Als die Meller, meine Aufwartefrau, mich weckte, war es bereits halb neun Uhr.
Ich fuhr hoch über dem energischen Klopfen, schaute wild um mich.
Ich hatte soeben geträumt, daß wir den Mörder in die Vase eingesiegelt hatten, daß er darin erstickt war und wir uns auf diese Weise selbst eines Todschlags schuldig gemacht hatten.
Dann sah ich draußen den Sonnenschein auf den Dächern glänzen, sah den blauen Himmel, – sah aber auch die zerbrochenen Scheiben des Mordzimmers da drüben, hinter denen sich Gestalten bewegten: Kriminalbeamte!
Da standen mit einem Male mit greifbarer Deutlichkeit all die Ereignisse der verflossenen Nacht vor meinem inneren Auge. Eine ganze Reihe von Bildern war’s, die blitzschnell sich abrollten. Das ganze Drama im leeren Hause …! –
Ich rief jetzt: „Schon gut, Frau Meller! Bin schon munter!“ Und dann noch lauter: „He – Tory – – aufstehn! Aufstehn!“
Die Tür nach der Kammer war nur angelehnt.
Keine Antwort. – Nochmals brüllte ich mit Donnerstimme: „Tory – Tory!“
Ich hätte mir diese Lungenanstrengung sparen können. Mein Freund war nicht mehr zu Hause, war bereits unterwegs. – Wohin und zu welchem Zweck, erfuhr ich sehr bald. –
Die Meller ist so etwa das launenhafteste alte Weiblein, das ich kenne. Ihre Stimmung ist von winzigen Kleinigkeiten abhängig. – Mir ist sie in übler Laune am liebsten, denn dann – – schweigt sie …!
Heute ging ihr Mundwerk wie ein Propeller mit höchster Tourenzahl.
Natürlich war das Thema der Tote im Hause gegenüber. Der ganze Pfeffergang wußte bereits, was sich dort abgespielt hatte. Und die Meller wohnte auch im ‚Pfeffer‘.
Ich war einfach platt, was Frau Fama inzwischen bereits aus den Vorgängen, so weit diese in die Öffentlichkeit gedrungen sein konnten, gemacht hatte …!!
Mehr als einmal mußte ich lächeln, wenn die Meller mir schilderte, wie der Mörder selbst auf der Polizeiwache erschienen war und in die Wachtstube hineingerufen hätte: Ich hab’ ihn in Nummer neun aufgehängt …!!‘
Ich tat natürlich der Meller gegenüber so, als ob wir, Tory und ich, die ganze Geschichte verschlafen hätten und nichts davon wüßten. –
Was Tory und die Meller anbetrifft – ich glaube dies hier erwähnen zu müssen! –, so konnte mein Freund sich rühmen, von meiner Aufwartefrau wie ein Heiliger verehrt zu werden. Ob diese Anbetung den Trinkgeldern galt, die Tory dem Weiblein bei seinen Besuchen oft und reichlich spendete, oder ob seine äußere Aufmachung ihr imponierte, will ich nicht näher untersuchen.
Kurz, die Meller liebte ihn, wagte nie, an ihm ihre Launen auszulassen, was mir gegenüber häufiger vorkam.
Als sie gehört und gesehen hatte, daß Tory unser Gast geworden und die Kammer bezogen hatte, bekam ich so verschiedenes versetzt: ‚Warum ich den Herrn Ruhnau denn nicht gleich in der Küche einquartiert hätte …?! Dort sei’s doch noch ungemütlicher!!‘ – und ähnliches mehr.
Viktor Ruhnau war um sieben Uhr munter geworden, hatte sich leise angekleidet, sich rasiert, parfümiert, die Nägel poliert, und war dann davongeschlichen.
Im linken Nebenhause stieg er gleich darauf die Treppen empor. Auch hier war es dunkel wie in tiefer Nacht. Stinkende Petroleumlämpchen standen auf den Treppenabsätzen, deren Licht jedoch nicht genügte, um die Türschilder der Wohnungsinhaber und Visitenkarten der ‚möblierten Herren‘ entziffern zu können.
Auch dieses Haus hatte eine Mansarde, in der die verwitwete Frau elektrische Straßenbahnoberkontrolleur Schmitz wohnte.
Bei der Schmitz klingelte Ruhnau zuerst an, obwohl hier keine Visitenkarte an der Tür hing.
Die Witwe war daheim. Viktor fragte, ob er ein bescheidenes Zimmer haben könne, das er für einen Freund mieten solle.
„Bedaure. Ich habe nur eins, das ich möbliert abgebe. Und das ist besetzt,“ lautete die Antwort.
„Hm – ich habe aber gehört, Ihr Neffe will ausziehen,“ meinte Viktor. „Es ist doch ein Ausländer, nicht wahr?“
„Ausziehen? – Nein! – Ausländer – ja!!“
„So, – also stimmt’s wirklich. Ich kenne den Herrn nämlich von Berlin her, Frau Oberkontrolleur. Ich sah ihn gestern in dieses Haus hineingehen. – Wie heißt er doch schnell?“
„Howard Tompson.“
„Richtig – richtig – Tompson – Tompson! – Er hatte in Berlin so seine Eigentümlichkeiten, liebte es, den Himmel mit dem Fernglas zu beobachten, saß manchmal stundenlang irgendwo auf einem Turm oder hohem Dach.“
Frau Schmitz lächelte den hübschen, eleganten Herrn an und nickte. Sie war schon mit fünfunddreißig Jahren Witwe geworden, und sie sehnte sich nach Liebe …
„Ja, ja,“ meinte sie, „so treibt er’s auch hier. Ich habe ihm letztens den Schlüssel zum Dachboden vom Hauswirt besorgen müssen, damit er jederzeit seine Studien machen kann.“
„Hm – eigentlich möchte ich Tompson gleich begrüßen!“ sagte Viktor jetzt, nachdem er die Schmitz so fein ausgeholt hatte. „Schläft er noch, Frau Oberkontrolleur?“
„Ich glaube. – Bitte, kommen Sie, Herr. Ich werde mal anklopfen.“
Tompson bewohnte das größte der Zimmer nach der Wasserseite zu. – Aber – das Klopfen war umsonst.
Frau Schmitz drückte auf die Türklinke, indem sie erklärte: „Er ist oft schon ganze Nächte weggeblieben.“
Das Bett war auch heute unberührt.
Viktor hatte das vorausgesehen. – Frau Schmitz erzählte ihm dann noch so mancherlei von den Absonderlichkeiten ihres Mieters, der jetzt etwa drei Wochen bei ihr wohnte.
Als Tompsons ‚Berliner Freund‘ dann ging, sagte sie: „Kommen Sie recht bald wieder, Herr!“ Und ihre hellen Augen wurden noch schmachtender. –
Eine Viertelstunde später, gegen neun Uhr, betrat Viktor das Geschäftszimmer Isidor Katzensteins.
Herr Katzenstein und Pinkus waren allein anwesend. Frau Rebekka pflegte noch ihre fettgepolsterte Schönheit, schaute aber für einen Augenblick durch die Türspalte, um zu sehen, ob’s ein Kunde oder ‚nur sonst jemand‘ war.
„Morgen, Herr Katzenstein,“ meinte Ruhnau gemütlich. „Na, haben Sie die beiden Brillantringe taxiert?“
Der kleine, dürre Mann rieb sich verlegen die Hände.
„Herr Doktor, – was soll ich lang’ Ausflüchte machen. Es geht nicht …!“ sagte er dann.
„Was geht nicht?“
„Daß ich Ihnen beleihe die Ringe …“
„Herr Doktor – ich lieb’ die Herrn Studenten, – daher – ganz im Vertrau’n: Ihr Herr Vater, der Herr Konsul, war gestern nachmittag auch hier – drüben in meiner Privatwohnung. Und er hat – hm ja – er hat gesagt, ich dürfte mit Ihnen nicht machen e Geschäft, sonst würd’ er mir machen Schwierigkeiten, der Herr Konsul, Ihr Vater …“
„Bitte – Stiefvater, nichts weiter!!“
„…ist e mächt’ger Mann hier bei uns, und daher …“
„So – also deshalb …!!“ Viktor preßte die Lippen aufeinander, überlegte.
„Hören Sie, Herr Katzenstein,“ sagte er dann mit Nachdruck. „Ich werde demnächst fünfundzwanzig, bin also mündig und auch nicht etwa wegen Verschwendung entmündigt! Sie müssen also mir so gut wie jedem anderen Pfänder Dinge beleihen, die mein rechtmäßiges Eigentum sind.“
Katzenstein wand sich wie ein Aal.
„Es geht nicht, verehrtester Herr Doktor, – es geht nicht. Sie werden doch nicht wollen ruinieren einen alten Mann, der schon in seinem Leben hat gehabt so viel Unglück. Sehen Sie, Herr Doktor, ich hab’ besessen in Berlin in der Mohrenstraße ’ne Pfandleihe nur for Schmucksachen. Acht Jahre sind’s her, das bin ich worden überfallen am hellen lichten Tage, niedergeschlagen mit ’n Hammer im Geschäftsraum und beraubt … Da hab’ ich müssen wieder anfangen von vorn. Aber der Gott meiner Väter hat gehabt abgewendet sein Gesicht von Isidor Katzenstein. Nichts glückte mehr. Bis ich hier kam nach Danzig. Ich bin zufrieden jetzt … Und da werden Sie doch nicht …“
Viktor unterbrach ihn. „Nein, nein, bewahre! – Also geben Sie mir die Ringe wieder zurück.“
Das Männchen hob jetzt verzweifelt beide Arme hoch.
„Herr Doktor – ich hab’ sie nicht mehr! Ich hab’ sie müssen aushändigen gegen Quittung dem Herrn Konsul …“
Viktors Gesicht verzerrte sich.
„Ist das wahr?!“ schrie er.
„Gott der Gerechte, Herr Doktor, – man könnte kriegen Angst vor Ihnen …! – Ja – es ist wahr. Wollen Sie sehn die Quittungen?“
Viktor nahm sich zusammen. „Danke. Lassen Sie nur, Herr Katzenstein!“ Und nach einer kurzen Pause: „Sie können mir aber einen anderen Gefallen tun. Gestern Vormittag war doch gleichzeitig mit mir ein junges Mädchen hier, – tief verschleiert – Sie besinnen sich wohl. Ich interessiere mich so etwas für die Dame. Könnten Sie mir vielleicht deren Adresse angeben? Selbstverständlich verspreche ich Ihnen strengste Diskretion. – Sie müssen ja wohl beides notiert haben, – Namen und Adresse.“
Katzenstein lächelte. Er lächelte aus einem doppelten Grunde. Erstens weil die Geschichte mit den Ringen so glatt abgelaufen war, und dann, weil er Verständnis für so kleine Abenteuer hatte. Früher – das war lange her! – hatte er seiner Rebekka so manches verschwiegen …!!
Er suchte nun also in dem dichten Kontobuch die betreffende Eintragung heraus.
„Fräulein Erna Link, vierten Damm Nr. 7, zwei Treppen,“ flüsterte er. „Werden Sie’s behalten, Herr Doktor?“
„Ja, gewiß. – Danke vielmals. – Morgen, Herr Katzenstein.“ –
Und wieder eine halbe Stunde später stand Viktor Ruhnau abermals vor dem Tomtisch mit denen festgeschraubten Glasplatten und Herr Katzenstein dahinter, während Frau Rebekka am Fenster die Morgenzeitung studierte und Pinkus zu ihren Füßen nach frechen Fliegen schnappte.
„Herr Katzenstein, die Sache stimmt nicht,“ begann Viktor.
Der kleine Pfandleiher dachte an die Ringe. Aber er hatte ja ein reines Gewissen.
„Wie heißt – stimmt nicht?“
„Weder der Name noch die Adresse. – Fräulein Erna Link, vierten Damm Nr. 7, ist eine alte Jungfer von sechzig Lenzen mindestens, wie ich soeben festgestellt habe – frech und gottesfürchtig!“
Isidor Katzenstein beugte sich weit vor.
„Wahrhaftig – eine alte Jungfer?“
„Tatsache, an der nicht zu rütteln ist.“
Das alte Männchen kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr. Dann sagte er leise:
„Herr Doktor, – kommen Sie mit in mein Privatkontor da. Ich möchte’ was bereden mit Ihnen. Ich hab’ gesehen aus Ihrer Legitimation gestern, daß Sie studieren auf’n Richter los. Vielleicht können Sie mir geben e guten Rat in einer Angelegenheit, wo uns, meine Frau und mich, die ganze Nacht nicht hat schlafen lassen.“