Heute
Nachdem ich den Pub verlassen hatte, ging ich nicht zurück zur U-Bahn, sondern lief zum Strand und am Savoy entlang zum Fluss und setzte mich auf eine Bank. Normalerweise saß ich gern am Wasser, aber heute konnte ich den Anblick nicht genießen, denn mir gingen zu viele Gedanken durch den Kopf.
Eine leise Stimme sagte: Das ist jede Menge Geld. Damit könntest du dir endlich eine eigene Wohnung suchen, wo dir niemand laminierte Zettel mit Befehlen an die Wände hängt.
Sei still, ermahnte ich mich selbst. Hör auf.
Du könntest deinen Job beim Sender schmeißen und dein eigenes Ding machen.
Ich liebe meinen Job, versuchte ich mir einzureden. Er ist wirklich toll.
Tatsächlich hatte ich die Arbeit bis vor ein paar Monaten geliebt, bevor Britain Live von einem großen Unternehmen übernommen worden war. Wir hatten damals praktisch über Nacht das halbe Team verloren und mit Kevin einen neuen Boss bekommen, der uns an der übertrieben kurzen Leine führte und aus allem ein Geheimnis machte, um sich noch mehr in den Mittelpunkt zu rücken.
»Behalt das erst einmal für dich«, war einer seiner Lieblingssätze, selbst, wenn es um völlig unwichtige Dinge ging, wie etwa die Frage, ob es dieses Jahr ein Sommerfest geben würde.
Genauso kontrollierte er uns gerne, bot uns Lösungen für Probleme, die wir gar nicht hatten, oder zwang uns grundlos, Gäste unserer Sendungen auszutauschen oder die Reihenfolge der Gespräche oder unsere Skripts zu ändern, um am Ende dann doch alles so zu machen, wie es ursprünglich von uns geplant gewesen war. Das machte wirklich keinen Spaß und war so stressig, dass ich gern – wie Robyn – in den Mutterschutz gegangen wäre, um dem Treiben in der Redaktion vorübergehend zu entfliehen. Vor allem, weil sie es war, die unsere Sendungen produzierte und sich so oft es ging als Puffer zwischen uns und Kevin stellte. Während ihrer Abwesenheit müsste ich mich allein mit Kevin arrangieren.
Natürlich war die Übernahme fast zur selben Zeit erfolgt, als ich bei Charlie aus- und bei Anita eingezogen war, wo ich mir gleichermaßen wie ein unerzogenes Kind und eine alte Dame vorkam.
Ich hatte das Gefühl, als wäre ich am absoluten Tiefpunkt meines Lebens angelangt, weshalb das Geld, das Quentin Wetherby uns angeboten hatte, verlockend war.
Damit könnte ich mein Leben wieder auf die Reihe bringen, aber zunächst müssten wir beweisen, dass diese Hannah Wetherby eine Mörderin gewesen war. Und wenn wir das nicht schafften, würde auch kein Geld fließen.
Und was ist mit der Anzahlung? Zehn Riesen wären doch bereits genug für eine Wohnung, machte mir die leise Stimme klar. Du könntest damit problemlos die Kaution und die ersten Monatsmieten zahlen.
»Sei still!«, wies ich mich selbst mit lauter Stimme zurecht. Der Mann, der in dem Augenblick an mir vorbeiging, sah mich forschend von der Seite an.
Es könnte doch nicht schaden, ein paar Recherchen anzustellen. Zehn Riesen, Scarlett. Zehn!
Ich ahnte, ich brauchte eine zweite Meinung.
»Was machst du hier?«, erkundigte sich Robyn, als ich ins Büro kam und dort meine Tasche auf den Schreibtisch fallen ließ. »Ist heute nicht dein freier Tag?«
»Ist Kevin da?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der ist vor zehn Minuten weg. Natürlich hat er wieder einmal niemandem gesagt, wohin.«
Erleichtert nahm ich hinter meinem Schreibtisch Platz. »Ich will nur etwas nachsehen.«
»In Zusammenhang mit dem Typen, den du und Charlie treffen wolltet?«
Ich bedachte sie mit einem argwöhnischen Blick. »Woher weißt du von dem Treffen?«
»Du hast mir doch gestern Abend auf dem Heimweg selbst eine Sprachnachricht geschickt.«
Ich fuhr zusammen. »Stimmt. Ich war ein bisschen angetrunken und stinksauer, tut mir leid.«
Sie lachte leise auf. »Du hast dich allein dreimal darüber beklagt, dass er dich Scar genannt hat, doch worum es bei diesem Treffen heute gehen sollte, hast du nicht erwähnt.«
»Das ist kompliziert.«
Robyn stieß sich mit ihrem Stuhl vom Schreibtisch ab. »Wie wäre es mit einem Tee?«
»Aber den mache ich.«
»Schon gut.«
»Wie fühlst du dich?« Ich sah sie forschend an und stellte fest, dass sie nicht mehr so blass war wie in den letzten Tagen. »Sieht aus, als hätten deine Eisenwerte sich erholt.«
»Zumindest fühle ich mich nicht mehr so schlapp.« Mit einem stolzen Lächeln fügte sie hinzu: »Ich konnte gestern Abend eine ganze Folge Drag Race gucken, ohne dabei einzuschlafen.«
»Sehr gut. Aber trotzdem koche ich den Tee.«
Als ich zurückkam, sprach sie am Telefon mit einem Gast, der in die Drive-Time-Sendung eingeladen war. Wir hatten drei Programme, eins am Morgen, eins am Mittag und ein weiteres am späten Nachmittag. Ich musste für das geringe Gehalt, das man mir bezahlte, oft am frühen Morgen und dazu noch jedes zweite Wochenende ran, das aber hatte mir vor Kevin nie etwas ausgemacht.
Ich wusste, dass ich karrieremäßig nicht vorankommen würde, während er das Sagen hatte, denn er hielt uns alle möglichst klein. Ich hatte schon des Öfteren gefragt, ob ich nicht eine eigene Sendung oder vielleicht sogar eine eigene Serie produzieren könnte, denn immerhin hatte ich durch meinen Podcast Erfahrung darin. Ich hatte Kevin sogar eine Dokumentation über den Fall Shirley Pilgrim vorgeschlagen, und natürlich hatte Robyn mich dabei nach Kräften unterstützt. Doch Kevin hatte nur gelacht. Gelacht!
Am besten wäre es wohl, beim Sender zu kündigen und selbst etwas auf die Beine zu stellen, dachte ich und fuhr meinen Computer hoch. Ein wenig Internetrecherche hieß ja noch lange nicht, dass wir den Fall um Hannah Snow annehmen müssten.
Ich gab den Namen »Lawrence Wetherby MP« ein und stieß auf jede Menge Einträge zum »spurlosen Verschwinden eines Parlamentsmitglieds Anfang der 1930er«.
Ich scrollte weiter hinunter und fand einen Beitrag über sein Verschwinden, der in eine Reihe von Artikeln über ungelöste Rätsel eingegliedert war. Wobei die Infos ziemlich spärlich waren. Im Mai 1933, kurz nach seiner Heirat, war der Mann verschwunden, und obwohl man seine Leiche nie gefunden hatte, waren alle davon ausgegangen, dass er nicht mehr am Leben war. Das wusste ich bereits.
Ich löschte Lawrence’ Namen und gab »Hannah Snow« ein. Ich fand unter ihrem Namen nur eine Fußballerspielerin, die letztes Wochenende in den Staaten offenbar ein Tor geschossen hatte. Enttäuscht tippte ich »Hannah Wetherby« in die Suchmaske und dazu den Namen von Lawrence.
Es gab nur ein Ergebnis, abermals auf einer veraltet wirkenden Webseite zu ungelösten Rätseln, doch zumindest stieß ich dort auf einen kurzen Text über ein »verschwundenes Parlamentsmitglied und seine Frau«. Ich überflog ihn und erfuhr zum ersten Mal, dass Hannah ungefähr zur selben Zeit verschwunden war wie ihr Ehemann.
»Ach was«, stieß ich überrascht aus. Konnte es dann nicht einfach sein, dass die beiden zusammen durchgebrannt waren?
»Was ist?«, erkundigte sich Robyn, die inzwischen ihr Gespräch beendet hatte, und ich erzählte ihr von Quentins merkwürdigem Angebot.
»Und er will euch dafür bezahlen, dass ihr einen Podcast über seinen verschwundenen Onkel macht?« Sie runzelte die Stirn.
»Nein, wir sollen das Geld dafür bekommen, dass wir keinen Podcast machen.«
»Aber das ergibt doch keinen Sinn.«
»Er will, dass wir die Nachfahren von Hannah finden, falls sie welche hat. Er denkt, sie hätte seinen Onkel umgebracht, das Erbe eingesackt und irgendeinen wertvollen Gegenstand gestohlen, auch wenn er keine Ahnung hat, was das gewesen sein soll. Und er will nicht, dass die Geschichte öffentlich bekannt wird.«
»Und was will er dann von euch?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Er will einfach, dass wir recherchieren und die Schuld der Frau beweisen.«
»Und was würde er dafür zahlen?«
»Rate mal. Nein, rate lieber nicht, darauf kommst du nie.«
»Erzähl’s mir einfach«, meinte Robyn und bedachte mich mit einem neugierigen Blick.
»Zehntausend Pfund jetzt und noch mal fünfzigtausend, wenn bei der Recherche das rauskommt, was er sich davon erhofft.«
»Ach, red doch keinen Scheiß.«
»Es stimmt!«
»Er will euch fünfzig Riesen zahlen?« Sie runzelte die Stirn. »Moment, was heißt, wenn herauskommt, was er sich erhofft?«
»Wir sollen den Beweis dafür erbringen, dass Hannah damals ihren Mann ermordet hat.«
»Und was, wenn sie es nicht war?«
Ich rollte mit den Augen. »Genau das ist das Problem. Wir werden nur bezahlt, wenn wir die Resultate liefern, die er haben will. Das heißt, im Grunde können wir nur auf den Arsch fallen. Ich will nicht dafür bezahlt werden, dass wir einen Fall so verbiegen, wie es jemand haben möchte.« Mit einem Seufzer fügte ich hinzu: »Charlie will den Auftrag trotzdem annehmen.«
»Natürlich will er das. Aber darf er überhaupt privat ermitteln, wenn er im aktiven Polizeidienst ist?«
»Ich habe keine Ahnung, aber wohl eher nicht. Die ganze Sache kommt mir irgendwie …«
»Nicht sauber vor?«
»Genau.« Ich wies auf meine Tastatur. »Ich hatte schon von Anfang an ein ungutes Gefühl, und jetzt heißt es auch noch, dass Hannah damals ebenfalls verschwunden ist.«
»Das heißt, dass sie vielleicht zusammen einen schlimmen Unfall hatten? Oder möglicherweise haben sie sich in die Karibik oder sonst wohin abgesetzt?«
»Wobei sich dieser Quentin sicher war, dass Lawrence nicht mehr lebt und Hannah ihn ermordet hat.«
Entschlossen zerrte Robyn ihren Stuhl an meinen Tisch. »Allmählich wird es interessant.«
Ich sah sie von der Seite an. »Was meinst du?«
»Recherchier erst mal weiter.«
»Hast du nichts zu tun?«
»Natürlich. Aber du hast deinen freien Tag.«
Ich tippte die Worte »Hannah Wetherby Verschwinden« ein. Bei den ersten Resultaten ging es abermals um das Verschwinden von Lawrence, und ich schnaubte, weil auch hier der Mann mal wieder Vorrang hatte vor der Frau. Ich überflog die Beiträge und musste einsehen, dass der blöde Charlie recht hatte. Es war tatsächlich so wie bei Lord Lucan, denn auch Lawrence hatte sich anscheinend einfach so in Luft aufgelöst. Oder vielmehr: in Wasser, denn er war angeblich zum letzten Mal am Loch Ness gesehen worden.
Was aber hatte er dort gewollt?
Ich recherchierte weiter. Er war anscheinend dem Finanzminister unterstellt gewesen, eines Abends nach Hause gegangen und am nächsten Morgen nicht zum Dienst im Ministerium erschienen. Gerüchteweise hatte man ihn und seine junge Frau danach noch am Loch Ness gesehen, bevor sie verschwunden waren.
»Was hast du rausgefunden?«, fragte Robyn mich. »Steht da was, was dich weiterbringt?«
Ich erzählte ihr, was ich gerade erfahren hatte.
»Loch Ness?«
»So steht es da. Aber es gab keine Leiche und auch keinen Hinweis darauf, was aus ihm geworden war.«
»Und was ist mit Hannah? Hat man sie danach noch mal gesehen?«
»Hm, das ist seltsam, denn auf ihr Verschwinden gehen sie nicht näher ein.« Ich runzelte die Stirn. »Vielleicht hat sie ihn ja tatsächlich umgebracht und ist dann abgehauen.«
»Genauso gut könnte Lawrence sie ermordet haben«, stellte Robyn fest. »Das wäre statistisch gesehen sogar wahrscheinlicher, weil Frauen deutlich weniger gewalttätig sind als Männer.«
»Oder vielleicht sind sie zusammen durchgebrannt, weil sie ein einfacheres Leben in einer Kommune führen wollten oder so.«
Sie kicherte. »Wann sind sie denn verschwunden?«
»1933.«
»Und statt in London seiner Arbeit nachzugehen, war Lawrence plötzlich oben am Loch Ness?«
»Zum letzten Mal wurde er in seinem Londoner Büro gesehen, also wahrscheinlich in Westminster.«
»Vielleicht war er ja Abgeordneter für den Bezirk Loch Ness?« Entschlossen gab nun auch Robyn Lawrence’ Namen in ihren Computer ein. »Nein. West Sussex«, sagte sie und schrieb sich seinen Wahlbezirk auf. »Weiter weg von Schottland geht es kaum.«
»Du solltest deine Arbeit machen«, ermahnte ich sie.
Sie streckte mir als Antwort nur die Zunge raus. »Schon gut, ich komme super mit der Redakteurin aus.«
Wir lachten über diesen eigentlich eher lahmen Witz, den sie, wenn möglich, mehrmals täglich riss.
»Und über diese Hannah gibt’s sonst nichts im Netz?«, fragte sie. »War sie auch oben am Loch Ness?«
»Ihr Name taucht nur in Zusammenhang mit dem von Lawrence auf.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin total verwirrt. Weswegen waren sie am Loch Ness, wenn sie in London gelebt haben, er auch dort gearbeitet hat?«
Robyn zuckte mit den Achseln. »Vielleicht haben sie ja ihre Hochzeitsreise zum Loch Ness gemacht.«
»Das wäre eine Möglichkeit. Aber hätte er das nicht angekündigt, statt einfach abzuhauen? Dann hätte niemand sich gewundert, als man ihn am nächsten Tag nicht im Büro gesehen hat.«
»Das stimmt. Doch weshalb waren die beiden dann dort oben?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer. Vielleicht waren sie ja auf der Jagd nach dem Ungeheuer.«
Robyn lachte auf und sah mich unter einer hochgezogenen Braue hervor an. »Das alles ist tatsächlich ziemlich rätselhaft. Und gäbe eine wirklich gute Story ab.«
»Ich weiß.« Mit einem leisen Stöhnen fügte ich hinzu: »Das wäre das perfekte Podcast-Material.«
»Und du bist nicht versucht, das Geld zu nehmen?«
»Doch, natürlich, aber irgendwas ist an der Sache faul.«
»Dann traust du diesem Typen also nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Kein bisschen, ich fand ihn herrisch und erschreckend selbstgerecht.«
»Wie hat sich das gezeigt?«
»Anscheinend ging er davon aus, dass wir uns überschlagen würden, um den Fall zu übernehmen.«
»Für fünfzig Riesen würden das die meisten Leute sicher auch machen.«
»Hör auf.«
»Und er hat einen Sitz im Parlament?«
Ich nickte knapp.
»Dann ist er es bestimmt gewohnt, dass alle machen, was er sagt.«
»Wahrscheinlich«, stimmte ich ihr düster zu.
»Gib seinen Namen mal bei Google ein.«
»Du klingst, als wärst du ebenfalls gewohnt, dass alle machen, was du sagst«, erklärte ich, gab aber trotzdem Quentins Namen ein.
Ich bekam seitenweise Resultate, darunter einen Bericht über einen Empfang im Parlament anlässlich des Pride Month.
»Das ist er«, sagte ich und zeigte auf ein Bild, auf dem er die Arme um die Schultern zweier junger Männer gelegt hatte und lächelnd mit ihnen unter einer Regenbogenfahne stand. Dann las ich kurz die Unterschrift und riss verblüfft die Augen auf. »Ach was!«
»Was ist?«
»Er sagte, wir sollten keinen Podcast machen, um nicht die Gerüchte zu schüren, sein Onkel könnte schwul gewesen sein. Deswegen dachte ich, er wäre obendrein noch homophob. Aber auf diesem Bild feiert er mit seinem Sohn und dessen Ehemann den Pride Month.«
»Er sieht durchaus zufrieden aus«, bemerkte Robin, und ich nickte, denn tatsächlich lächelte er in die Kamera.
»Trotzdem, er wirkt auf dem Bild genauso selbstgerecht und herrisch wie bei unserem Treffen.«
»Aber er ist ein Lügner«, stellte Robyn fest. »Denn offensichtlich gibt es einen anderen Grund, aus dem ihr keinen Podcast machen sollt.«
Ich seufzte. »Es wird immer interessanter.«
»Allerdings.«
Mit einem Stöhnen fügte ich hinzu: »Es geht also um eine super Story und um jede Menge Geld.«
Mit einem mitleidigen Blick in meine Richtung räumte Robyn ein: »Ich kann verstehen, dass Charlie diesen Auftrag annehmen will.«
»Wenn er das macht, verliert er seinen Job«, gab ich zurück. »Und wir beide wissen, dass ihm seine Arbeit über alles geht.«
»Rick?«, rief Robyn unserem Polizeiberichterstatter zu. »Können Polizeibeamte nebenher noch andere Sachen machen?«
»Kommt drauf an.«
»Dürfen sie zum Beispiel nebenberuflich als Privatermittler tätig sein?«
Rick lachte auf. »Auf keinen Fall. Sie müssen alles angeben. Selbst, wenn sie einen Untermieter haben oder so.«
»Siehst du?«, wandte ich mich Robyn zu. »Er kann den Auftrag nicht annehmen.«
»Vielleicht nicht offiziell. Aber du weißt genauso gut wie ich, wie raffiniert er manchmal ist.«
»Charlie ist raffiniert?«
»Man kann ihm nicht vertrauen.« Sie zog eine Grimasse, denn sie hatte ihn nie gemocht. »Er findet sicher einen Weg, die Sache durchzuziehen. Zum Beispiel indem er all die Kohle auf dein Konto überweisen lässt.«
»Genau das hat er vorgeschlagen.«
Robyn lächelte mich vielsagend an.
»Ich nehme an …« Bevor ich meinen Satz beenden konnte, ging auf meinem Smartphone eine Nachricht ein.
Burns’ ungelöste Fälle gehen live auf Sendung.
»Charlie macht anscheinend gerade einen Live-Stream. Es wundert mich, dass er überhaupt weiß, wie das geht. Normalerweise überlässt er mir den ganzen Social-Media-Kram.«
»Wahrscheinlich gibt er wieder mal mit seiner Arbeit an. Zeig her«, bat Robyn und schob sich so nah es ging an mich heran.
Ich hielt mein Smartphone so, dass Robyn auch etwas sehen konnte, und rief den Live-Stream auf. Ich brauchte einen Augenblick, um etwas zu erkennen, weil ich erst mal nur den Messingfuß einer Lampe und den unteren Teil eines grünen Glasschirms sah. Genauso eine Lampe hatte ich vor Kurzem irgendwo gesehen.
Und dann fiel es mir ein.
»Er ist noch immer in dem Pub. Er hat wohl versehentlich den Live-Stream eingeschaltet.« Ich schüttelte den Kopf. »So ein Idiot. Als er vor ein paar Wochen jemandem unseren aktuellen Beitrag zeigen wollte, ist ihm das schon mal passiert.«
»Das wirkt nicht unbedingt professionell. Am besten schreibst du ihm und sagst ihm, was er gerade macht«, schlug Robyn vor.
Bevor ich Charlie kontaktieren konnte, fiel mein Name, und ich spitzte neugierig die Ohren.
»Scarlett hat anscheinend kein Interesse«, sagte er.
Ich tauschte einen Blick mit Robyn aus und schob den Lautstärkeregler hoch.
»Worüber redet Charlie da?«
Ich legte einen Finger an die Lippen, als ich eine andere Männerstimme hörte, deren Worte jedoch nicht zu verstehen waren.
»Ich bin auf jeden Fall dabei«, erklärte Charlie. »Das kriege ich auch alleine hin.«
Diesmal konnte ich den anderen Mann – wahrscheinlich Quentin Wetherby – verstehen. »Sind Sie sich sicher?«
Mein Ex-Freund lachte laut. »Ich bin der Detektive. Scarlett macht nur den Technikkram, und wenn wir ohnehin keine Podcastfolge aufnehmen, brauche ich sie nicht.«
Ungläubig sah ich Robyn an. Dann sagte Charlie etwas über Spesen, ehe er erklärte: »Natürlich muss ich mir erst mal Urlaub nehmen, das heißt, ich kann wahrscheinlich erst in einer Woche Richtung Norden aufbrechen.«
Hieß das, er wollte zum Loch Ness?
»Er hat den Job tatsächlich angenommen«, stellte ich verbittert fest.
»Verdammt! Ich bin auf Sendung«, bemerkte Charlie plötzlich. Er schnappte sich sein Smartphone, und wir sahen sein Gesicht.
Ich wurde schreckensstarr und hatte das Gefühl, als hätte er mich bei etwas Verbotenem erwischt. Ich hoffte nur, er sähe nicht den kleinen Avatar, der ihm verraten würde, dass ich zugesehen hatte, während er mit Quentin sprach.
Er stieß ein leises Lachen aus. »Verdammte soziale Medien. Moment, ich lösche diesen Beitrag kurz.« Ich konnte sein Gesicht noch einmal sehen, und dann war es vorbei.
»Ich hasse ihn«, stieß Robyn giftig aus und sah mich fragend an. »Hat er den Auftrag wirklich hinter deinem Rücken angenommen?«
In meinen Augen stiegen Tränen auf, denn das war ein noch größerer Verrat, als in Begleitung seiner neuen Freundin auf der Preisverleihung zu erscheinen und sie dort an meiner statt in seiner Dankesrede zu erwähnen. »Ich mache schließlich nur den Technikkram, ansonsten kommt er bestens ohne mich zurecht. Du hast es selbst gehört.«
»Was für ein Arschloch.« Robyn lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Denkst du, er will tatsächlich zum Loch Ness?«
»Was weiß denn ich?« In mir wogte heißer Ärger auf. »Er hat nur gesagt, er wolle in den Norden.«
»Aber er hat bestimmt Loch Ness gemeint, schließlich geht man davon aus, dass Lawrence dort verschwunden ist.«
»Wahrscheinlich. Aber er hat auch gesagt, er könnte erst in einer Woche los.« Um nicht in Tränen auszubrechen, starrte ich an die Decke. »Oh, Rob, wie konnte er das tun? Wie kommt er plötzlich ganz alleine zum Loch Ness?«
Mitfühlend legte Robyn eine Hand auf meinen Arm. »Wahrscheinlich fährt er mit dem Zug nach Gatwick und steigt dort in einen Flieger ein.«
»Das habe ich nicht gemeint …«, murmelte ich.
»Das ist mir klar. Ich wollte dich damit zum Lachen bringen.«
Dann kam mir plötzlich ein Gedanke. Ein absurder Gedanke, und ich blickte Robyn an. »Du denkst also, er nimmt den Zug und dann ein Flugzeug?«
»Oder vielleicht fährt er auch die ganze Strecke mit dem Zug. Ich weiß nicht, was der beste Weg ist, ich war bisher nie dort oben.«
»Ich könnte ihm zuvorkommen.« Entschlossen stand ich auf. »Ich könnte sofort losfahren und herausfinden, was aus Hannah wurde, bevor Charlie auf der Bildfläche erscheint.«
»Au ja! Dann machst du einen eigenen Podcast, und dann steht der blöde Charlie da wie ein Idiot.«
Genauso plötzlich, wie ich mit erhoben hatte, ließ ich mich wieder auf den Schreibtischstuhl fallen.
»Ich habe praktisch keinen Urlaub mehr und fast kein Geld. Ich kann es mir nicht leisten, einfach freizumachen, um nach Schottland zu fahren und Recherchen anzustellen.«
Ich stützte mich mit meinen Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf zwischen den Händen ab. »Das heißt, dass Charlie seinen großen Auftritt kriegen wird.«
Nach einer kurzen Pause fragte Robyn mich: »Und was, wenn es bei dieser Angelegenheit um deine Arbeit ginge?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ich meine deinen Podcast.«
»Aber der hat doch mit meiner Arbeit nichts zu tun.«
»Bis jetzt.« Sie rief die Nachrichten der BBC auf ihrem Computer auf. »Hier, guck.«
Ich las einen Beitrag über einen bekannten Moderator, dem vorgeworfen wurde, seit Jahrzehnten jungen Mädchen, die ihm unterstellt waren, gegen deren Willen an die Wäsche zu gehen. Ich verzog das Gesicht. »Das ist widerlich.«
»Wir haben Nardinis Sendung über Mineralwasser aus dem Programm genommen.«
»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er diese Sendung je machen sollte.«
»Den Auftrag hatte Kevin ihm erteilt«, klärte mich Robyn auf und rieb sich über die Nase. »Und das war selbst für ihn eine beschissene Idee.« Dann grinste sie mich an. »Zumindest haben wir dadurch plötzlich einen freien Sendeplatz. Warum fährst du nicht zum Loch Ness und bereitest dort einen Beitrag vor, um diese Lücke zu füllen?«
Ich starrte sie mit großen Augen an. »Ist das dein Ernst?«
»Und ob. Und ich komme als Produzentin mit.«
»Damit wäre Kevin niemals einverstanden.«
»Vielleicht doch, wenn ich ihm sage, dass es keinen anderen Lückenfüller gibt.«
»Er könnte einfach eine Wiederholung bringen.«
»Sicher, aber unsere Hörerzahlen sind bereits im Keller.«
»Und du glaubst wirklich, dass er einverstanden ist?«
»Wenn er verzweifelt genug ist …« Dann stöhnte sie. »Ich habe Montag meinen nächsten Ultraschalltermin. Ich kann versuchen, ihn so lange zu verschieben, bis wir wieder hier sind, aber …«
»Finden diese Untersuchungen nicht zu bestimmten Zeiten statt?«
»Mehr oder weniger.«
»Dann produzier die Sendung doch von hier aus«, schlug ich vor. »Und ich fahre alleine zum Loch Ness, während du Kevin das Gefühl gibst, er könnte alles überwachen, was wir tun.«
Begeistert reckte sie die Faust. »Genauso machen wir’s!«
»Was macht ihr wie?«, erkundigte sich Kevin, der gerade von seinem mysteriösen Treffen zurückkam.
»Wir füllen die Lücke, die die rausgenommene Wasser-Sendung ins Programm gerissen hat.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass die Bosse uns gezwungen haben, diesen Beitrag rauszunehmen, nur weil ein paar Frauen plötzlich zickig werden.«
Zähneknirschend fragte Robyn: »Könnten wir kurz über meinen Vorschlag sprechen?«, und mit einer großmütigen Geste winkte Kevin sie in sein Büro.
Ich hielt sie am Arm fest und fragte leise, ob ich mitkommen sollte, doch sie schüttelte den Kopf. »Ich werde einfach meinen Bauch rausstrecken, denn anscheinend hat er etwas Angst vor meinem ungeborenen Kind.«
Ich sah den beiden hinterher und konnte durch die Glaswand mitverfolgen, wie sie mit ihm sprach. Sie wirkte ernst, und Kevin blickte sie streng an.
»Er wird es nicht erlauben«, murmelte ich traurig, aber plötzlich legte Robyn ihre Hand auf ihren Bauch, und Kevin riss erschrocken die Augen auf. Dann begann sie zu gestikulieren, und Kevin nickte widerstrebend. Bestand also doch die Chance, dass er sich geschlagen gab?
Wenig später stand Robyn lächelnd auf und kam zurück zu mir.
»Drei halbstündige Beiträge, der erste am Montagabend und dann Mittwoch sowie Freitag um die gleiche Zeit. Sie wollen es auch als Podcast bringen. Ich habe ihm erklärt, dass du schon heute Abend fährst, damit die Zeit für die Recherche reicht und – zugegeben – damit er es sich nicht noch einmal anders überlegen kann. Du kannst den Nachtzug nehmen, aber er hat gesagt, dass er nur einen Sitzplatz und keinen Schlafwagen bezahlt, weil das zu teuer ist. Und vorher will er einen Trailer von dir haben, den ich produzieren soll.«
Ich starrte sie mit großen Augen an.
»Was ist? Bei Charlie und bei Kevin haben wir es mit zwei echten Arschlöchern zu tun, und so wischen wir beiden eins aus. Wir müssen einfach dafür sorgen, dass die Beiträge fantastisch werden.«
»Na dann.« In meinem Innern wogte Panik auf. »Unglaublich.«
»Allerdings.« Robyn vollführte einen kleinen Freudentanz. »Jetzt bekommst du endlich deine erste offizielle Sendung und zugleich die Gelegenheit, den blöden Machos eine reinzuwürgen.«
»Weißt du schon, um wie viel Uhr der Nachtzug fährt?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht gegen elf?«
Ich sah auf meine Uhr. »Dann legen wir am besten sofort los.«