Die Vögel zwitscherten in der Stille, die dem plötzlichen Geräusch folgte. Sie berührte das nicht. Hoch oben stöhnte der Wind in den Bäumen. Es klang unheimlich, fast wie menschliches Klagen. Wir horchten, aber nichts Entscheidendes geschah.
»Es könnte ein Eichhörnchen gewesen sein«, sagte Maggie. »Sie richten eine Menge Schaden an in diesen leerstehenden Häusern.«
»Das werden wir bald wissen.« Ich nahm meine fotokopierte Lizenz aus meiner Brieftasche, testete die Plastikhülle zwischen Daumen und Zeigefinger auf ihre Festigkeit und versuchte sie dann zwischen Türschloß und Türrahmen zu schieben. Es klappte nicht. Bei mir funktioniert so etwas niemals.
»Was machen Sie da?«
Ich hatte Maggie nicht näherkommen hören. Nachdem ich mich von meinem Schreck einigermaßen erholt hatte, sagte ich: »Wie sich zeigt, gar nichts. Wir werden das Schloß aufbrechen müssen.«
»Was meinen Sie mit ›wir‹, Bleichgesicht?«
Ich warf ihr einen Blick zu. »Wenn Sie mit der Sache lieber nichts zu tun haben wollen, warten Sie unten im Wagen auf mich.«
»Haben Sie keine Angst, von einem Bären gefressen zu werden? Das ist doch immer das erste, was ihr Stadtleute denkt, wenn ihr draußen auf dem Land einmal ganz allein seid.«
»Verehrte Dame, ich bin in dieser Gegend aufgewachsen. Keine fünfzehn Meilen von hier. Der nächste Bär ist auf einem Schild abgebildet, das Ausflügler auffordert, Waldbrände zu verhindern. Ich werde erst anfangen, gegen die Tür zu treten, wenn Sie sich außer Hörweite befinden.«
»Treten Sie ruhig zu. Ich bin dreiundsechzig Jahre alt und habe noch nie ein Gefängnis von innen gesehen. Ich sollte ruhig alles ausprobieren, was sich mir bietet, so lange ich es noch genießen kann.«
»Sie würden enttäuscht sein.«
Es war ein altes Schnappschloß, keins von diesen modernen Sicherheitsschlössern. Mit zwei Tritten hatte ich es geschafft. Die Tür flog nach innen und prallte wieder zurück, um mich nicht besonders hart an der Schulter zu treffen. Mit einem gewissen Bedauern, meine Luger im Handschuhfach gelassen zu haben, bedeutete ich Maggie, hinter mir zu bleiben. Dann drückte ich die Tür langsam auf, wobei ich darauf achtete, mich seitlich zu halten. Keine Kugeln empfingen uns. Ich trat über die Schwelle.
Das Untergeschoß bestand nur aus einem einzigen Raum. Nichts trennte die gekachelte Küche von der Wohnebene mit dem grünen Teppichboden, auf dem eine niedrige Couch und zwei Schalensessel so arrangiert standen, daß die Benutzer den Blick hinaus auf den bewaldeten Hang genießen konnten. An seinem Ende schimmerte ein Stück der Straße, die wir heraufgekommen waren, durch die Bäume. Etwas weiter seitlich war eine Ecke des Privatsees, den Maggie erwähnt hatte, zu sehen. Es wirkte wie eine Silbermünze in grünen Samt gebettet. Am anderen Ende des Raumes befand sich eine Bar mit zwei ledergepolsterten drehbaren Hockern, ein kleiner kupferfarbener Kühlschrank, ein kleiner Herd mit zwei Kochplatten und ein Mikrowellen-Backofen in dem gleichen Farbton.
Das Obergeschoß war im Grunde nicht mehr als ein Dachboden, in zwei offene Schlafzimmer unterteilt mit einem Geländer davor und mit dem unteren Geschoß durch eine Wendeltreppe aus Metall verbunden. Die Treppe kroch ein Mann herunter.
Er arbeitete sich nur langsam und mit großer Mühe voran, jeweils die Kante einer Stufe umklammernd und seinen Körper ein Stück nachziehend, um dann nach einer weiteren Stufe zu greifen. Sein Gesicht war ein Wachsfleck, in dem rund und schwarz der Mund klaffte. Das blonde Haar, dunkel von Schweiß, klebte ihm am Gesicht wie Seetang an einem Felsen. Er röchelte heiser, mechanisch, ohne Hoffnung. Er wußte nicht, daß er röchelte. Er wußte auch nicht, daß wir ihn beobachteten. Er sah uns gar nicht. Alles, was er sah, war die nächste Stufe vor ihm.
Die Trümmer einer Lampe lagen auf den Bodenfliesen links neben der Treppe, wo die Lampe zersprungen war, nachdem sie jemand vom Geländer heruntergestoßen hatte. Wahrscheinlich war der Mann auf dem Weg zur Treppe dagegengetaumelt, gefallen und hatte dann nicht mehr die Kraft gehabt, wieder auf die Beine zu kommen. Die Stufen hinter ihm glänzten dunkel und naß.
Maggie schrie nicht. Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre es ihr nicht möglich gewesen, schreckerstarrt wie sie war. Die Farbe ihres Gesichts, oder besser ihre Blässe, paßte zu der des Mannes. Als ich mich mit steifen Schritten der Treppe näherte, fiel mein Blick auf mein Spiegelbild an der Seitenwand. Ich sah auch nicht robuster aus als die beiden anderen.
Der Mann hatte die letzte Kurve geschafft und nur noch acht Stufen vor sich, als er den Halt verlor. Einen beklemmenden Augenblick lang hing er da, mit der staubigen, ausgestreckten Hand nach der nächsten Stufe tastend. Dann löste sich die andere, die er benützt hatte, um sich festzuklammern. Seine Brust schlug mit einem dumpfen Aufprall gegen das Metall, und er rutschte holpernd weiter, einen Arm noch immer ausgestreckt. Als er die Fliesen erreicht hatte, blieb er zu meinen Füßen liegen.
Erst da stieß Maggie einen Schrei aus, heiser und klagend.
Ich wartete, bis der Körper nicht mehr zuckte, bevor ich mich niederhockte, um am Hals nach dem Puls zu fühlen. So oft ich es in Vietnam gesehen hatte, konnte ich nie den Verdacht abschütteln, daß sie aufzustehen versuchten, wenn sie dieses Zucken durchlief. Der Mann versuchte es nicht.
Tod, auch schon dessen Nähe, verändert das Gesicht. Ich hätte ihn überhaupt nicht erkannt, wenn er nicht den karierten Mantel getragen hätte. Blödsinnigerweise schoß mir als erstes der Gedanke durch den Kopf, daß ich jetzt wußte, warum Albert Gold sich am Telefon nicht gemeldet hatte. Er hatte hier mit dem Tod gekämpft.
Telefon. Ich blickte mich um und entdeckte einen Apparat auf einem kleinen Tischchen zwischen den Sesseln in der Wohnebene. Ich deutete mit dem Finger darauf. »Stellen Sie fest, ob das funktioniert«, gab ich Maggie Anweisung. Meine Stimme klang merkwürdig fremd. »Und dann rufen Sie die Polizei an.«
»Wir haben hier keine Ortspolizei mehr«, antwortete sie. »Nur noch einen Polizeiposten.«
»Ganz egal. Rufen Sie dort an.«
»Was ist mit einem Krankenwagen?«
»Den brauchen wir nicht.«
Es dauerte eine Sekunde, bis sie begriffen hatte. Dann ging sie mechanisch hinüber zum Telefon. Sie setzte so mühsam einen Fuß vor den anderen, als müsse sie sich zu jedem Schritt mit aller Willenskraft zwingen. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen. Dies war meine dritte Leiche in wenig mehr als sechsunddreißig Stunden, und ich fühlte mich der Situation kaum besser gewachsen als Maggie. Während sie den Hörer abhob, biß ich die Zähne zusammen, faßte den Toten an beiden Schultern und drehte ihn um. Es war, als bewege ich einen Sack voller Eisengewichte.
Sein Hemd war von Blut durchnäßt. Ich knöpfte es auf, wobei ich mein Taschentuch benützte, und zog es vor der Wunde weg. Es gab ein häßlich schmatzendes Geräusch. Die Wunde, einen guten Zentimeter über seinem Gürtel, war klein und blau und sah ziemlich unbedeutend aus dafür, einen ausgewachsenen Mann getötet zu haben. Sie konnte von einer 32er stammen. Aber auch von einer 25er oder 38er. Bei etwas so Weichem wie Fleisch ist das schwer zu sagen. Aber welches Kaliber es auch gewesen sein mochte, für den Zweck hatte es mehr als gereicht.
»Tot.«
Ich wollte Maggie gerade beipflichten, aber dann sah ich den Hörer in ihrer Hand und merkte erst, daß sie den Apparat meinte. Ich deckte den karierten Mantel über das geronnene Blut und richtete mich auf.
»Können Sie Auto fahren?«
»Ich habe schon einen Hudson Hornet durch die Gegend bewegt, als Sie noch ein Funkeln in den Augen Ihres Vaters waren, mein Junge.«
Ich lächelte schwach. Allmählich fing sich Maggie wieder. Bei einem Typ wie ihr ging das rasch. Ich hielt ihr die Schlüssel für den Cutlass entgegen. »Fahren Sie mit meinem Wagen zum nächsten Telefon, und rufen Sie den Polizeiposten an. Ich werde mich inzwischen ein bißchen umsehen.«
»Glauben Sie, daß der Mörder sich noch irgendwo in der Nähe aufhält?« Sie kam auf mich zu und griff nach den Autoschlüsseln.
»Ich bezweifle es. Bei einer Einschußstelle wie dieser blutet man ziemlich lange, bevor man stirbt. Der einzige Grund, warum sich dieser Mann noch einmal aufgerappelt hat, war vermutlich, daß er uns draußen gehört hat. Vielleicht wollte er Hilfe, vielleicht hat er aber auch gedacht, der Mörder käme noch einmal zurück, um endgültig Schluß zu machen. Davor war er höchstwahrscheinlich halb bewußtlos.«
Sie warf einen schnellen Blick auf den Toten. »Kannten Sie ihn?«
»Ich bin ihm einmal begegnet, und ich mochte ihn nicht.«
»Vielleicht sollten Sie mir lieber die ganze Geschichte erzählen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn die Polizei hier erscheint, wissen Sie am besten gar nichts. Noch günstiger für Sie wäre es, überhaupt nicht vorhanden zu sein. Wenn Sie anrufen, sagen Sie einfach, Sie hätten jemanden den Weg zu diesem Haus hinaufgehen sehen und seien mißtrauisch geworden. Nennen Sie nicht Ihren Namen.«
»Die würden sowieso meine Stimme erkennen. Ich tauche nämlich mindestens zweimal in der Woche bei denen auf. Sie würden mich fragen, wie ich überhaupt hier herausgekommen bin, wo doch mein Wagen in voller Größe unten im Ort steht. Was soll ich denn sagen? Daß ich sechs Meilen gejoggt bin? Im übrigen würden die Sie sofort genauestens unter die Lupe nehmen, wenn man Sie hier mit einer Leiche antrifft. Unser Sergeant war nämlich früher bei der Detroiter Polizei.«
»Welche Abteilung?«
»Spezialeinsatz.«
»Na, fabelhaft.«
»Hören Sie«, sagte Maggie, »als diese Einheit wieder aufgelöst wurde, mußten sie die Leute doch schließlich irgendwo unterbringen. Und er landete bei uns. Außerdem hatten Sie mir eine Exklusiv-Story versprochen.«
Ich musterte sie prüfend. »Von wegen harmlose Klatschspalte. Bei welchen Blättern haben Sie volontiert, bevor Sie hierher verschlagen wurden?«
»Bei gar keinen. Aber es dauert nicht lange, bis man den Jargon aufschnappt. Schließlich leben wir hier nicht hinterm Mond.«
»Wenn ich sage, Sie können bleiben, fahren Sie dann?«
Sie verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln. »Ob Sie es nun glauben oder nicht, ich habe das verstanden. Ja.«
»Na also.«
Nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatte, ging ich Golds Taschen durch. Kleingeld, Schlüssel, die bekannte Brieftasche mit den Fotos. Die junge Frau sah hübscher aus als beim erstenmal und die Kinder niedlicher und unschuldiger. Sie wußten noch nicht, daß sie Halbwaisen waren. Ich wischte alle Gegenstände sorgfältig ab und steckte sie wieder in die Taschen zurück. Polizisten sind schon unangenehm genug, wenn sie nicht wissen, daß sich jemand mit ihrem kostbaren möglichen Beweismaterial zu schaffen gemacht hat.
Ich schaute hinab auf den Toten und hätte gern eine Zigarette geraucht, doch verkniff ich mir das Bedürfnis, weil ich weiß, welches Gewicht Polizisten zurückgebliebenen Zigarettenstummeln als Beweisen zumessen.
Walker – Ermittlungen lautete meine Eintragung im Branchenbuch. Spezialität die Suche nach vermißten Personen. Dabei war ich nur im Auffinden von Leichen gut. Allmählich konnte ich kaum noch durch eine Tür treten, ohne über eine zu stolpern.
Ich ging um den Toten herum und stieg die Wendeltreppe hinauf, wobei ich es vermied, auf die blutverklebten Stellen zu treten. Die Schlafzimmer waren gerade groß genug für die Betten, Nachttische, auf denen Lampen mit Porzellanfüßen standen, und für je eine Kommode mit drei Schubfächern. Die Betten sahen aus, als habe längere Zeit niemand darin geschlafen. Die Schubfächer waren leer und mit Zeitungen vom Vorjahr ausgelegt. Ich hob jedes Zeitungsblatt hoch und schaute auch darunter nach, aber ohne Ergebnis. In keinem der Räume waren irgendwelche persönlichen Gegenstände. Auch nicht im Bad, einer kleinen Naßzelle von der Größe eines Wandschranks mit einem Handwaschbecken, einem schmalen Schränkchen und einer Wanne gerade groß genug, um einen Zeh hineinzutauchen.
Auf den Möbeln lag eine Staubschicht, nicht dick, aber doch genug, um erkennen zu lassen, daß das Haus seit geraumer Zeit nicht bewohnt war. Ich probierte sämtliche Lichtschalter aus. Kein Strom. Kurz gesagt, es war nichts in dem Haus, das ich nicht zu finden erwartet hatte, mit einer Ausnahme. Und die machte mich auch nicht schlauer als vorher. Eher im Gegenteil.