4. Kapitel

Inhaltsverzeichnis


„Tory, ich bitte dich; weshalb fragtest du soeben, ob …“

Er schob den Teller zurück und hätte dabei fast das Bierglas umgestoßen, während ihm doch alle hastigen Bewegungen ein Greuel waren.

Ich griff zu und rettete das reine Tischtuch vor einer Überflutung.

„Weil noch jemand außer mir heute Nachmittag sogar mit einem Fernglase nach jenem Zimmer hinüberstarrte,“ sagte er nach diesem kleinen Zwischenfall.

Und das war Grund genug für mich zu der Annahme, mit dem Zimmer müßte es eine besondere Bewandtnis haben, – denn eine halbe Stunde lang sitzt niemand in unbequemer Haltung in einer Dachluke und hält ein Glas vor die Augen …!!“ Er betonte die letzten Sätze stark.

„Wo saß denn dieser Jemand, Tory! – So erzähle doch mehr im Zusammenhang …! Du machst einen wirklich ungeduldig.“

„Auf dem Dach des linken Nebengebäudes in einem Dachfenster oder besser einer Dachluke,“ berichtete er nun mit einer gewissen Erregung. „Es war ein Herr, – ich betone – Herr! Sehr anständig angezogen. Er sah etwas exotisch aus. Ungar oder Italiener – so was vielleicht.“ –

Das drohende Gewitter entlud sich jetzt über der Stadt. Einzelne Donnerschläge ließen das Haus erzittern. Dann setzte ein starker Hagel ein. Ich trug mit Torys Hilfe schnell meine Blumenkästen ins Zimmer.

Nachher suchte er sich aus meinem Schrank ein Buch heraus, las und verqualmte einige Dutzend Zigaretten, während ich am Schreibtisch in meinem Roman ein liebendes Paar sich zur Abwechslung im Juli in einem Eiskeller finden ließ, was mir Gelegenheit gab, die heißen Gefühle des männlichen Teiles witzig hervorzuheben.

Ich war so in meine Arbeit vertieft, daß ich gar nicht hörte, wie Tory aufstand und hinausging.

Erst als er zurückkam, schaute ich von der Manuskriptseite auf, indem ich befriedigt dachte: ‚Die zwölfte Seite heute! Dein Tagewerk ist erledigt. Du hast zwanzig Mark verdient.‘

Tory trat näher, stellte sich neben den Schreibtisch.

„Hast du einen Augenblick Zeit, Karl?“ fragte er, indem er seinen Selbstbinder etwas zurechtzog.

„Gewiß. – Ich bin mit meinem Pensum fertig.“

Ich klappte das Tintenfaß zu und packte das Manuskript weg.

„Komm’ mal mit in dein Schlafzimmer,“ meinte er dann. „Ich verspreche dir eine ganz sonderbare Überraschung.“

Er führte mich an das Schlafstubenfenster, schlug die Vorhänge zurück und sagte: „Schau nach dem Zimmer hinüber – dem mit den Kontormöbeln.“

Das Gewitter hatte längst ausgetobt. Aber der Himmel war noch mit dunklen Wolken bedeckt, kein Stern sichtbar. Draußen herrschte eine Finsternis, die man ohne Übertreibung als pechschwarz bezeichnen konnte.

Wir hatten uns ohne Licht bis an das Fenster getastet – weil Tory es so wollte.

„Zimmer mit den Kontormöbeln – gut gesagt!!“ meinte ich. „Man sieht ja von den Häusern drüben kaum einen Schimmer!“

„Aber du weißt doch die Richtung ungefähr, in der es liegt. Blicke ganz scharf hin …!“

Ich tat’s. Ich mußte also schräg nach unten sehen. Dort etwa mußten die Fenster sein …

Ah – nun bemerkte ich wirklich etwas – etwas wie eine matte Lichtquelle – ganz verschwommen, so wie ein faulender Weidenstumpf zuweilen leuchtet.

Ich sagte dies Tory.

„Gut. – Nun nimm hier meinen Krimstecher.“

Er drückte mir das Glas in die Hand. Es war ein sehr teures Zeiss–Trieder–Binokle und ‚zog‘ vorzüglich, wie ich schon von einer anderen Gelegenheit her wußte.

Ich stellte die Linsen ein auf den hellen, großen Fleck da drüben. Immer deutlicher wurden die Umrisse, die Einzelheiten … Dann entfuhr meinen Lippen ein halblautes „Ah – Donnerwetter!“

„Siehst du ‚sie‘ jetzt auch?“ fragte Tory gespannt.

„Ja!“

Was ich sah …?! – Ah – es war so seltsam, so unheimlich, daß ich plötzlich einen Eiseshauch über meinen Leib hinlaufen spürte …

Da drüben, offenbar in jenem Zimmer, schwebte frei in der Luft ein in weißlichem Licht schimmernder Frauenkopf. Die Teile des Gesichts waren kaum zu erkennen; aber die Frisur sprach für ein weibliches Haupt. Und in dieser Frisur strahlte etwas heller, – sicher ein Haarschmuck aus edlen Steinen. Auch um den Hals trug das unheimliche Ding eine Kette aus Brillanten oder dergleichen. Die Umrisse des Kopfes zeichneten sich klar in der Dunkelheit ab. Je länger ich hinschaute, desto überzeugter war ich, daß es sich um das Haupt einer Frau handelte.

Das ganze wirkte tatsächlich mehr als eigenartig, ging einem etwas auf die Nerven.

Ich ließ das Glas sinken …

„Was bedeutet das, Tory?“

„Wenn ich’s wüßte …!! Ich hab’s soeben ganz zufällig entdeckt. Ich holte mir aus meinem Dachkammersalon Zigaretten, stellte mich hier ans Fenster und überlegte mir, wonach der Fremde heute Nachmittag wohl so eifrig aus seiner Bodenluke ausgespäht haben könnte. Da fiel mir drüben der Lichtschein auf …“

Ich schaute nochmals durch den Krimstecher …

Plötzlich krallte sich Viktors Hand um einen Arm …

„Hast du’s gesehen?“ fragte er aufgeregt.

„Ja. Es ist so, als ob sich jemand an dem schwebenden Frauenkopf zu schaffen macht, ihn durch seinen Körper teilweise oder auch ganz verdunkelt …“

Ich sprach schnell, flüsternd … Das Glas ließ ich nicht von den Augen.

Tory öffnete den einen Fensterflügel, lehnte sich weit hinaus …

„Gib mir das Glas,“ sagte er.

Er griff danach. Aber – er nahm es mir nicht ab …

An unsere Ohren war ein Schrei gedrungen – ein geller Angstruf aus menschlicher Kehle …

Und – kein Zweifel! – Der Schrei war aus dem leeren Hause gekommen.

„Hast du’s gehört?“ flüsterte ich.

„Natürlich …! – Ah!! Nochmals …! – Ein solcher Ruf entschlüpft nur einem Menschen in höchster Todesangst, Karl!“ raunte Tory mir überstürzt zu. „Dort drüben geschieht etwas, das furchtbar sein muß …“

Ich hob wieder den Krimstecher … Blickte hindurch, lauschte …

Matt schimmerte der Frauenkopf. Aber kein Schatten verdunkelte ihn mehr …

Und alles blieb still …

Nur die Nachtgeräusche der schlafenden Stadt trafen unser Ohr – verworren, leise …

Nach einer Weile sagte Tory:

„Ich möchte mal in das leere Haus eindringen, Karl – gleich, sofort! Etwas hat sich dort soeben abgespielt – etwas Schreckliches …! Es muß so sein. Der Schrei war so furchtbar.“

Ich glaubte nicht richtig verstanden zu haben.

„Eindringen – in das leere Haus?“ meinte ich zögernd.

„Ja – komm’!“ Und Tory zog mich mit sich in mein Arbeitszimmer, wo nicht nur die Gaslampe über dem Sofatisch, sondern auch meine Arbeitslampe auf dem Schreibtisch brannte.

Die Lichtfülle tat mir wohl. – Ich schaute Tory an und versuchte zu lächeln.

„Wie ein Spuk war das eben,“ sagte ich unsicher. „Ein Gespensterhaus …!! Und es ist gerade zwölf Uhr – Mitternacht – Geisterstunde …!!“ Der ironisch scherzende Ton gelang mir aber nicht ganz.

Tory lächelte nicht, sah im Gegenteil sehr ernst aus.

„Die Geschichte eignet sich nicht zum Spotten,“ meinte er nachdenklich und reckte die Worte unbewußt. „Besitzt du eine Laterne, Karl, und vielleicht einen Nachschlüssel oder aber ein Stück Eisendraht von vielleicht drei Millimeter Stärke …?“ –

So kam es, daß wir eine Viertelstunde später leise die Mansarde verließen, auf die Straße hinaustraten und dem Hause gegenüber lautlos wie Diebe zuhuschten.

Ich erkläre ganz offen, das Unternehmen war nicht nach meinem Geschmack! Durchaus nicht! Wenn ich auch in meinen Romanen ähnlich aufregende Geschehnisse gern bis ins Kleinste ausspinne und manchmal im Gruseligen förmlich schwelge und mich in dem Gedanken freue, daß dem Leser so etwas die Haare zu Berge stehen werden bei der Lektüre, zwischen Phantasie und Wirklichkeit ist doch ein gewaltiger Unterschied! – Das spürte ich heute so recht! – Am Schreibtisch bin ich ein Held – in jener Nacht war ich’s nicht!

Ich bewunderte Tory. Der benahm sich so, als ob ihm die Worte Angst oder Grauen total unbekannt waren. – Von dieser Seite hatte ich ihn noch nie kennen gelernt. Ich hatte ihn sehr unterschätzt; das sah ich jetzt ein. Die blasierte Ruhe war doch wohl bei ihm zum Teil Maske … Er wurde mir plötzlich interessant. Aber auch unbegreiflich. Er hatte so geschickt aus dem starken Draht mit Feile und Kneifzange in kurzem ein paar Dietriche hergestellt …!! – Wo hatte er diese Fertigkeit gelernt …?! – Ich sollte mich noch mehr wundern! –

Der Pfeffergang war still und einsam. Kein Mensch zu sehen. Die nächste Laterne war zehn Schritte entfernt und hatte nur einen halben Glühstrumpft, so daß die Lichtquelle recht mäßig war.

Bürgersteige gab es hier nicht. Der Magistrat hatte den Pfeffergang nicht lieb, tat nichts für die enge Gasse, in der die Hälfte der Häuser abbruchreif war.

Zu der Tür des leeren Hauses führten drei Steinstufen empor. Die Tür war mit eisernen Ziernägeln beschlagen und hatte einen Drücker von ehrwürdiger Größe.

Tory begann im dunkeln mit den Dietrichen im Schlüsselloch zu arbeiten.

Alles umsonst. Kein Schnappen eines Riegels verriet, daß die Dietriche faßten.

Tory wurde ungeduldig. – Es tröpfelte. Bald kam der Regen in dichten Strömen herab.

Es war eine Eingebung des Augenblicks, die mich nach dem Drücker greifen ließ …: „Vielleicht ist die Tür überhaupt offen …?!“

Wir hatten diese Möglichkeit noch gar nicht in Erwägung gezogen.

Tory sagte leise: „Ich verd… Esel!“ – Das war für den feinen Viktor eine unerhörte Selbstbeschimpfung …!! Aber, sie war auch so etwas berechtigt!

Denn – die Tür öffnete sich jetzt ohne Mühe …!! Knarrte nicht einmal. Benahm sich so, als wären ihre Angeln noch letztens liebevoll mit Öl behandelt worden.

Wir schlüpften in den Flur, Tory drückte die Tür wieder zu, und ich schaltete die elektrische Taschenlampe ein, die er mir aber sehr bald abnahm, um damit den sehr schadhaften Fliesenboden des Hausflurs zu beleuchten.

Stumm deutete er auf eine Spur, die aus feuchten, kaum noch wahrnehmbaren Flecken bestand und die von der Tür nach der Treppe zu verlief, wo sie sich verlor.

„Ein Beweis, daß vor uns schon ein Mensch in dieses Haus eingedrungen ist …!!“ flüsterte er mir zu.

Mir wurde immer unbehaglicher zu Mut. Am liebsten hätte ich ihn gebeten, die alte Baracke wieder zu verlassen.

Draußen hörte das Rauschen des Regens auf – ganz plötzlich.

Und in demselben Augenblick wurde irgendwo in den oberen Räumen des leeren Hauses eine Tür ziemlich laut zugeschlagen …

Ich fuhr zusammen, als hätte wir jemand Eiswasser ins Genick gegossen. Ob Tory ebenfalls erschrak, weiß ich nicht. Ich glaube es aber nicht, denn nachher zeigte er ja, wie gute Nerven er hatte.

„Tory,“ flüsterte ich mit sehr belegter Stimme, – „machen wir, daß wir hier fort kommen! Wir haben hier nichts zu suchen …!“

„So? Ich denke doch!“ Und er schritt der Holztreppe zu.

Als wir auf dem Absatz des zweiten Stockwerks angelangt waren, war ich wie in Schweiß gebadet.

Die Stufen hatten so laut geknarrt und gequietscht, und bei jedem dieser Töne war mein Herz ein Schmiedehammer und meine Stirn feucht geworden.

Hier oben gab es drei Türen.

Tory hatte sich schnell orientiert und suchte die zu öffnen, die wahrscheinlich direkt in das Spukzimmer führte.

Sie war verschlossen. Ein Schlüssel steckte nicht im Schloß. Daher begann der kleinste Dietrich hier seine Tätigkeit.

Tory probierte und probierte …

Endlich ein Kacken …!!

Die Tür schob sich nach innen auf.

Ich ließ Tory gern den Vortritt. Ich legte wenig Wert darauf, ihm zu folgen. Aber – allein im dunklen Treppenflur dieses Hauses – dieses …!! Nein – dann doch lieber mit hinein …

Der weiße Lichtkegel der Taschenlampe glitt über die wenigen Möbelstücke hin. Auf dem Fußboden lag dicker Staub. Und in dieser Staubschicht zeichneten sich recht deutlich Spuren von menschlichen Füßen ab, die kreuz und quer durcheinanderliefen.

Tory raunte mir zu: „Bleib’ stehen!“

Er selbst ging auf Fußspitzen bis zur Tür gegenüber. Dort stand auf den brüchigen Dielen ein dunkles Etwas. Jetzt beleuchtete Tory es. Es war eine seltsam geformte große Urne oder Vase.

Tory bückte sich und hob sie mühsam auf. Sie schien recht schwer zu sein. Dann brachte er sie angeschleppt und reichte sie mir.

„Vorsicht, sie hat Gewicht!“ flüsterte er.

Ich nahm sie in Empfang, und Tory schlich wieder auf Fußspitzen nach der Mitte des Zimmers hin, ließ von hier den Strahlenkegel abermals über die Wände gleiten.

Ich sah, daß das weiße Licht plötzlich auf der linken Wand, wo ein riesiger Kachelofen stand, halt machte, wie mein Freund nun sich langsam dem Ofen näherte und etwas betrachtete, das ich nicht sehen konnte, da es durch den Ofen verdeckt wurde. Das Etwas mußte sich aber an der Wand dicht neben dem Ofen befinden.

Ich wurde ungeduldig. Die Vase war recht schwer. Ich hielt sie mit meinen Armen umklammert. Und ich mußte sie ordentlich gegen den Leib drücken, damit sie mir nicht entglitt.

Dann kam Tory langsam, recht zögernd, zu mir zurück, schaute mich eine Weile an und sagte kurz:

„Gehen wir!“

Er machte sich die höchst überflüssige Arbeit, die Tür wieder von außen zu verschließen.

„Wozu das?!“ brummte ich ungeduldig.

„Nachher!“ meinte er mit Betonung.

Die Vase nahm er mir dann ab, indem er erklärte: „Du sollst nicht zum Diebe werden. Ich trage die Verantwortung!“