Dieser Besuch war mir aus Berufsinteresse ganz wertvoll. Ich lernte auf diese Weise einmal das Heim einer Kartenlegerin kennen.
Das Haus sah von außen recht anständig aus. Eigentlich ein wenig prosaisch, ja zu prosaisch für das Metier der Bewohnerin des zweiten Stockwerks.
Vor der Flurtür machten wir halt und verschnaufen erst einmal nach den steilen Hühnerstiegen.
Das Treppenhaus war – ein Wunder! – recht hell, so daß wir das Türschild ‚E. Link‘ bequem lesen konnten, ebenso auch die beiden Visitenkarten, die auf ‚möblierte Herren‘ hindeuteten.
Als die elektrische Glocke dann drinnen schrillte, erhob sofort ein kleiner Köter ein wildes Gekläff, worauf bald eine Stimme laut wurde, die das Vieh liebreich zu beruhigen suchte.
Die Tür ging auf, und vor uns stand ein spindeldürres abschreckend häßliches, buckliges Geschöpf, das mit einem schreiend bunten Morgenrock bekleidet war, während auf dem dünnen, grauen Haupthaar ein Spitzenhäubchen thronte.
Die winzigen, dunklen Äuglein des Vogelgesichtes Fräulein Links musterten uns argwöhnisch.
„Womit kann ich dienen?“ fragte sie dann unfreundlich mit einer piepsigen Stimme.
„Ich möchte Sie konsultieren,“ erwiderte Tory völlig ernst und mit berückender Liebenswürdigkeit.
„Bitte!“ – Sie führte uns in das Allerheiligste, ein Hinterzimmer.
Ich war enttäuscht. Dieses Zimmer war recht behaglich ausgestattet. Nichts erinnerte an den Beruf der Besitzerin dieses Heims – nichts!
Wir nahmen an dem Tisch in der Mitte Platz.
Tory wiederholte seine Bitte …
„Ich möchte Sie nämlich um Rat fragen, Fräulein Link. Sie sind mir empfohlen worden.“
„Das ist nicht wahr!“ entgegnete sie ruhig, indem sie mit im Schoß gefalteten Händen dasaß und auf die gestickte Tischdecke blickte.
Ich mußte mir das Lachen verkneifen. Tory war verlegen geworden – ausgerechnet Tory!!
„Nun gut – es ist nicht wahr,“ meinte er. „Trotzdem werden Sie mir hoffentlich einen Beweis Ihrer Fähigkeit geben, aus den Karten mehr herauslesen zu können als andere.“
Sie behielt dieselbe Haltung bei, schüttelte nur den Kopf.
„Nein, das werde ich nicht! Herren, wie Sie beide kommen nur zu mir, um sich über mich lustig zu machen.“
„So?! – Dann sind Sie eine miserable Menschenkennerin, Fräulein Link. Wir sind keine herzlosen Patrone. Mein Freund ist Schriftsteller, und er wollte mit eigenen Augen sich mal überzeugen, wie es bei einer Kartenlegerin, deren Kundschaft auch die besseren Stände umfaßt, hergeht.“
„Auch das ist nicht wahr,“ sagte sie mit ihrem feinen Stimmchen ganz gleichmütig.
„Wenn Sie alles besser wissen, dann klären Sie uns doch mal bitte über den Zweck dieses Besuches auf,“ meinte Tory sehr höflich, indem er mir verstohlen zuzwinkerte.
Das alte Fräulein blickte noch immer nicht auf. Vielleicht war das bewußte Eigenart, die die Neugierigen verwirren sollte.
„Ich werde die Karten befragen,“ lautete die Antwort.
Und mit einem Mal hatte sie – wo hatte sie sie nur herbekommen?! – ein Spiel ganz neue Karten in der Hand, riß jetzt die Umhüllung ab und begann sehr geschickt zu mischen.
Ich stellte fest, daß sie sehr gepflegte Hände hatte und ein paar altertümliche Brillantringe trug.
Sie ließ dann durch Tory die Karten zu drei Häufchen aufschichten und aus jedem vier beliebige Karten ziehen, also zwölf im ganzen. Die dreizehnte zog sie selbst aus dem mittelsten Häufchen.
Die dreizehn Karten mußte Tory mischen und mit der Bildseite nach oben nebeneinander legen. Ein Zufall wollte es, daß sehr viel rot darunter war, auch die Herzdame. Links neben dieser lag die Treffsieben.
Die Wahrsagerin stand jetzt auf, verließ wortlos das Zimmer und kam nach kaum zwei Minuten zurück.
Inzwischen hatte Tory sich in dem wohnlichen Raum genau umgesehen. –
Das dürre Weiblein trat an den Tisch, schob die dreizehn Karten zusammen und legte sie bei Seite, indem sie sagte: „Ich danke den Herren!“
„Na nu ?!“ entfuhr es Tory. „Sie wollten doch …“
„Der Spruch wird zur Zeit da sein,“ fiel sie ihm ins Wort. „Ich danke den Herren.“
Das war ein besseres Hinausgeworfenwerden!
Wir erhoben uns recht enttäuscht. Und Tory fragte kurz: „Was bin ich schuldig?“
„Nichts! Nur für die Karten, die ich stets nur einmal benutze, bitte ich den Preis zu erstatten – drei Mark.“
Teure Karten!!
Tory bezahlte und sagte, während er das Geld auf den Tisch legte:
„Haben Sie letztens mal ein Schriftstück verloren, Fräulein Link?“
Die dunklen Mausaugen schauten auf. Ich merkte, diese Frage überraschte die Kartenlegerin doch.
„Weshalb wollen Sie das wissen?“ meinte sie etwas zögernd.
„Weil man von diesem Schriftstück einen gesetzwidrigen Gebrauch gemacht hat,“ erklärte Tory gelassen.
Fräulein Link wurde unruhig.
„Ich habe allerdings etwas verloren – gestern morgen,“ sagte sie unsicher. „Nicht eigentlich verloren. Ich ließ ein an mich gerichtetes Schreiben der Steuerbehörde auf einem der Pulte des Schalterraumes am Hauptpostamt aus Versehen liegen.“
„Ist das die Wahrheit?“ fragte Tory jetzt gedehnt.
„Ja!“ Das klang aufrichtig. „Aber – Sie sprachen von einem Mißbrauch diese Schriftstückes,“ fügte sie schnell hinzu. „Wie soll ich das verstehen?“
„Darüber darf ich Ihnen vorläufig leider keine Auskunft geben, Fräulein Link. Aber Sie werden dadurch keine Unannehmlichkeiten haben – bestimmt nicht!“
Sie schien erleichtert aufzuatmen.
Tory wandte sich zur Tür.
„Bitte – die Karten dürfen Sie nicht hier lassen,“ sagte die Link ziemlich energisch. „Nehmen Sie sie mit und – beachten Sie stets die Herzdame und die Treffsieben.“
Tory steckte das Spiel in die Tasche. Und gleich darauf gingen wir wieder im hellen Mittagsonnenschein durch die Straßen, beide schweigsam, beide darüber nachgrübelnd, ob die Link uns wohl angelogen habe, als sie die Geschichte von dem liegen gelassenen Schreiben erzählte.
Erst während des Mittagessens im Restaurant ‚Deutsches Haus‘ sagte Tory: „Ich habe den Eindruck gehabt, als wenn sie nicht log.“
Ich erklärte, mir sei es ebenso ergangen.
„Was sie nur damit gemeint haben mag, ‚Der Spruch wird zurzeit da sein‘?“ fragte er dann.
Ich zuckte die Achseln. –
Nachher schenkte er dem Kellner, der uns bediente, die Karten. – „Da – das Spiel bringt Glück, Ober! Es stammt von einer Wahrsagerin!“
Der Kellner bedankte sich. Als er uns gleich darauf den Braten brachte, legte er die Karten mit der Treffsieben oben vor Tory hin und sagte:
„Ich glaube den Herrn darauf aufmerksam machen zu müssen, daß hier,“ – er deutete auf die Treffsieben – „eine Bleistiftnotiz steht.“
Tory griff sehr hastig nach der Treffsieben, reichte sie mir dann mit bedeutungsvollem Blick.
Mit zierlicher Schrift stand zwischen den schwarzen Kreuzen:
Spruch: Du suchst der Schönheit zu schaden. Daher wirst du sie nie finden. – –
Tory gab dem Kellner zwei Mark und behielt die Karten. –
Während wir uns den vorzüglichen Emmentaler als Nachtisch schmecken ließen, sagte er dann zu mir:
„Karl, begreifst du das? – Die Link spielt in ihrem Spruch doch fraglos auf die Madonna an.“
„Das meine ich auch.“
„Die Treffsieben hat sie natürlich heimlich mitgenommen, als sie das Zimmer verließ,“ fuhr er fort. „Aber – sie hat’s geschickt gemacht! Auf Dumme wirkt so etwas! – Deshalb also sollte ich die Herzdame und die Treffsieben ‚stets beachten‘! Ich sollte auf das Geschriebene aufmerksam werden!!“
„Natürlich! – – Immerhin, – woher nur wußte sie etwas von der Madonna?!“
Er trank erst seinen Rotwein aus und erwiderte dann:
„Die Geschichte ist wahrscheinlich sehr einfach. Soeben ist mir ein Licht aufgegangen: der Schneidermeister im Erdgeschoß!!“
„Ah – du meinst …?!“
„Ja – er muß mit der Link im Bunde stehen, muß!! Obwohl er sehr abfällig über sie sprach. Aber gerade das ist verdächtig! Ich beschrieb ihm doch die Madonna, die ich anstatt der Link suchte.“
„Hm – unmöglich wär’s nicht!“
„Im Gegenteil! – Denk’ mal, – wie viele Leute, die die Link konsultieren wollen, werden sich zuerst vielleicht noch bei Meister Bunke nach ihr erkundigen. Und er ist ein so freundliches, geschwätziges Männchen. Ich werde mal die Probe aufs Exempel machen.“
„Wie denn?“
„Das wirst schon sehen!“ – –
Gegen ein halb zwei nachmittags waren wir wieder daheim.
In meinem Briefkasten sah ich etwas Helles schimmern. Ich schloß auf. Es war ein an Tory gerichteter Brief ohne Marke, also durch einen Boten oder vom Absender persönlich überbracht.
Die Adresse sah sehr zierlich aus. Eine Damenhandschrift, – – wahrhaftig, – von der Link!! Auch Tory erkannte die Schrift sofort wieder.
In dem Umschlag lag ein sauber geschnittener Zettel. Darauf stand ohne Anrede:
Das Schriftstück ist mir soeben mit der Post anonym zugesandt worden.
Tory benahm sich jetzt sehr komisch, – rannte nämlich einfach davon, indem er mir zugibt: „Halte nur deinen gewohnten Mittagsschlaf! Auf Wiedersehen!“ –
Ich schlief wirklich bis drei Uhr. Als ich dann in mein Schlafzimmer ging, um mir das Haar überzubürsten, rief Tory mir aus seiner Kammer zu:
„Trommler – ich bin ihr auf der Spur!!“
Er trat mir in Hemdsärmeln entgegen, hatte auch ein wenig geruht, nachdem er durch den Geheimweg in seine Kammer gelangt war.
„Wem bist du auf der Spur?“
„Der Madonna natürlich! Oder dachtest du an die Link?! Was die anbetrifft, da war’s doch nach ihrem Briefe klar, daß sie mit dem Schneiderlein unter einer Decke steckt! Woher sonst meine Adresse, mein Name?! Und beide hatte ich dem Meister Bunke angegeben! – Also nun zur Madonna!“ Er rieb sich vergnügt die Hände. „Die Link hatte zum Glück den Umschlag aufbewahrt, in dem ihr das Schreiben der Steuerbehörde wieder zugegangen war. Sie hat mir sogar den Umschlag geschenkt, obwohl ich so unhöflich war, ihr gegenüber anzudeuten, daß Meister Bunke ihr Vertrauter wäre, daß sie nur von ihm erfahren haben könnte, daß ich mich nach einer jungen Dame, so und so aussehend, bei ihm erkundigt hätte. Sie wies diesen Verdacht natürlich entrüstet zurück, ebenso wie ich ihr Ansinnen zurückwies, ihr mitzuteilen, was denn mit dem Schreiben der Steuerbehörde von der Person, die es ihr nun wieder zurückgeschickt hatte unternommen worden sei. –
Daß die Madonna hier als die ‚Person‘ in Frage kam, – dies zu kombinieren, dazu reichte es bei der Link nicht!“
Tory zeigte mir jetzt den Umschlag. Die Marke war in Heubude abgestempelt. Das ist ein kleiner Badeort an der alten Weichsel, mitten im Kiefernwalde gelegen, von dem aus man in fünfzehn Minuten am Ostseestrande ist.
„Sie wohnt in Heubude, Karl, – ganz sicher! Ich fahre noch heute hin,“ meinte er. „Um vier Uhr geht ein Dampfer.“
„Na – so ganz sicher scheint mir das doch nicht. Der Brief kann dort auch nur zur Post gegeben sein, um die Link als Empfängerin zu täuschen.“
„Nein! – Bedenke doch, die Madonna ahnt ja nicht, daß jemand die verbindenden Fäden bereits herausgefunden hat, fühlt sich ganz sicher! In Heubude wohnen eine Menge Leute! Wie sollte die Link gerade sie unter den Hunderten herausfinden, und – die Hauptsache! – weshalb sollte die Link überhaupt nach ihr suchen?! –
So wird die Madonna kalkulieren, indem sie eben überzeugt ist, daß Katzenstein nicht ahnt, daß sie sich falsch legitimiert hat.“
„Gut – fahre nach Heubude! – Aber – was wird aus der Schmitz?! Du wolltest doch zu ihr als Kaffeegast.“
„Bitte, – übernimm du das, Karl. Tu’ mir den Gefallen. Aber – sei schlau! – Ich möchte von der Schmitz erfahren, ob Tompson hier mit jemandem verkehrt hat. Und – wenn möglich, – schau’ dich in seinem Zimmer genauer um.“
„Ich wäre sofort bereit, Tory! Du vergißt nur, daß die Schmitz mich von Ansehen sicher kennt. Im Pfeffergang kennen sich alle Leute.“
„Hm!! – Nein,– es geht nicht. Du hast ganz recht. Auf diese Weise könnte die Polizei auf uns aufmerksam werden, die sich doch früher oder später bei der Schmitz einfinden wird, sei es nun, daß die Witwe das Verschwinden ihres Mieters anmeldet, sei es, daß auf andere Art festgestellt wird, wer der Tote ist. Und steht die Polizei erst mit der Schmitz in Verbindung, so wird sie die Frau Oberkontrolleur natürlich gehörig über Tompson ausholen, und dann müßte herauskommen, daß du für den angeblichen Engländer Interesse gehabt hast.“
„Sehr gut gefolgert, Tory. – Ich kann diesen Gedanken auch weiter ausspinnen. Zuvor eine Frage. Hast du der Schmitz deinen Namen genannt?“
„Nein. Ich wußte das zu umgehen.“
„Trotzdem kann die Polizei auf uns hingewiesen werden, lieber Tory, – denn die Witwe braucht uns beide nur mal zusammenzusehen, so ist die Geschichte schon faul! Mich erkennt sie dann als ihren Hausnachbarn wieder und dich als den Freund Tompsons, der in Berlin mit ihm zusammengewesen sein will. Erfährt dies die Kriminalpolizei, sitzen wir schon fest!! Dann kommt sicherlich ein Beamter zu mir, – und wie willst du dann dein Interesse für Tompson erklären, – he?!“
„Verflixt! Diesmal bist du der Schlauere! Eigentlich dürften wir uns gar nicht mehr außerhalb des Hauses zusammen zeigen!! – Üble Sache, wahrhaftig!!“
„Nein – wir dürfen es wirklich nicht!“ meinte ich jetzt infolge meiner eigenen, soeben angestellten Schlußfolgerungen ernstlich besorgt, indem mir die Lahore-Vase als Schreckgespenst vorschwebte, die wir gestohlen hatten. „Vergiß die Vase nicht, Tory!! Sie kann uns teuer zu stehen kommen, falls die Polizei irgendwie erfährt, daß sie im Mordzimmer aufbewahrt wurde.“
Tory hatte sein Monokel aus dem Auge genommen und reinigte es mit dem seidenen Taschentuch.
„Halt – ich hab’s!“ rief er dann plötzlich. Und er lächelte mich triumphierend an. „Ich reise einfach ab, Trommler, – mit einem leeren Koffer …“ –