Kapitel 3

Die nächste Runde Fragen wurde durch ein Klopfen an der Tür der Verhörzelle unterbrochen. Cranmer steckte seinen Kopf herein und flüsterte dem Lieutenant etwas ins Ohr. »Mist!« rief sein Vorgesetzter und drängte sich dann an ihm vorbei hinaus. Die Tür wurde geschlossen.

Allein zurückgelassen, schlief ich auf dem harten Stuhl ein und träumte von Männern mit Löchern in der Brust, die sich durch grauenhaften Glibber schleppten, während aus ihren Nasenlöchern und aus ihren Mundwinkeln rosa Schaum quoll. Ich erwachte, die Hände um die Beine meines Stuhles geklammert, um John Alderdyce zu erblicken, der mich von der Türschwelle her mit finsterem Blick musterte. Ich rieb mir die Augen und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare, um mich etwas präsentabel zu machen. Dabei fragte ich mich, um wieviel das Grau darin zugenommen haben mochte.

»Vielen Dank, John, daß du gekommen bist. Ich bin dir zutiefst verpflichtet.«

»Vergiß es«, sagte er. »Vergiß bitte auch mich. Es gibt nichts, was ich lieber täte, als zehn Stunden vor Dienstbeginn wieder ins Büro zurückzukommen. Tu mir den Gefallen und vergiß, daß ich je gelebt habe.«

Ein Schwarzer mit etwas groben Gesichtszügen und so viel Sinn für gute Garderobe, wie man es sich bei dem Gehalt eines Detektiv-Lieutenants leisten kann, hatte John in der Eile nach einem Oberhemd gegriffen, das aussah, als habe er es bereits während der ganzen Sechzehn- bis Vierundzwanzig-Uhr-Schicht getragen. Die Jacke im Safari-Look, etliche Schattierungen heller als die Hose, und das Halstuch wirkten dagegen taufrisch. Wir hatten uns vor zwanzig Jahren kennengelernt, als sein Vater und meiner als Partner eine Tankstelle auf der Westseite geführt hatten. Nicht, daß wir in unseren jeweiligen Berufen Freunde genannt werden konnten.

»Verlangen sie eine Kaution für mich?« wollte ich wissen.

»Nein, Fitzroy läßt dich so laufen.«

»Fitzroy?«

»Du hast gerade zwei Stunden mit ihm verbracht. Seid ihr euch nicht vorgestellt worden?«

»Vielleicht. Ich bin ein bißchen groggy. Hast du kräftig zulangen müssen?«

»Überhaupt nicht. Ich habe nur mit Logik gearbeitet.« John kochte noch immer. »Sie können keine Mordwaffe finden, und die Frau, die deinen Kampf mit Bingo Jefferson gemeldet hat, weigert sich, ein Protokoll zu unterschreiben.«

»Eine Frau«, sagte ich nachdenklich. »Rothaarig, gute Figur, mittelgroß.«

»Du hast sie also gesehen.«

»Mit ihrem Zuhälter. Sonst noch was?«

»Sie haben den Mörder noch nicht geschnappt, falls du das meinst.«

»Ich dachte an Ann Maringer.«

»Da könnten wir von derselben Person reden.«

»Das habe ich auch schon überlegt. Aber ich glaube nicht.

Er schob das erst einmal beiseite. »Was hast du zu Fitzroy gesagt? Gewöhnlich geht er nicht gleich so auf die Palme, wenn er mal in einem Fall nicht weiterkommt.«

Ich zuckte die Achseln. »Ich habe mir bloß nichts von ihm gefallen lassen. Willst du mir daraus etwa einen Vorwurf machen? Schließlich wollte er mir einen vorsätzlichen Mord anhängen.«

Ein uniformierter Polizist erschien hinter Alderdyce. »Entschuldigen Sie, Lieutenant, aber wir brauchen diesen Raum für einen Sittenstrolch.«

»Komm mit in mein Büro«, sagte Alderdyce.

Wir gingen erst einmal nach unten, um uns meine Sachen wiedergeben zu lassen. Der Sergeant an der Ausgabe, ein Veteran mit einer Zweistärken-Brille, vier Sternen am Ärmel und Bürstenhaarschnitt teilte mir mit, meinen Revolver müßten sie noch eine Weile behalten. Ich sagte, ich würde mich deshalb an seinen Captain wenden und er erwiderte, ich könne ihm mal den Buckel runterrutschen.

Auf dem Weg nach oben trafen wir Lieutenant Fitzroy, der uns mit einem Kordmantel und einem schmalkrempigem Hut bekleidet entgegen kam. Seine Kopfbedeckung ließ ihn wie einen Gnom wirken.

»Versuchen Sie bloß, die Stadtgrenze zu überschreiten«, drohte er mir. »Versuchen Sie es bloß, und Sie sitzen schneller im Knast, als Sie Luft holen können.«

»Hör auf, den wilden Mann zu spielen, Fitz«, sagte John Alderdyce. »Walker ist zwar eine Nervensäge aber kein Killer.«

Der andere ließ seinen Blick zwischen uns hin und herwandern. In den hellblauen Augen lag noch immer das gewisse Funkeln. Ein Leichenbestatter würde einmal Spaß daran haben, ihm das konstante Lächeln aus dem Gesicht zu zaubern. Dann ließ er uns stehen und strebte dem Ausgang zu.

»Nimm dich vor ihm in acht«, warnte Alderdyce, als wir uns in der vertrauten Atmosphäre seines karg ausgestatteten Büros befanden. Er schwang eines seiner langen Beine über die Ecke seines grauen Metallschreibtisches und begann seine Taschen abzutasten. »Er besitzt das Ohr von Proust. Und du weißt, was der von dir hält.«

Mein alter Freund Inspector Proust. Ich fragte mich, ob er noch immer den Permutt-Griff seiner Colt-Automatic einkerbte. Ich holte mein Päckchen Winstons heraus und bot John eine an. »Niemand kann mir vorwerfen, mich bei irgendwelchen Leuten Liebkind zu machen«, erklärte ich, gab ihm Feuer und bediente mich selbst. Der Glimmstengel schmeckte gut auf meinen leeren Magen. Als nuckle man an einem Autoreifen. »Was ist mit Fitzroys Partner?«

»Cranmer? Der ist ein Psychopath. Eine von den kleinen Begleiterscheinungen, das Niveau zu senken, um rassische Ausgewogenheit im Polizeipräsidium zu erreichen.«

Ich beobachtete, wie er rauchte. »Ich dachte, du hättest es aufgegeben.«

Er schnitt ein Gesicht und nahm einen tiefen Zug. »Fang du nicht auch noch an. Ich höre schon von meiner Frau genug. Was du da zwischen den Fingern hältst, ist auch kein Strohhalm.«

»Wenn ich alles aufgeben müßte, was mich umbringen könnte, würde ich Selbstmord machen. Was für eine Kugel hat man aus der Leiche geholt?« Ich ließ mich auf einem harten Stuhl nieder. Verglichen mit dem in der Verhörzelle, war er geradezu ein Polstersessel.

Alderdyce schob eine Hand in die Seitentasche, zog sie wieder heraus und öffnete sie unter meiner Nase. Auf dem Graurosa seiner Handfläche sah sie klein und unbedeutend aus, durchaus nicht tödlich. Ein paar Fusseln hafteten an dem rauhen Blei.

»Eine Zweiunddreißiger«, erläuterte er. »Vermutlich aus einem Revolver abgefeuert, weil sie nicht ummantelt ist. Es wurde auch keine Patronenhülse gefunden. Der Arzt hat die Kugel aus Jeffersons Wirbelsäule herausgeholt, wo sie steckengeblieben war, nachdem sie den rechten Lungenflügel durchschlagen hatte. Er ist übrigens in seinem eigenen Blut ertrunken.«

Ich nickte, nur um etwas zu tun. »Aus was für einem Winkel?«

»Glatt von vorn.«

»Das würde einen Mörder von etwa Jeffersons Größe bedeuten.«

»Von wegen. Revolver beziehungsweise Pistolen sind leicht zu tragen. Deshalb nennt man sie Handfeuerwaffen. Es könnte ein Zwerg gewesen sein, der auf einem Stuhl steht. Oder Jefferson könnte gekniet haben, zu seinem allabendlichen Nachtgebet. Du hast wieder Sherlock Holmes gelesen.«

»Das hilft mir, meine Arbeit zu vergessen.« Ich klemmte meine Zigarette zwischen die Zähne und begann mich wieder etwas menschlich zu machen. Alderdyce beobachtete mich.

»Willst du mir nicht etwas über deine Klientin erzählen?«

Ich gab meine kurze Unterhaltung mit Ann Maringer wieder, wobei ich allerdings die Sache mit dem Ring ausließ. Ich weiß selbst nicht, warum. Während der Wiederholung verstand ich nun auch, warum Fitzroy mir meine Story nicht abgenommen hatte. Es fiel mir selber ein bißchen schwer. »Den Rest kennst du«, schloß ich. »Oder du solltest ihn zumindest kennen. Er liegt als Bandaufnahme vor.«

»Hat sie nicht gesagt, warum sie zu verschwinden erwartete?«

»Das sollte später kommen. Wie hätte ich ahnen sollen, daß es kein Später gibt?« Ich band meine Krawatte neu und unterdrückte das Bedürfnis, mich in der kahlen Stelle an Johns Hinterkopf zu spiegeln. Mein Hals fühlte sich an wie Schmirgelpapier.

»Was hat sie dir als Anzahlung gegeben?«

»Gar nichts. Und selbst wenn, würde dich das nichts angehen.«

»Mord ist mein Geschäft.«

»Ich habe das Buch gelesen«, sagte ich. »Aber es ist schließlich nicht dein Fall.«

»Erinnere mich nicht daran. Die halbe Detroiter Polizei steht auf dem Sprung, falls es bei den Stahlarbeitern Stunk gibt. Mich haben sie sogar vom Morddezernat abgezogen, um die Abteilung für zivile Sicherheit zu verstärken, und wenn etwas passiert, wobei es zu Gewalttätigkeiten kommen könnte, wem wird das dann zugeteilt? Harold Evan Fitzroy, der beim Polizeitraining, als er nach der besten Methode gefragt wurde, Straßenkrawalle zu verhindern, geantwortet hat, das sei der Einsatz von Schrotflinten und Tränengas.« Er stieß erbittert den Rauch aus und schnippte seinen Zigarettenstummel zu den anderen hinunter auf den schmutzigen Linoleumboden.

»Du solltest deinen Gefühlen öfter Luft machen«, riet ich ihm. »Sonst bekommst du noch Magengeschwüre.«

»Na, hör dir doch das ständige Gefasel an von dem sogenannten gewaltlosen Durchgreifen.«

»Glaubst du denn, daß es wirklich Ärger gibt?«

John begann an seinen Fingern abzuzählen: »Die Arbeiter reden von Streik, die Gewerkschaftsbosse verhalten sich abwartend, die Stahlindustrie heuert unorganisierte Leute an, falls die Vorarbeiter ausfallen. Jedes Waffengeschäft in der Stadt hat auf Bestellung Munition parat. Bis jetzt ist jede Bemühung, Aufruhr zu vermeiden, unterlassen worden.«

»Was verlangen denn die Vorarbeiter?«

»Seh ich vielleicht wie ein Vertreter des Betriebsrats aus? Hör endlich auf, das Thema zu wechseln! Du hast noch nie in deinem Leben etwas umsonst gemacht. Warum solltest du ausgerechnet bei dieser Maringer damit anfangen?«

»Ich glaube, es waren ihre Augen«, sagte ich.

»Nennt man das jetzt so?« Er sprach hastig weiter, bevor ich darüber nachdenken konnte, was er damit gemeint haben mochte. »Warum bist du so überzeugt, daß nicht deine Klientin Jefferson erschossen hat und danach abgehauen ist?«

»Natürlich habe ich auch daran gedacht. Aber wenn sie aus freiem Willen wegwollte, warum hat sie dann ihre Handtasche nicht mitgenommen? Auf ihrem Sparkonto war genug Geld, um für eine Flucht nicht nur aus Detroit, sondern sogar aus Michigan zu reichen. Im übrigen habe ich ihre Wohnung auf den Kopf gestellt, ohne das Kostüm zu finden, das sie bei ihrem Auftritt anhatte. Wie weit hätte sie in einem solchen Aufzug kommen können?«

»Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen. Sie hätte sich in dem Kellerlokal umziehen können, oder vielleicht hat sie sich nur schnell etwas über das Kostüm geworfen.«

»Die Wohnung befand sich in tadellos aufgeräumtem Zustand. Bis auf die Kleidungsstücke, die über dem Fußende des Bettes hingen, und die sie offenbar dort hingeworfen hatte, als sie ihr Kostüm anzog. Was hätte sie also zum Umziehen in der Bar gehabt? Und wenn sie in so großer Eile war, daß sie sich nicht einmal Zeit nahm, das Flitterkostüm auszuziehen, warum hat sie sich dann nicht schnell die Sachen vom Bettfußende geschnappt, statt sich umständlich etwas aus der Kommode zu holen? Und selbst wenn du auf diese Fragen eine Antwort findest, bleibt immer noch die zurückgelassene Handtasche. Es mögen alles Nebensächlichkeiten sein, aber die Menge macht es.«

»Zu dieser Jahreszeit wird sie sich totfrieren.«

»Sie trägt einen Mantel, falls der leere Kleiderbügel im Schrank als Indiz dafür gelten kann. Und nicht nur der Mantel fehlt.« Ich wartete, daß John eine Frage stellen würde. Da er es nicht tat, fuhr ich fort: »Es war nicht ein einziges Foto in der Wohnung. Weder von ihr noch von sonst jemand. Sie hatte nicht einmal einen Führerschein in der Brieftasche. Aber das schien Fitzroy nicht weiter bemerkenswert zu finden. Na schön, mag sie selbst kamerascheu sein, was ist jedoch mit Familienmitgliedern oder Freunden? Du verzichtest normalerweise nicht auf derart persönliche Dinge, es sei denn, du bist durch sehr besondere Umstände gezwungen dazu. Das wäre auch ein Grund, weshalb sie keinen Ausweis hatte, oder zumindest keinen, der von Belang war. Ein Sparkonto kannst du unter jedem Namen eröffnen.«

»Du glaubst, sie hat sich vor etwas versteckt?«

»Oder vor jemandem. Was erklären könnte, warum sie der Mörder mitgenommen hat, statt sie hier gleich abzuservieren.« Ich stand auf und trat meinen Zigarettenstummel aus. Es war sieben Uhr dreißig, und ich fühlte mich wie eine offene Wunde.

»Ich nehme an, es wird nicht viel bringen, dir zu sagen, daß du den Fall auf sich beruhen lassen sollst«, sagte Alderdyce.

»Hat das schon jemals etwas gebracht?«

»Aber warum? Es ist doch keine Erfolgshonorar für dich drin.«

»Ich bin für einen Job engagiert worden. Und ich werde versuchen, der Polizei nach Möglichkeit nicht in die Quere zu kommen.«

»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, Walker.« Er stellte einen Freigabeschein für meinen Wagen aus, der von der Polizei sichergestellt worden war, und reichte ihn mir.

Ich zog meinen Mantel an und setzte den Hut auf. »Nur damit ich sagen kann, daß ich gefragt habe – hatte Bingo Jefferson außer der Mafia und der Stahlindustrie noch mehr Feinde?«

Alderdyce nahm das Detroiter Telefonbuch von seinem Schreibtisch hoch, drei Kilo Papier und Druckerschwärze, vom täglichen Gebrauch schon ziemlich abgegriffen. »Wenn du noch zwei Minuten Zeit hast, streiche ich dir die Namen aus, die nicht in Frage kommen.«

Ich grinste. »Versuch noch eine Mütze voll Schlaf zu kriegen, John. Du hockst viel zu lange im Büro.« Ich trat hinaus und bekam die Tür gerade noch zu, bevor das Telefonbuch gegen die undurchsichtige Glasscheibe krachte.