3. Kapitel

Inhaltsverzeichnis


Als mein Freund Viktor eine Stunde nach der soeben geschilderten Familienaussprache bei mir erschien, sah ich ihm sofort an, daß etwas Außergewöhnliches seiner nur schwer zu erschütternden, leicht blasierten Ruhe und seiner beneidenswerten Abgeklärtheit einen argen Stoß versetzt haben mußte.

Mein Erstaunen wuchs, als hinter ihm ein Dienstmann auftauchte, der einen mächtigen gelben Reisekoffer schleppte.

„’n Tag, Karl. Du bekommst Besuch,“ sagte er, indem er mir seine tadellos gepflegte Hand hinstreckte, deren Nägel er stets lackierte, so daß sie förmlich schillerten. „Stellen Sie den Koffer nur dorthin,“ wandte er sich an den Dienstmann. „Bringen Sie jetzt noch die beiden anderen Stücke herauf.“ –

Wir waren allein. Der Dienstmann polterte die dunkle Stiege hinab, die zu meiner Mansardenwohnung hinaufführte. Es waren dies drei Räume; wenn man die winzige Küche mitrechnete, sogar vier, nämlich ein zweifenstriges und ein einfenstriges Zimmer, eine Kammer und die erwähnte Küche.

Ich war bisher nicht zu Wort gekommen, fragte nun:

„Was ist denn eigentlich los, Tory?“

Tory, das war sein Spitzname von der Universität her, weil es gerade damals Mode war, alles Überfeine mit ‚hochtory‘ zu bezeichnen. –

Er hatte sich in den Schaukelstuhl geworfen und die Beine lang von sich gestreckt.

„Ich bin obdachlos, Karl,“ meinte er, leicht die Stirn runzelnd. „Man hat mich aus dem Elternhause verjagt, besser – weggeekelt! Ein ganzes Komplott, sage ich dir – wahrhaftig! Heute war große Familiengerichtssitzung. Zum Schluß wurde mir ein mir bisher verheimlichter Passus im Testament meines Vaters vorgelesen. Diese Nachschrift enthält die Bestimmung, daß mir mein Vermögen unter gewissen Umständen auch nach Vollendung des 25. Lebensjahres nicht ausgehändigt werden solle. Ob diese Umstände vorliegen oder nicht, hätte der Familienrat zu bestimmen, bestehend aus meiner Mutter, dem Pinkemüller und der Tante Adelheid. –

Der Familienrat hat heute gesprochen. Zugegen war natürlich noch der Herr Konsul, der jetzt in meinem elterlichen Hause allein entscheidet, was gut oder schlecht, was moralisch oder unmoralisch ist. Kurz, meine Hoffnung, binnen acht Tagen endlich über mein Erbteil frei verfügen zu können, ist hinfällig geworden! – Nicht genug damit, hat der hohe Gerichtshof noch dahin entschieden, der Student der Rechte Viktor Ruhnau gibt seine Studien auf und tritt sofort in das Geschäft seiner Mutter, die Firma ‚Ernst Ruhnau, Zucker- und Getreideexport’ als Lehrling ein. – – Fein, was?!“

Ich war tatsächlich sprachlos. Erst nach einer Weile platzte ich heraus: „Wie konnte dein Vater nur eine solche Bestimmung treffen?! Er wußte doch …“

Tory winkte ab. „Rege dich nicht auf, Karlchen! – Mein Vater war der beste Mensch unter der Sonne, – nur Einflüsterungen leicht zugänglich. Diesen Nachtrag zu seinem Testament verdanke ich fraglos dem damaligen Herrn ersten Prokuristen, meinem späteren Stiefvater. –

Papa starb vor sechs Jahren, gerade als ich mein Abiturexamen bestanden und im Anschluß daran ihm runde tausend Mark Schulden aus der fidelen Primanerzeit in dem alten Ordensstädtchen an der Weichsel reumütig gebeichtet hatte. Kurz vor seinem Tode hat er mir, der nach Herrn Manfred Schimpels Ansicht so deutliche Spuren übergroßen Leichtsinns gezeigt hatte, ‚die Flügel etwas beschnitten‘, wie sich der fromme Herr Pinkemüller ausdrückte. –

Ist das ein Duett, diese beiden Ehrenmänner, die stets die Flöte und das Cello höchster Vollkommenheit spielen und die dabei in Wahrheit gräßliche Heuchler sind!!“

Ich wußte, daß Viktor nach dem 25. Lebensjahre ein großes eigenes Vermögen zu erwarten hatte. Über dessen wirkliche Höhe war ich jedoch nicht unterrichtet.

„Du wirst dir diesen Urteilsspruch doch nicht etwa gefallen lassen!“ meinte ich ehrlich empört, denn – mochte mein Freund auch allerhand kleine Schwächen haben, mochte er eitel, genußsüchtig, leichtlebig und … recht bequemen, um nicht zu sagen faul sein, – er hatte dagegen so viele gute Eigenschaften in die Wagschale zu werfen, daß jeder diese Schwächen dem liebenswürdigen, hübschen Menschen nachsah.

„Nein, Tory – niemals schweigst du dazu – das wäre noch schöner!“ ereiferte ich mich weiter. Es gibt doch noch Gerichte, die über die Erfüllung oder Nichterfüllung einer solchen Testamentsklausel zu entscheiden haben!“

„Sehr richtig. Aber – ich verschmähe diesen Weg.“

„Weshalb denn in aller Welt?! – Recht muß Recht bleiben!“

„Weshalb? – Weil dann so verschiedenes an den Tag käme, was mir peinlich wäre.“

Ich verstand ihn nicht ganz. – Sollte er doch so einiges ‚berissen‘

haben, was gegen ihn zeugte?! – – Ich konnte mir ja über sein Leben und Treiben in Berlin, wo er jetzt noch ‚studienhalber‘ sich aufhielt, kein Urteil erlauben. Wir kamen nur in den Studentenferien hier in Danzig zusammen, dann freilich fast täglich. –

Der Dienstmann brachte die beiden anderen Gepäckstücke – einen Lederkoffer und einen sogenannten Stiefelsack. – Nachdem Viktor den Mann abgelohnt hatte, fragte er mich:

„Ich kann doch vorläufig bei dir bleiben, Karl, bis ich mich entschieden habe, was nun werden soll?“

„Selbstredend! Ich räume dir das kleine Zimmer ein. Wir schaffen den Diwan von hier dort hinüber. Er schläft sich ganz gut darauf.“

Er schüttelte den Kopf. „Du sollst nicht aus deiner gewohnten Ruhe und Bequemlichkeit kommen, Karl! Ihr Schriftsteller seid ja wie die alten Stiftsdamen. Eure Stimmung ist lediglich von Äußerlichkeiten abhängig; eure seelische Verfassung knetet ihr euch schon mit Hilfe eurer Phantasie zurecht. – Ich beziehe die Dachkammer! Dabei bleibt’s! Ich werde mich dort schon häuslich einrichten. – –

So, nun hilf mir mein Gepäck dorthin schaffen, und dann leg’ dich aufs Ohr! Du bist an eine Stunde Verdauungsschlaf gewöhnt.“

Es war nichts zu machen. Er blieb in der Dachkammer. Sein Riesenkoffer war eigentlich für die Tropen bestimmt, für Forschungsreisende, und ließ sich sehr einfach in ein Bett verwandeln.

Ich legte mich denn auch wirklich auf den Diwan. Aber geschlafen habe ich nicht.

Drüben bei Viktor war alles still. Er gab sich wohl redlich Mühe, während des Auspackens leise zu sein.

Ich dachte über das nach, was er mir erzählt hatte. Noch nie hatte er sich so abfällig über seinen Stiefvater und über seinen Onkel geäußert. Er war überhaupt auch in seiner Ausdrucksweise meist sehr gemessen, sogar etwas allzu geschraubt. Heute mußte sein ganzes Innere in Aufruhr sein, sonst wären Worte wie ‚gräßliche Heuchler‘ nie über seine Lippen gekommen.

Ich muß hier notwendig kurz die Lage der einzelnen Räume meiner Mansardenwohnung zueinander dem Leser klarzumachen versuchen. –

Das Haus, in dem ich damals wohnte, als sich die merkwürdigen Ereignisse abspielten, die ich hier unter dem Titel ‚Die Lahore-Vase’ zusammengefaßt habe, liegt in der Nähe des Hafens in einer engen Gasse, die den wenig poetischen Namen ‚Pfeffergang‘ hat. Dieses Haus ist uralt, schmal, hoch, hat einen spitzen Giebel und viele Eigentümlichkeiten, auf die ich im Laufe dieser Geschichte noch zu sprechen komme – Der Leser darf nicht ungeduldig werden, weil ich so ins einzelne gehe. Er kann mir glauben: ‚Die Lahore-Vase‘ wird sehr bald so spannend wie eine Erzählung des Edgar Allan Poe. Auch das Schauerliche fehlt nicht –

Also das alte Haus! Es hat zwei Stockwerke und die Mansarde. Kommt man die Treppe herauf, auf der es stets dunkel wie in einem Bergwerksschacht ist, so gelang man dort, wo die Treppe plötzlich hell wird und aufhört auf einen Bodenraum von vielleicht sechs Quadratmeter Größe. Der Hauswirt nennt ihn stolz: Trockenboden! Aber das Kunststück soll mir einer vormachen, hier Wäsche aufzuhängen! Wie sollte ich dann wohl in meine Behausung gelangen?! – Dem Treppenende gegenüber liegt die Tür zu meiner Wohnung. Tritt man ein, so steht man in einem Miniaturflur, in den durch die matten Scheiben der Küchentür Licht fällt, wenn auch nicht viel. Linker Hand geht’s in mein zweifenstriges Arbeitszimmer, das einen balkonartigen, breiten Austritt hat, auf dem ich im Sommer in Kästen allerhand Blumen züchte, aber auch Radieschen. Nach rechts gelang man in das einfenstrige Schlafzimmer, neben dem die Bodenkammer liegt, die Viktor nun bewohnte. Sie hat ein langes, schmales Fenster, das ebenso wie das der Schlafstube auf die Pfeffergasse hinausgeht.

Die Wohnung hat ihre großen Vorzüge für einen Schriftsteller. Sie ist billig, für einen Junggesellen sehr geräumig und bietet von dem Balkon aus einen freien Blick über einen Teil der Mottlau, die den inneren Hafen Danzigs bildet. Die Rückseite des Hauses gehört also zu der Langen Brücke, wie das breite Hafenbollwerk getauft ist.

Hiermit mag’s genug sein über das alte, schmale Haus und über mein Heim! – –

Da ich doch nicht schlafen konnte, stand ich nach einer Weile auf und ging leise in die Küche, um Kaffee zu kochen. Das Wetter war heute ja so prächtig, daß man auf dem Balkon im Freien sitzen konnte, und dort wollte ich den Kaffeetisch möglichst gefällig und nett decken, schnell noch etwas Kuchen einholen und Tory dann rufen, der die Aussicht vom Balkon ebenso sehr liebte wie Tortenstückchen, überhaupt alle Süßigkeiten.

Als alles bereit war – ich hatte mich wie ein Einbrecher bewegt, um Viktor nicht aufmerksam zu machen – klopfte ich bei ihm an.

Aber – die Kammer war leer; das heißt, seine zahlreichen Anzüge hatte er sauber auf Bügel an die Knaggen des Kleiderhalters gehängt, auch sonst es sich schon behaglich gemacht, soweit dies hier möglich war, aber er selbst war weg – verschwunden – spurlos verschwunden. Ich hatte dies bald festgestellt. In meiner Wohnung befand er sich nicht mehr. Aber er hatte sie nicht durch den einzigen Ausgang nach dem Trockenboden verlassen, denn das hätte ich hören müssen. Die Flurtür knarrt nämlich derart, daß dieses Geräusch eine Sicherheitsglocke völlig ersetzt.

Wo war er also geblieben? – Mir war dieses Verschwinden unerklärlich. Ich wohnte hier doch bereits zwei Jahre, und bisher hatte ich stets geglaubt, es existierten keine Geheimtüren oder dergleichen.

Ich mußte die Tortenstückchen allein essen und sparte auf diese Weise das Abendbrot.

Ich arbeitete nach dem Kaffee bis sieben Uhr an meiner neuesten Schöpfung, setzte mich dann wieder auf den Balkon und erholte mich bei einer Zigarre von den geistigen Anstrengungen, die ich hinter mir hatte. Leicht ist es nämlich nicht, in jeden Roman neue Verwicklungen hineinzubringen – wahrhaftig nicht! Besonders wenn man monatlich zwei fertigstellen muß, um leben und die Prämien für die Lebensversicherung bezahlen zu können.

So wurde es halb neun. Es war dunkel geworden mittlerweile. Dort unten lag die Mottlau, drüben am anderen Ufer reckten die alten Speicher ihre ernsten Fronten gegen den Abendhimmel. Ein Vergnügungsdampfer legte beim Bollwerk an … Scharen von Ausflüglern spie er aus …

Wo war Tory? – –

In der Luft lastete die feuchte Schwere eines Gewitters. Wetter–leuchten zuckten über den Himmel hin, ließ die Giebel der Speicher wie auf einem Transparentbilde erscheinen, verschwinden.

Ich träumte vor mich hin. Es waren recht zufriedene Träumereien. – Das Geschäft ging gut. In den letzten zwei Monaten hatte ich eintausendzweihundert Mark verdient. Ich konnte mir im Hochsommer eine Reise leisten. Norwegen war das Land meiner Sehnsucht …

Dann hörte ich meinen Flurglocke läuten. Diese Glocke ist sicher noch unten auf dem Bollwerk zu hören. Zieht man draußen an der Flurtür an dem Griff, so erfolgt zunächst nichts. Zieht man stärker, so erdröhnt plötzlich vor einem ein schrilles Gebimmel, das jeden Uneingeweihten zurückprallen läßt. Nervenschwache Besucher kamen nur ein einziges Mal zu mir oder begehrten beim zweiten Mal durch Klopfen Einlaß. –

Es war Tory.

„Wo in aller Welt kommst du her? Wo warst du? Wie hast du dich denn aus der Wohnung entfernt?“

Er lachte. „Trommler, du fragst viel und fragst überflüssiges!“ ‚Trommler‘ nannte Tory mich nur, wenn wir unter uns waren. Er leitete diese vertrauliche Bezeichnung von einem Ausdruck ab, dessen andere Hälfte in dem Worte ‚Steißbein‘ vorkommt. Ich hatte ja mal Jugendbildner werden wollen!

Dann erklärte er, er habe einen Mordshunger. Und erst als er sich über meine Zervelatwurst, meinen Käse und andere Delikatessen meiner Junggesellenspeisekammer hermachte, sagte er zwischen den einzelnen Bissen:

„Ich habe mich zur Flurtür hinausgeschlichen, um dich nicht zu stören. Ich war in Neufahrwasser, wo ich meinen alten Feldwebel besuchte. Du weißt, ich habe in Berlin bei den Alexandern ein Jahr abgedient und könnte schon ‚Leutnant d. R.‘ sein, wenn ich eine ‚Lebensstellung‘ hätte, zum Beispiel Referendar wäre! Die beziehen bekanntlich in Preußen ein Gehalt von achttausend Mark jährlich, wovon man allerdings die acht streichen muß. So kommt die ‚Lebensstellung‘ heraus!“

Er war offenbar guter Laune, wenn auch nachdenklich gestimmt. Aber – er log. Er war nicht durch die Flurtür verschwunden – ausgeschlossen!

„Tory, du schwindelst!“

Sein im Lichte der Gaslampe glitzerndes Monokel musterte mich prüfend. Dann sagte er:

„Dieses Haus muß schon sehr alt sein.“

Er schien mir also auszuweichen.

„1821 erbaut. Die Zahl ist über der Haustür in einen Stein eingemeißelt, aber nur noch schlecht zu erkennen.“

„Es hat eine sehr, sehr dicke Brandmauer nach dem linken Nebengebäude zu,“ meinte er darauf, indem er sehr geschickt mit dem Schlüssel eine Sardinenbüchse öffnete.

Bei dieser Arbeit fiel mir auf, daß seine beiden Brillantringe auf dem linken kleinen Finger fehlten. Nachmittags hatte er sie noch gehabt.

Ich dachte sofort: ‚Er hat sie ebenfalls versetzt, trotzdem du ihm doch mit Geld aushelfen wolltest!‘ –

Ich war ärgerlich.

„Wo hast du deine Ringe gelassen, Tory?“

„Bei Katzenstein. – Die Sardinen sind gut.“

„Weißt du auch, daß es für mich verletzend ist, wenn du Schmuck aufs Pfandhaus trägst, wo ich dich doch …“

„Ich pumpe meine Freunde grundsätzlich nicht an,“ unterbrach er mich. – Damit war die Sache für ihn erledigt.

Nach einer Weile begann er wieder:

„Wem mag das Haus gehören, das dem deinigen im Pfeffergang gegenüberliegt?“

„Keine Ahnung. – Was für ein Interesse nimmst du an dem leerstehenden, baufälligen Kasten? – Ich weiß nur, daß es auf Abbruch verkauft werden soll. Aber es findet sich dafür kein Käufer. Man fürchtet, die Nebengebäude könnten einstürzen, wenn man es einreißt.“

„So – leerstehend?!“ griff er das eine Wort heraus.

„Allerdings. Früher war’s mal als Bureauhaus vermietet.“

„Scheint so. Im zweiten Stock im linken Vorderzimmer erkennt man durch die teilweise zertrümmerten Scheiben noch ein paar Schemel und einen plumpen Tisch.“

Seine ganze Art, dieses Gespräch zu führen, kam mir recht merkwürdig vor. Ich hatte das Gefühl, daß er an dem Hause gegenüber ein besonderes Interesse hatte. – Wirklich – schon wieder beschäftigte er sich damit.

Er fragte nämlich nach einer längeren Pause:

„Hast du dort in dem linken Vorderzimmer mal zufällig etwas bemerkt, was dir irgendwie aufstieß?“

„Tory – was hast du nur immer mit der baufälligen Bude?! – Nein – nichts habe ich bemerkt!“

„So – so …!“

Er starrte auf seinen Teller …