Kapitel 17

Es meldete sich niemand, deshalb rauchte ich noch eine Zigarette und unternahm dann einen zweiten Versuch. Wieder nichts. Ich musterte den Apparat stirnrunzelnd. Warten konnte ich mir nicht leisten. Inzwischen sprach Fitzroy mit einem Untersuchungsrichter, und ich wollte nicht mehr vorhanden sein, wenn er und Cranmer mit einem Haftbefehl zurückkamen. Den Reliance-Bericht ließ ich ihnen zum Fraß zurück. Dann ging ich hinunter, um meinen Wagen volltanken zu lassen.

Mit dem Kleingeld, das mir der Tankwart herausgab, betrat ich eine Telefonzelle gleich neben der Tankstelle und versuchte zum drittenmal den Herald zu erreichen. Vergeblich. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war schon nach eins, aber heutzutage haben ja die Leute die merkwürdigsten Tischzeiten. Dann fiel mir Albert Golds Geschäftskarte ein. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie zusammen mit meinen übrigen Utensilien aus den Taschen des anderen Anzugs in den umgepackt hatte, den ich jetzt trug, aber ich fand sie schließlich und wählte Golds Privatnummer in Lansing. Heute schien alle Welt unterwegs zu sein. Im übrigen hatte ich sowieso keinen Grund, von ihm eine Zusammenarbeit zu erwarten, selbst wenn er, was ich bezweifelte, Zugang zu dem Bericht über Janet Whiting besaß. Ich benutzte dieselben Geldstücke für einen vierten Versuch bei der Zeitungsredaktion.

»Huron Herald

Es hatte nur einmal geläutet, bevor die energische weibliche Stimme an den Apparat kam. Vor Verblüffung war ich eine Sekunde lang stumm.

»Huron Herald«, wiederholte die Stimme, diesmal eine Spur gereizt.

»Ist da der Huron Herald?« Ich überbot mich förmlich an Intelligenz.

»Nein, hier ist das örtliche Büro der CIA. Wir melden uns bloß am Telefon so, damit die Kommunisten nicht wissen, daß wir hier sind. Sie sind doch nicht etwa ein Kommunist, oder?« Die Stimme der Frau troff von Ironie. Es war keine junge Stimme, wenn sich ihr Alter auch nicht bestimmen ließ. Unter der polierten Oberfläche schwang ein leichter Dialekt mit, vielleicht Kansas.

»Nicht im Augenblick.« Ich stellte mich vor. »Ich bin Privatdetektiv und damit beauftragt, ein paar Angaben zu überprüfen, die in einem Bewerbungsschreiben an die Firma meines Klienten gemacht wurden. Die Bewerberin, eine Frau namens Janet Whiting, behauptet aus Huron zu stammen. Ich wollte deshalb anfragen, ob Sie vielleicht etwas über diese Janet Whiting in Ihrem Zeitungsarchiv haben.«

»Dürfte ich den Namen der Firma wissen?« Ich hörte das ratschende Geräusch, mit dem ein frisches Blatt in die Maschine gespannt wurde.

»Michaeljohn International.« Von diesem Unternehmen war ich einmal engagiert gewesen, um einen vermuteten Angestellten-Diebstahl aufzuklären.

Durch die Leitung klang das Plock-Plock der Schreibmaschine. »Wann sagten Sie, hat diese Frau hier gelebt?«

Ich gab ihr die Daten durch, und hörte wieder das Tippen.

»Ihre Anschrift in Huron?«

»Vier-vier-zwei-sechs Agar Lane. Klingt ziemlich ländlich.«

»Stimmt. Das war es auch, bevor die Siedlungsgesellschaften alles erreichbare Ackerland aufkauften.« Sie tippte, während sie sprach. Nur Reporter und Ärzte können ihre Konzentration so teilen.

Sie stellte mir noch ein paar weitere Fragen und hielt die Antworten mit der Schreibmaschine fest. Die Telefonvermittlung schaltete sich dazwischen, um mir zu sagen, daß meine drei Minuten gleich um seien. Ich suchte schon nach Münzen, um nachzuwerfen, als die Frau sagte: »Sparen Sie Ihr Geld, Mr. Walker. Es dauert sowieso eine Weile, bis ich das nachgesehen habe. Wollen Sie nicht heute nachmittag zu mir herauskommen? Bis dahin habe ich die Informationen bestimmt zusammen.«

»Einen Ausflug hatte ich eigentlich nicht vor. Kann ich Sie nicht noch einmal anrufen?«

»Da würden Sie aber etwas versäumen. Es ist ein viel zu schöner Tag, um ihn in der Stadt zu vergeuden.« Sie sagte »Stadt« als schmecke das Wort unangenehm.

»Sie haben mich überzeugt. Wie finde ich Ihre Redaktion?«

»Sie sind ein Detektiv. Beweisen Sie Ihre Fähigkeiten.«

»Nach wem soll ich fragen, wenn ich ankomme?«

»Sie stoßen automatisch auf mich. Das ist hier ein Ein-Personen-Betrieb. Aber wenigstens der Ordnung halber, mein Name ist Maggie.«

Ich grinste. »Vielen Dank, Maggie.« Die Telefonvermittlung trennte mich mitten im Satz.

Eine halbe Stunde Fahrt auf dem Edsel Ford Freeway brachte mich in eine andere Welt mit sanften Hügeln, frisch gepflügten Äckern und satten Kühen, die träge die Köpfe hoben, um den flutenden Verkehr zu beobachten, wie geduldige alte Männer auf Parkbänken die vorbeistolzierenden Tauben beobachten. Die Ausfahrt Huron führte mich auf eine gewundene Pflasterstraße, vorbei an einer kleinen Fabrik, jeder Menge von Neubauten, zwei ausgedehnten Schulgebäuden, auf deren Parkplatz ganze Reihen gelber Busse standen, bis in den eigentlichen Ort. Dort ging die Zufahrtstraße an einem kleinen Park in die Hauptstraße über, die so breit war wie die Woodward Avenue, nur viel weniger verstopft.

Der Herald nahm das halbe zur Straßenfront gelegene Erdgeschoß eines dreistöckigen Hauses zwischen der Bank und einem Fleischmarkt ein und war durch eine verblichene Aufschrift an einer Schaufensterscheibe kenntlich gemacht. Ich rangierte meinen Wagen in eine Parklücke direkt davor und steckte eine Münze in die Parkuhr, die sich noch mit Groschen füttern ließ. Gleich neben dem Redaktionsbüro befand sich eine Fernseh-Reparaturwerkstatt. Im Schaufenster des Herald war die neueste Nummer ausgelegt, und an der Glasscheibe der Tür klebte ein amateurhaft gezeichnetes Pappschild, das über dem Versprechen BIN GLEICH WIEDER ZURÜCK! eine aus der Tür eilende Frau mit einem Fotoapparat über der Schulter zeigte. Ich drückte die Messingklinke herunter. Die Tür war abgeschlossen.

Nach zwanzig Minuten Wartezeit und zwei Zigaretten kam eine drahtige Frau um die Sechzig in einem rostbraunen Anzug, ein älteres Polaroid-Modell an einem Plastikgurt über der Schulter, den Bürgersteig entlang auf mich zu. Die schneeweißen Haare hatte sie in strengen Wellen zurückgekämmt, und ihre glitzernde Straßbrille war an einer schwarzen Kordel befestigt, die sie um den Hals trug. Ihre kleinen Füße steckten in braunen Lederstiefeletten mit fünf Zentimeter hohen Absätzen, weshalb sie nur dreißig Zentimeter kleiner war als ich, als sie vor mir stand. Ich ließ meinen Blick von ihr zu dem Pappschild an der Tür und wieder zu ihr zurückwandern. Eine gewisse Ähnlichkeit war vorhanden.

»Sie sind Mr. Walker.« Die Art, wie sie das sagte, gestattete kein Leugnen. Sie hatte intelligente haselnußbraune Augen und einen festen Händedruck. »Ich hoffe, Sie haben nicht lange gewartet.«

»Das kommt darauf an, was Sie lange nennen«, versetzte ich. »Der Graf von Monte Christo hätte es überhaupt nicht als Warten empfunden.«

Aus ihrer Umhängetasche unter der Polaroid brachte sie einen Schlüssel zum Vorschein und schob ihn in das altmodische Schloß.

»Ich mußte eine Aufnahme von einer Sportveranstaltung machen. Diese Jongleure, die im Fernsehen rotierende Teller auf dünnen Stöckchen balancieren, haben noch nie versucht, sechs Schulmädchen vor einer Kamera zugleich zum Lachen zu bringen.« Sie öffnete die Tür und ließ mich eintreten.

Der Raum war ziemlich schmal, etwa zwei Meter fünfzig breit und auch nicht besonders lang, quittegelb gestrichen und wurde noch schmaler gemacht durch zwei zerschrammte Schreibtische, die an beiden Enden standen, und einem schwarzen Eisensafe, der nicht viel älter als eine Vase aus der Ming-Zeit aussah, nur bedeutend weniger zerbrechlich. Ein Stapel der aktuellen Ausgabe des Herald lag auf dem vorderen Schreibtisch neben einer roten Kindersparkasse aus Metall mit einem Schild: »PRO EXEMPLAR BITTE 15 CENTS EINWERFEN.« Im Fußboden neben dem Eingang befand sich eine große rechteckige Regulierungsklappe für die Heizung. Dahinter bedeckte ein ungleichmäßig verschossener roter Teppich zersprungene Fliesen. Dafür war die Decke fast drei Meter fünfzig hoch. Eine elektrische Schreibmaschine war, abgesehen von dem Telefonapparat auf dem hinteren Schreibtisch, der einzige moderne Gegenstand im Raum. Sie hatte ihren Platz auf einem wackligen Tischchen.

Maggie drückte sich hastig an mir vorbei, packte ihre Kamera und ihre Tasche neben den Stapel Zeitungen und verschwand dann durch eine hintere Tür mit der Aufschrift NUR FÜR ANGESTELLTE. Eine Sekunde später kam sie beladen mit einem schwarz eingebundenen dicken Wälzer zurück, den sie auf die Schreibtischplatte fallen ließ, nachdem sie vorher mit dem Ellbogen den Telefonapparat beiseite geschoben hatte. Während sie den umfangreichen Band aufschlug, musterte ich durch die offen gebliebene Tür eine verstaubte, alte Tiegeldruckpresse.

»Drucken Sie die Zeitung hier?«

»Schon seit zwanzig Jahren nicht mehr.« Sie hatte die mit einem Lesezeichen markierte Seite gefunden und rückte den Wälzer zurecht, daß er nicht vom Schreibtisch rutschen konnte. Es handelte sich um einen gebundenen alten Jahrgang des Herald. »Wir drucken jetzt in Jackson, ein weiterer Schritt, der unserer ursprünglichen Absicht zuwider läuft, ein Lokalblatt zu bleiben. Nächsten Monat wird auch dies Büro neu gestaltet. Der Fernsehladen nebenan zieht aus, deshalb können wir erweitern. Es wird frisch tapeziert, die Decke herabgezogen, der Teppich erneuert und die alte Maschine verschrottet. Die Möbel, die ein halbes Jahrhundert ihren Dienst getan haben, werden abgeholt und durch kunstledergepolsterte Stühle und Schreibtische ersetzt, die aussehen wie zusammenklappbare Kartentische. Es wird alles so modern, funktionell und so antiseptisch werden wie der Daumen eines Dentisten. Meine Kündigung habe ich schon eingereicht.«

»Sie sind nicht die Eigentümerin?«

Maggie stieß ein kurzes Lachen aus. »Dies Blättchen ist nur ein Steckenpferd für den Eigentümer, der noch eine größere, überregionale Zeitung herausgibt. Ich bin bloß die typische Klatschkolumnistin, die mit einer etwas zähflüssigen Spalte über ältere Bürger angefangen hat und sich plötzlich als Lokalchefin wiederfand. Lokalchefin, so nennen sie mich. Nimmt weniger Platz in Anspruch als Redakteurin, Buchhalterin, Empfangsdame, Fotografin, Anzeigenvertreterin und Mädchen für alles. Holen Sie sich einen Stuhl her.« Sie ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder. Obwohl sie den antiken Drehstuhl bis zum letzten Punkt hochgeschraubt hatte, reichte sie mit den Schultern kaum bis zum Rand des großen Buches.

Die einzige andere Sitzgelegenheit in dem Büro war ein hochlehniges Ungetüm hinter dem zweiten Schreibtisch, das offenbar lange keiner mehr benützt hatte. Ich wischte mit meinem Taschentuch den Staub von der Sitzfläche, trug den Stuhl zu ihr hinüber und nahm Platz.

»Haben Sie etwas dagegen, daß ich rauche?« Ich holte das Päckchen heraus.

»Nur immer zu. Was geht es mich an, wenn Sie Ihr Leben verkürzen?« Sie schob einen billigen Blechaschenbecher zu mir herüber und sah zu, wie ich das übliche Ritual vollzog. Als die Zigarette brannte, sagte sie: »Zuerst lassen Sie uns doch einmal klären, wer Sie wirklich sind und wen Sie vertreten.«

Ich bedachte sie mit meinem verständnislosesten Gesichtsausdruck, aber die Mühe hätte ich mir sparen können.

»Ich habe mich über Michaeljohn International informiert.« Ihr kantiges Kinn und die gerade Linie ihres Mundes formten ein perfektes Quadrat. »Die Firma stellt die Schließhaken her, mit denen hölzerne Verpackungskisten für den Transport nach Übersee gesichert werden. Und ich habe mich gefragt, warum ausgerechnet so ein Unternehmen sich die Mühe machen sollte, die Angaben in dem Bewerbungsschreiben einer künftigen Angestellten durch einen Privatdetektiv überprüfen zu lassen. Außerdem würde kein Privatdetektiv, der für eine so große Gesellschaft arbeitet, Ferngespräche von einer Telefonzelle aus führen. Er würde seinen eigenen Apparat benützen und seinen Klienten mit den Spesen belasten und die Telefongebühr später auch noch von der Steuer absetzen.«

»Sie haben keine hohe Meinung von unserem Berufsstand«, wandte ich ein.

Sie musterte mich gleichgültig. »Vor achtzehn Jahren habe ich mich scheiden lassen. Ich engagierte einen Privatdetektiv, meinen Mann zu beschatten und Beweismaterial für das Verhältnis beizubringen, das er mit einer Kollegin unterhielt. Der Detektiv bekam das Material und verkaufte es meinem Mann. Nein, ich habe keine hohe Meinung von diesem Berufsstand.«

»Es ist nicht fair, eine ganze Gruppe nach dem Betragen eines Einzelnen zu beurteilen.«

»Vielleicht nicht. Aber ich glaube an gewisse Wahrscheinlichkeiten. Wenn sich der einzige Privatdetektiv, den ich je im Leben engagiert habe, als Ganove erwiesen hat, spricht einiges dafür, daß der Mehrheit nicht zu trauen ist. Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Mr. Walker. Wer sind Sie und wen vertreten Sie wirklich?«

Ich beugte mich vor und schnippte meine Zigarettenasche in den Aschenbecher. Dann merkte ich, daß ich noch immer meinen Hut auf dem Kopf hatte, nahm ihn ab und hängte ihn über mein übergeschlagenes Knie. Meinen Mantel hatte ich in der Stadt gelassen. »Was macht das für einen Unterschied? Wenn Sie mir nicht trauen, geben Sie mir die Informationen, hinter denen ich her bin, sowieso nicht.«

Sie lächelte und tätschelte meine Hand. Vor Verblüffung wäre ich fast vom Stuhl gefallen. »Ich habe gesagt, ich glaube Ihnen nicht. Ich habe nicht gesagt, daß ich Ihnen nicht helfe. Ihr Klient geht mich gar nichts an. Wie schon erwähnt, ich bin die Klatschtante des Ortes.«

Ich grinste. »Maggie, Sie sind unbezahlbar.«

Sie dankte mir mit einem strahlenden Lächeln, das von einer Garnitur dritter Zähne verschönt wurde.

»So viel kann ich Ihnen sagen«, erklärte ich dann. »Ich bin engagiert worden, um Janet Whiting aufzufinden. Sie ist womöglich in Gefahr, und diese Gefahr könnte etwas mit ihrer Vergangenheit hier in Huron zu tun haben. Alles steht aber vielleicht auch mit einer viel größeren Geschichte in Zusammenhang, und was immer dabei herauskommen mag, so kann ich Ihnen für Ihre Hilfe jedenfalls die Exklusiv-Berichterstattung anbieten.«

»Sie sind süß, aber was für die großen Tageszeitungen ein Knüller sein mag, bringt hier nicht viel. Wir sind ein Wochenblatt. Sofern mir das Material nicht am Mittwoch kurz vor zwölf Uhr auf dem Tisch liegt, werden wir von jeder Tageszeitung geschlagen. Aber Sie können mir fünf Dollar geben.«

»Mittwoch mittag«, sagte ich und holte meine Brieftasche heraus. »Ich werde daran denken.« Ich legte einen Fünfdollarschein auf die vergilbte Zeitungsseite in dem Sammelband. Eine knochige Hand griff danach und ließ ihn in der Seitentasche der rostbraunen Jacke verschwinden.

»Der Chef braucht nichts davon zu wissen«, sagte Maggie augenzwinkernd. Dann senkte sie den Blick auf die eng bedruckte Zeitungsseite und fuhr mit einem ausgestreckten Finger die dritte Spalte hinab. »Halten Sie an Ihren sittlichen Werten fest«, warnte sie mich. »Die Sache ist ziemlich pikant.«