …

Brillantschmuck war’s, der da gleißte und schillerte wie Tautropfen im Sonnenlicht – Diamanten sprühten dort, Diamanten von einer Größe, die die Sinne verwirrten im Gedanken an ihren Wert …

Ich schaute und schaute, rührte kein Glied. Mein Körper schien erstorben. Nur meine Augen lebten und mein Hirn, das unter dem Einfluß dieses Wunders gar seltsame Gedanken gebar …

Wie ein Hauch jahrtausendealter Rätsel umwehte es mich – denn Indiens Kultur ist wohl ebenso weit zurückreichend in die Anfänge der Zeitrechnung wie die der Ägypter …

Indien … – Ich glaubte den Brahmatempel in Lahore vor mir zu haben mit all seiner prachtvollen bizarren Architektur, mit seiner verschwenderischen Menge zarten Marmors, vergoldeter Wände, Elfenbein ausgelegter Türen … Feierlich ernste braune Priester schritten durch die Hallen, wandelten in ein besonderes Gelaß, in dem die Seelen-Urnen aufbewahrt wurden. Auf goldenen Gestellen standen sie. Das Gelaß war dunkel – nur die Vasen leuchteten, und in ihnen vollzog sich das Wunder, ihr Inneres strahlte auf, enthüllte Geheimnisse unfassbarer Art … – –

Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen und nur auf das leuchtende Haupt geschaut habe …

Torys Hand legte sich auf meinen Arm … Ich schrak leicht zusammen, kam zu mir, sah jetzt erst, daß die Vase bereits wieder ihre bisherigen Umrisse angenommen hatte, daß der Frauenkopf wieder verschwunden war …

Gehauchte Worte erreichten mein Ohr …

„Achtung – Achtung!!“

Ich begriff. Die Entscheidung nahte.

Ich schaltete meine Sehnerven aus, horchte nur noch.

Ich hörte die leisen Atemzüge meiner Gefährten in dieser atembeklemmenden Stille. Weiter hörte ich das Ticken meiner Taschenuhr, das schnelle Klopfen meines Herzens …

Dann – im Nebenzimmer rechts – knarrte eine lose Diele …

Jetzt wurde ein Schlüssel in das Schloß der Tür rechts von uns geschoben. Jemand versuchte aufzuschließen. Da war der Riegel zurückgeschnellt …

Die Entscheidung …

Die Vase leuchtete nur noch schwach. Überall sonst tiefe Finsternis. Meine Augen ruhten dort, wo jetzt ein Mann die Türschwelle überschritt, dabei auf eine andere knarrende Diele trat.

Dieses Aufkreischen des Holzes tat mir geradezu weh. Ich zuckte zusammen. Dann …

Ein feiner weißer Lichtstrahl blitzte auf, lief hierhin, dorthin wie ein irrender, blinkender Strich, durch Geisterhand in die Luft gezogen.

Der Lichtstrahl erlosch. Tappende Schritte, unsicher, ängstlich, näherten sich der Vase, die kaum mehr als ein heller Schein zu erkennen war. Jetzt verdunkelte eine Gestalt den runden, schimmernden Fleck …

Tory bewegte sich neben mir, stand auf, tat einen Satz nach der Tür hin, schaltete dabei seine Taschenlampe ein …

Gleichzeitig schossen vier weiße Lichtkegel durch die Finsternis, blieben auf der Gestalt eines Mannes im schwarzen Pelerinenmantel haften. Der Mann trug einen breitkrempigen Filzhut …

Und Torys Stimme gellte durch den Raum:

„Keinen Widerstand, Herr Konsul Schimpel! Sie sind umstellt …!“

Der Mann stand wie eine Bildsäule, nachdem er blitzschnell herumgefahren war …

Ich erkannte ihn …

„Professor Pinkemüller!!“ rief ich.

Tory ließ einen überraschtes ungläubiges „Nicht möglich …!!“ hören.

Im Zimmer war’s lebendig geworden. Die Dunkelheit spie andere Gestalten aus. Und Ihle näherte sich als erster dem Regungslosen, legte ihm die Hand schwer auf die Schulter und sagte:

„Im Namen des Gesetzes erkläre ich …“

„Halt – halt!!“ fuhr Tory dazwischen. „Es ist der falsche …!“

Pinkemüller regte sich. Und mühsam quälte er die Worte hervor: „Sie haben mich sehr erschreckt, meine Herren!“

Er nahm sich zusammen, blickte um sich. Dann blieb sein Auge auf Tory ruhen. Der trug wieder die Verkleidung des Bureauvorstehers Schmidt.

„Wer sind Sie …?“ fragte Pinkemüller schnell. „Ihre Stimme ist die meines Neffen, aber …“

„Ich bin Viktor Ruhnau!“ erwiderte Tory laut. „Und die drei Herren dort sind Kriminalbeamte!“

Der Professor nahm unwillkürlich den Hut vom Kopf; Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.

„Kriminalbeamte …?!“ sagte er tonlos. „Nicht – nicht – – das kann nicht sein!“

Ihle erwiderte streng: „Es ist so, Herr Professor!“ Und er nannte Namen und Amtstitel. „Wollen Sie mir bitte Aufklärung darüber geben, zu welchem Zweck Sie hier eingedrungen sind …?!“

Pinkemüller brach jetzt völlig zusammen. Ihle und ich stützten ihn, sonst wäre er umgesunken. Haßfeld schob ihm einen Stuhl hin …

Wir standen um den halb Bewußtlosen im Kreise herum.

Dann begann Tory ihn auszufragen. Er nannte ihn ‚Sie‘ wie einen Wildfremden. Pinkemüller stöhte darauf …:

„Ah – er hat mich belogen – der Schuft – der Schuft …!!“

Die Wut gab ihm die Kräfte zurück.

Und Tory bohrte und forschte weiter. So erfuhren wir, was uns zu wissen nottat. – –

Nachher brachte ein Taxameter den Professor, Spengler und die Lahore-Vase nach dem Polizeipräsidium.