Ich war in Richtung Osten unterwegs, als die ersten fetten Tropfen auf das Vinyldach des Cutlass klatschten. Gleich darauf ging das Klatschen in heftiges Trommeln über, und das Bild der Stadt vor meiner Windschutzscheibe zerlief, als habe der Maler damit die Geduld verloren und mit einem terpentingetränkten Schwamm über die Leinwand gewischt. Was ich ihm durchaus hätte nachfühlen können.
Ein Blitz erhellte grell die Straße, sekundenschnell von dröhnendem Donner gefolgt. Ich machte die Scheibenwischer an, doch genauso gut hätte ich versuchen können, ein Loch in den Lake Michigan zu graben, so wenig Wirkung zeigte es. Zwei Häuserblocks quälte ich mich noch weiter, dann hielt ich vor einer Imbißstube, um das Gewitter vorbeiziehen zu lassen und inzwischen ein Steak in Angriff zu nehmen.
Für jemanden, der sich nach zwei Morden innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf der Flucht befindet, war der Laden entschieden zu hell erleuchtet. Der einzige Gast außer mir war ein betagter Schwarzer in einem dreckigen Regenmantel. Er stand am Tresen und aß Chili. Er hätte ein Polizist in Zivil sein können.
Ich setzte mich in eine Nische, und als die Serviererin erschien, bestellte ich ein Lendensteak, von dem ich wußte, daß es nur wenig Ähnlichkeit mit dem auf der fleckigen Speisekarte abgebildeten saftigen Stück Fleisch haben würde, und ein Bier.
»Wir schenken kein Bier aus.« Sie war ein fettes Mädchen mit einem Anflug von Schnurrbart. Die Taille hatte sie rigoros mit einem Schürzenband eingeschnürt, und ihre braunen Haare waren unter einem neckischen weißen Mützchen hochgesteckt.
»Schenken Sie Wasser aus?« fragte ich.
»Wenn es bestellt wird. Heutzutage kriegen wir das selbst nicht mehr gratis.«
»Dann seien wir einmal extravagant.«
»Heißt das, Sie wollen Wasser?«
Ich bestätigte das. Es war die längste Unterhaltung über dieses Thema, die ich je geführt hatte. Sie notierte die Bestellung, als ob sie meine bescheidenen Wünsche auf den vier Metern bis zum Tresen vergessen könnte, und entfernte sich watschelnd. Ich beobachtete den langen, dünnen Kerl hinter der Theke, wie er ein Stück Fleisch von der Größe eines Schuhabsatzes auf den Rost legte, nur um sicher zu sein, daß er es nicht vorher auf die Erde fallen ließ, und vertrieb mir dann die Wartezeit damit, die Titel zu studieren, die die Musikbox zu bieten hatte. »How Much Is That Doggie in the Window« war entschieden der modernste davon.
Windböen trieben den Regen gußartig gegen die große Fensterscheibe. Die Straße draußen wirkte schwarz und unergründlich wie die toten Augen von Krim. Dann tauchte ein neuerlicher Blitz plötzlich alles in gleißende Unwirklichkeit, zeigte Fußgänger mitten im Sprung, zusammengefaltete Zeitungen als Regenschutz über den Köpfen, und Frauen mit gerafften Röcken. Der nachfolgende Donner ließ das Gebäude erbeben. Sie hatten Bars geschlossen, in denen Prostitution Vorschub geleistet worden war, gegen Bordelle und Strip-Lokale gerichtliche Verfügungen erwirkt, Hotels hochgezogen, die jetzt leer standen, die Kriminalstatistik frisiert und die Medien gezwungen, Berichte über Mord und Totschlag zugunsten optimistischerer Meldungen unter den Tisch fallen zu lassen. Blitz und Donner konnten sie jedoch nicht Einhalt gebieten.
Ich fragte mich, was der Bürgermeister darüber dachte, oder ob er das Gewitter überhaupt hörte durch die schalldichten Wände seines nagelneuen Millionen-Dollar-Büros. Ich fragte mich auch, was die gestrandeten Autofahrer in den überfluteten Gräben dachten, die in Detroit Unterführungen genannt wurden. Und ich fragte mich, was mit meinem Steak passiert war.
Als es kam, war es nicht durch und versuchte sich unter einem Stengel Petersilie zu verstecken, der noch mit der Mayflower herübergekommen sein mußte. Ich erwog, es zurückzuschicken, hatte jedoch Bedenken, in meiner Situation als vermutlich bald von der Polizei Gesuchter eine Szene zu machen, und im übrigen war ich zu hungrig und müde, um mich herumzustreiten. Roter Saft breitete sich auf meinem Teller aus, als ich das Steak anschnitt. Ich zwang mir das Stück Fleisch jedoch ohne zu zögern in den Mund, kaute und schluckte und brachte es fertig, den Bissen unten zu behalten, ohne allzu viel an das blutverschmierte Linoleum hinter dem Bartresen von The Crescent zu denken. Allmählich wurde ich richtig abgebrüht.
Ich hatte gerade den letzten Rest klebrigen Kartoffelbreis zusammengekratzt und spülte den Kleister mit Wasser hinunter, das aus einem rostigen Boiler gekommen war, als ein Polizist durch die Glastür hereinkam.
In seinem naßglänzenden Poncho und der Zellophanhülle über der Dienstmütze sah er aus wie frisch poliert. Er ließ seine Augen mit einem Blick durch die Imbißstube schweifen, der eine einzige Büroklammer in einem ganzen Napf voller Stecknadeln entdeckt hätte. Trotz seines herabhängenden Schnäuzers konnte er nicht älter als zweiundzwanzig sein, aber er wirkte so hart wie ein frisch gespaltener Ahornkloben. Sein Blick blieb kurz an mir haften, dann trat er an den Tresen, wobei er eine Spur nasser Stiefelabdrücke auf dem gebohnerten Boden hinterließ.
Es gelang mir, mein Herz rechtzeitig wieder in Gang zu setzen, um mitzukriegen, daß er bei der fetten Serviererin sechs Hamburger und vier Becher Kaffee zum Mitnehmen bestellte.
»Ihr habt wohl sowas wie ’ne Party, Dave?« fragte der dünne Mann am Bratrost. Sechs frische Fleischklopse landeten zischend auf dem heißen Metall.
»Mehr ’ne Leichenfeier.« Der Polizist schwang ein Bein über einen Hocker und ließ sich nieder, während sein Poncho wie Aluminiumfolie raschelte. Trotz seiner zur Schau getragenen Härte, war seine Stimme ein angenehmer Tenor. »Unten auf der Cass haben wir einen Mordfall. In einem ziemlich miesen Discoschuppen. Sieht nach Raubüberfall aus. Der Besitzer hat den Kerl an der Kasse erwischt und sich ein Ding auf die Birne eingefangen. Ein zweiter Mann wurde noch im Büro niedergeschlagen, aber der lebt. Eine von den Tänzerinnen hat die beiden aufgefunden und uns angerufen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie diese Beamten vom Morddezernat das fertigkriegen. Da liegt dieser Tote und das halbe Gehirn hängt ihm heraus, und die schicken mich, was zu essen zu holen.«
»Ihr von der Polizei habt doch alle einen Magen aus Gußeisen. Hat der zweite Mann, der aus dem Büro, schon was ausgesagt?« Der Dünne wendete die Frikadellen. Auf seine weiße Schürze spritzte Fett.
»Als ich ging, war er noch nicht wieder ganz bei sich. Er hatte eine Beule am Schädel so groß wie der Mount Everest. In einen von den Kaffees besonders viel Sahne, Sue. Der Lieutenant mag ihn nicht schwarz.«
Die Serviererin füllte vier Plastikbecher aus einer Glaskanne mit dampfender gelb-brauner Flüssigkeit und leerte in den letzten Becher fast das ganze Milchkännchen. Dabei machte sie ein Gesicht, als ginge das eigentlich über ihre Kräfte.
»Das sind doch alles Ganoven«, stellte der dünne Mann fest. »Im Grunde ist der Bursche selbst schuld, wenn er sein Geld mit so einem Pornoladen verdient. Heutzutage ist es doch schon so, daß man mit seiner Mutter nicht mal auf ein Bier irgendwo hingehen kann, ohne daß einem so ein Weibsbild seine Titten ins Gesicht hängen läßt.«
»Ich bin sicher, deshalb haben sie ihn umgebracht, Charlie«, bestätigte der Polizist mit unbewegter Miene. »Wahrscheinlich spenden sie den ganzen Kies dem Verein für Sitte und Anstand.«
»Na, wär’ doch gar keine so schlechte Idee.« Charlie packte die Hamburger zwischen die aufgeschnittenen Brötchen und legte sie auf ein Papptablett, damit die Serviererin alles einpacken konnte. »Mit dieser Stadt ging es von dem Augenblick an bergab, als Henry Ford anfing, pro Tag fünf Dollar zu zahlen und damit diese ganzen Nigger und Hinterwäldler aus dem Süden herkamen. Das sollte keine Beleidigung sein.«
Der alte Schwarze gab mit keinem Anzeichen zu erkennen, daß er die Bemerkung oder die Entschuldigung gehört hatte. Er war noch immer mit seinem Teller Chili beschäftigt.
»He, ich bin aus Ohio«, beschwerte sich Sue.
»Das ist nicht der Süden.«
»Es liegt aber südlich von hier.«
»Südlich liegt auch Dearborn, und davon habe ich genauso wenig gesprochen.«
»Ich muß los.« Der Polizist bezahlte und schob sich den prallen Papierbeutel unter den Arm. »Vielen Dank, Charlie. Dein Verdienst wird es sein, wenn nachher ein paar fette, alte Kriminalbeamte Blähungen kriegen.«
»Schieb ab, Dave. Hey, vielleicht sehe ich nachher alles in den Elf-Uhr-Nachrichten.«
Ich beobachtete den Aufbruch des Polizisten. Ein Blitz ließ kurz erkennen, wie er seine schlaksige Gestalt in seinem Streifenwagen verstaute. Dann war es wieder dunkel, bis er die Schweinwerfer einschaltete und losfuhr. Einen Partner hatte er nicht. Der Bürgermeister sparte wieder einmal. Ich hatte gehört, in den Weinkeller seiner Limousine lagerte er jetzt inländische Erzeugnisse ein.
»Ohio ist doch Süden«, beharrte die Serviererin. »Hast du nie meinen Akzent bemerkt?«
»Geh mit deinem Akzent jetzt zu dem Tisch rüber und mach dem Herrn die Rechnung fertig.«
Sie gehorchte, riß dann das Blatt mit einem Ruck von ihrem Block und knallte es vor mir auf die Tischplatte. Ich bezahlte an der Kasse, bekam einen Vierteldollar Wechselgeld heraus und benützte das Geldstück für das Münztelefon gleich neben der Tür. Der Apparat war schon seit geraumer Zeit dort installiert, und niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, der Telefongesellschaft mitzuteilen, daß er sich noch immer in einer Kabine befand, damit sie jemand vorbeischicken konnten, um ihn herauszureißen. Ich zog die Tür hinter mir zu und wählte die Nummer, die ich von Phil Montana hatte. Als sich eine Stimme mit spanischem Akzent meldete, verlangte ich nach Mrs. DeLancey. Das Dienstmädchen, oder wer es immer war, wollte wissen, wer am Apparat sei. Ich sagte es ihr und erklärte ihr überdies, wie ich an die Telefonnummer gekommen war. Sie bat mich um etwas Geduld.
Zwei Minuten lang geschah gar nichts. In Häusern, wo reiche Leute wohnen, hört man nie laute Wortwechsel, das Toben von Kindern, das Dröhnen eines Fernsehgeräts oder das Brutzeln eines Schnitzels aus der Küche. Während ich wartete, hatte der Schwarze mit dem Regenmantel endlich seinen Teller geleert, zahlte und ging. Er setzte genauso langsam und bedächtig wie er aß einen Fuß vor den anderen, so als ob jeder Schritt zähle. Falls er Polizist war, gehörte er jedenfalls nicht zu Fitzroys Sonderkommando.
»Leola DeLancey«, sagte eine Frauenstimme. Es war ein weicher Alt, ganz und gar zeitlos. Auch vor zehn Jahren konnte er nicht anders geklungen haben, und zehn Jahre später würde er noch immer so klingen.
»Mrs. DeLancey, meine Name ist Amos Walker.« Ein weiteres Charakteristikum reicher Leute ist, daß sie erwarten, man stellt sich noch einmal vor, als habe ihnen das Dienstmädchen oder wer auch immer gar nichts ausgerichtet. »Ich bin Privatdetektiv und untersuche das Verschwinden einer Frau, die sich Ann Maringer nennt. In ihrer Wohnung habe ich einen ermordeten Mann gefunden, über den ich an Phil Montana gelangt bin. Und Montana gab mir Ihre Nummer. Ich möchte Sie gern aufsuchen und mit Ihnen sprechen.«
Sie hatte mir wortlos zugehört. Nach ein paar Sekunden Schweigen sagte sie: »Es tut mir leid, Mr. Walker, aber ich kenne niemand mit dem Namen Maringer, und im übrigen habe ich zu wenig Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten. Ich fürchte, Mr. Montana hat Sie da in eine falsche Richtung gewiesen. Was mich nicht überrascht. Auf Wiederhören.«
»Ihr richtiger Name war Janet Whiting.«
Ich erwischte sie gerade noch, als sie den Hörer von ihrem Ohr entfernte. Einen Augenblick lauschten wir jeweils auf den Atem des anderen. Durch das Glas der Telefonzelle beobachtete ich, wie die Serviererin meinen Tisch abräumte und nach einem Trinkgeld suchte. Da konnte sie lange suchen.
»Vielleicht könnte ich mit Ihrem Sohn sprechen«, schlug ich vor.
»Das dürfte nicht nötig sein«, versetzte Mrs. DeLancey. »Keiner von uns hat seit dem Tode meines Mannes irgendetwas mit Miss Whiting zu tun gehabt. Ich sehe wirklich nicht, wie wir Ihnen bei Ihren Nachforschungen von Nutzen sein könnten.«
»Die Sache hat sich inzwischen zu einem Mordfall entwickelt, Mrs. DeLancey. Durch Zufall bin ich der Polizei in dieser Angelegenheit einen halben Schritt voraus. Früher oder später werden die Beamten bei Ihnen erscheinen und Sie zwingen, ein paar Fragen zu beantworten. Wenn Sie zuerst mit mir reden, sind Sie vielleicht besser vorbereitet darauf.«
»Damit ich mir die Antworten vorher überlege? Ist es das, was Sie meinen?« Ihr Ton war eisig.
»Das liegt ganz bei Ihnen, Mrs. DeLancey.«
»Wäre es Ihnen morgen früh um neun Uhr recht?«
»Ausgezeichnet.«
Sie beschrieb mir den Weg zu ihrem Haus in Grosse Pointe und legte diesmal auf, ohne sich zu verabschieden.
Es kam noch immer in Strömen vom Himmel, als ich den postkartengroßen Parkplatz verließ. Meine Scheinwerfer spiegelten sich in dem Straßenbelag, der naß und schwarz wie frisches Öl glänzte. Als ich das Radio einschaltete, geriet ich in eine Wetterdurchsage. In Wayne, Oakland und Macomb waren Trichterwolken gesichtet worden, und in Monroe war eine heruntergekommen und hatte die Scheune von irgendjemand in Kleinholz zerlegt. Ich schaltete wieder ab. Niemand schenkt solchen Meldungen Beachtung. Die Gefahren, mit denen man rechnen muß, schaffen schon Probleme genug, auch ohne sich über so etwas Unberechenbares wie einen Tornado Gedanken zu machen.
Mir blieb gerade noch genug Zeit, bei mir zu Hause vorbeizufahren, einen Koffer zu packen und nach einem Taxi zu telefonieren, um mich in ein Motel bringen zu lassen. Inzwischen war der schwarze Raumpfleger vermutlich vernehmungsfähig, und Fitzroy würde eine Fahndung nach mir und meinem Wagen einleiten. Ich erhoffte mir nicht mehr als eine ungestörte Nachtruhe und mein Interview mit Mrs. DeLancey. Danach sollten sie mich ruhig einkassieren.
Als ich in meine Einfahrt einbog, fiel das Licht meiner Scheinwerfer auf einen mir unbekannten braunen Zweitürer, der vor der angebauten Garage geparkt stand. Ich riß den Automatik-Hebel auf Rückwärts, aber bevor die Gänge folgen konnten, stieg ein Mann aus dem Coupé und schirmte seine Augen gegen das grelle Licht ab.
Ein blonder Mann in einem karierten Mantel.