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Hannah

1933, sechs Wochen später

Ich war tatsächlich glücklich in dem kleinen Ort. Wahrscheinlich glücklicher als je zuvor im Leben.

Das Drum Hotel war ruhig und elegant und voll mit älteren Damen aus Dundee oder Edinburgh, die hier zum Tee zusammenkamen oder eine Woche blieben, um die frische Luft zu atmen, und mitunter reisten auch ein paar ältere Herren an, um im See zu fischen oder Golf zu spielen.

Im Speisesaal spielte ein Streichquartett, zum anschließenden Whisky oder Sherry ging es in die Bar, und das Personal war angehalten, sich stets tadellos zu kleiden und vor allem immer höflich mit den Gästen umzugehen.

Es überraschte mich, wie gut die Arbeit mir gefiel. Zum ersten Mal im Leben konnte ich mich wirklich nützlich machen, und als Lohn für meine Tätigkeit bekam ich jeden Freitag einen kleinen braunen Umschlag in die Hand gedrückt. Auch wenn Davina immer über die Bezahlung schimpfte und beschloss, in Zukunft mehr zu verlangen, war ich froh und dankbar für mein erstes selbst verdientes Geld.

Wobei die größte Überraschung in meinen Augen unsere Chefin war.

Bei meiner Ankunft hatte ihre brüske, doch patente Art mich noch ein wenig eingeschüchtert, und sie führte das Hotel mit einem beeindruckenden Blick für die kleinsten Kleinigkeiten. So wussten wir zum Beispiel, dass es Ärger geben würde, wäre auch nur eins der Kopfkissen nicht richtig ausgeschüttelt oder eine Ecke eines Bettlakens nicht richtig festgesteckt.

»Sie ist geschieden«, hatte mir Davina kurz nach meiner Ankunft einmal während unserer Arbeit zugeraunt. »Dieses Hotel gehörte ihrem Ehemann, aber der ist zurück nach Glasgow, wo er jetzt mit seiner neuen Freundin lebt.«

Meine Tante hatte das Wort »Scheidung« immer mit gedämpfter Stimme ausgesprochen und dazu die Brauen hochgezogen, deshalb hätte mich diese Neuigkeit schockieren sollen. Doch inzwischen war ich deutlich weltgewandter als noch zwei Monate zuvor.

»Dann hat ihr Mann ihr das Hotel überlassen?«, hatte ich gefragt.

»Sie hat darauf bestanden, dass sie es bekommt. Anscheinend wollte er es eigentlich verkaufen, weil sich kaum Geld damit verdienen ließ, doch Mrs M war derart außer sich, weil dieser Mistkerl sie betrogen hat, dass sie zu einem Anwalt ist, der drauf bestanden hat, dass er ihr alles überschreibt. Das ist der Grund, aus dem sie alles dransetzt, dass der Laden läuft.«

»Das tut er doch, wir haben schließlich immer alle Hände voll zu tun.« Ich schüttelte eins der Kissen aus und hoffte, dass unsere Chefin mit dem Bett zufrieden wäre, wenn sie später zur Kontrolle kam.

»Trotzdem denkt sie immer, dass es auch noch besser laufen kann.«

So zielstrebig und leidenschaftlich Mrs M auch wirkte, so war sie mitunter auch zum Schreien komisch, wie ich bald schon herausfand.

Sie ging sehr fürsorglich mit allen Angestellten um, und mir gefiel, dass sie uns alle »Püppchen« nannte und uns in den höchsten Tönen lobte, wenn sie mit unserer Arbeit zufrieden war.

Am schönsten aber waren unsere sonntäglichen Soireen, die sie eingeführt hatte. Gleich nach dem Abendessen für die Gäste traf sich das Personal gesammelt in der Bar und plauderte dort über ein paar Drinks. Die anderen Angestellten warteten gern mal mit amüsanten, traurigen, schockierenden oder Furcht einflößenden Geschichten auf, und auch wenn ich mich eher zurückhielt, um nicht aufzufallen, saß ich gern dabei und hörte ihnen zu. Wie interessant das Leben der anderen doch war.

Mitunter saßen auch noch ein paar Gäste in der Bar, und auch ihnen hörte ich mit großem Interesse zu. Vor allem den älteren Damen und Herren, die Anekdoten aus dem Großen Krieg und über die Jahrhundertwende erzählten.

Manchmal hastete ich am Ende eines solchen Abends in mein kleines Zimmer unter dem Dach und schrieb in mein Notizbuch, das ich mir von meinem ersten Lohn gekauft hatte. Mein größter Wunsch war eine Schreibmaschine, aber da ich mir die erst einmal nicht leisten konnte, legte ich mich auf mein schmales Bett und schrieb die Geschichten wie für einen Artikel in der Zeitung oder einen Radiobeitrag auf. Das war eine gute Übung, auch wenn meine Kodak Brownie auf dem Nachttisch neben meinem Bett verstaubte und ich noch nie so weit von meinem Ziel, Journalistin zu werden, entfernt gewesen war wie jetzt.

An diesem Sonntag war ich mit der Vorbereitung unserer Soiree betraut. Ich musste dafür sorgen, dass die Gäste in der Bar wussten, dass die Angestellten sich dazugesellen würden, und Gläser und Getränke auf den Tresen stellen.

Als ich hereinkam, saßen nur die beiden Miss James, zwei ältere Schwestern, je mit einem Gläschen Sherry am Kamin. Ich nickte ihnen freundlich zu und ging zum Tresen, hinter dem Tobias stand. Wenn er nicht an der Bar bediente oder das Gepäck der Gäste schleppte, führte er anfallende Reparaturarbeiten aus. Selbst den kaputten Wagen eines Gastes hatte er mal wieder zum Laufen bekommen, und ich wusste, dass Davina nicht nur seines guten Aussehens wegen hoffnungslos in ihn verschossen war. Sie tauchte überall auf, wo er sich aufhielt, und ihre Augen leuchteten, wenn die Sprache auf ihn kam.

»Bist du heute Abend für die Drinks zuständig?«, fragte er mich grinsend, als ich an die Theke trat. »Da können wir es ja richtig krachen lassen, die Chefin ist nicht da.«

»Ach nein?«

»Sie ist in Inverness und spricht mit jemandem vom Golfclub, dessen Mitglieder hier im Hotel Rabatt bekommen sollen.«

»Und trotzdem treffen wir uns heute Abend alle in der Bar?« Ich kam ich mir noch immer manchmal wie die Neue vor.

»Auf jeden Fall«, erklärte er. »Und heute Abend trinken wir das gute Zeug.«

Er holte Gin und Port sowie ein halbes Dutzend Flaschen Bier und stellte lächelnd die Gläser auf den Tresen, als der Rest der Truppe auch schon in den Raum geschlendert kam.

»Ein Gin wie immer, Hannah?«

»Gern.«

Ich brachte Davina auch ein Glas mit. Sie saß mit roten Wagen in der Nähe des Tresens, und ich fragte mich, ob Tobias dafür verantwortlich war oder das heimliche Glas, das sie schon beim Abräumen der Tische nach dem Abendessen getrunken hatte.

Dann wurde es ein ausgelassener Abend. Dank Tobias floss der Alkohol in Strömen, und die Geschwister James erzählten packende Anekdoten aus der Zeit, als sie im Krieg als Krankenschwestern vorne an der Front gewesen waren. Ich nahm mir vor, alles aufzuschreiben, bevor ich schlafen ginge, auch wenn ich aufgrund der großzügigen Drinks, die ich serviert bekommen hatte, wahrscheinlich die Hälfte vergessen würde.

»Hannah«, wandte sich Davina plötzlich an mich, als die Unterhaltung abflachte. »Wir wissen gar nichts über dich. Warum erzählst du uns nicht etwas von dir?«

»Da gibt es nichts zu erzählen«, wehrte ich ab und versuchte, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich bin ein furchtbar langweiliger Mensch.«

»Es muss ja nicht um dich gehen«, mischte sich Tobias ein. »Du hast doch sicher eine Freundin oder einen Freund, von denen du uns was erzählen kannst.«

Vielleicht war es der Alkohol, der mich verwegen machte. Oder die erwartungsvollen Blicke der anderen oder meine Überzeugung, dass ich zum Erzählen geboren war.

Aus welchem Grund auch immer nickte ich und begann zu sprechen.

»Ich werde euch etwas erzählen, was einer Freundin zugestoßen ist. Es war ihr Hochzeitstag, und ein paar Stunden nach der Trauung …«

Alle hingen an meinen Lippen, als ich meine eigenen Erlebnisse zum Besten gab. Zumindest aber gab ich den Personen andere Namen, und der frischgebackene Ehemann war in seiner Hochzeitsnacht auch nicht mit einem hübschen, jungen Mann, sondern einer hübschen, jungen Frau zusammen.

»Und was ist dann passiert?«, erkundigte sich das Küchenmädchen Marjorie, als ich kurz innehielt. »Als sie ins Zimmer kam und ihn dort mit der anderen Frau gesehen hat?«

»Wie du dir denken kannst, hat dieser Anblick ihr das Herz gebrochen, weshalb sie in lautes Wehklagen ausgebrochen ist …«

In diesem Augenblick durchbrach ein Geräusch, das an ein Heulen erinnerte, die angespannte Stille in der Bar und ließ uns vor Schreck zusammenfahren.

Die beiden älteren Schwestern nahmen einander bei den Händen, und Marjorie warf die Hände vors Gesicht. »Was war das?«, stieß sie ängstlich aus.

Die Tür der Bar sprang auf, und dort stand unsere Chefin mit verschmiertem Lippenstift und wild zerzaustem Haar. Sie war erschreckend bleich und starrte uns mit großen Augen an.

»Oh, Mrs M! Was ist passiert?« Davina stürzte auf sie zu, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass Tobias die halb geleerte Ginflasche verschwinden ließ und nach der Sherryflasche griff. Er schenkte etwas davon in ein kleines Glas und drückte es Davina in die Hand, damit sie es Mrs M reichen konnte, die sich auf einen der Stühle hatte fallen lassen.

»Hier, trinken Sie. Was ist passiert?«

»Das werdet ihr mir niemals glauben«, meinte Mrs M, bevor sie einen großen Schluck von ihrem Sherry trank.

Ich schob mich fasziniert mit meinem Stuhl an sie heran und sagte: »Warten Sie es ab.«

Sie schob sich eine wirre Strähne aus dem Gesicht. »Es ist noch nicht ganz dunkel«, fing sie an. Ich sah durch das Fenster, dass die Sonne gerade erst am Horizont verschwunden war.

»Haben Sie etwas Erschreckendes gesehen?«, fragte Davina, und ich unterdrückte meine Ungeduld. Ich wollte, dass uns nicht Davina, sondern Mrs M erzählte, was geschehen war.

»Das habe ich.« Die Chefin sah uns nacheinander an, denn offenbar genoss sie es, derart im Mittelpunkt zu stehen. »Ich fuhr am Seeufer entlang und sah auf das Wasser, wie ich es immer mache, wenn ich auf dem Heimweg bin. Ich liebe, wie das Wasser aussieht, wenn die Sonne untergeht. Am Abend ist die Wasseroberfläche immer völlig glatt und still.«

An ihr war eine Dichterin verloren gegangen, dachte ich.

»Doch heute Abend nicht.« Mit diesen Worten trank sie ihren Sherry aus und hielt Tobias das leere Glas hin. »Die Wellen haben sich richtiggehend überschlagen, und der See war völlig aufgewühlt.«

War es vielleicht windig geworden, ohne dass wir es mitbekommen hatten? Ich sah wieder aus dem Fenster, doch die Bäume standen völlig still.

»Also habe ich den Wagen angehalten«, ergriff Mrs M erneut das Wort. »Ich traute meinen Augen nicht und hatte Angst, ich könnte vielleicht von der Straße abkommen. Dann bin ich ausgestiegen und ans Ufer hinuntergegangen, um zu sehen, was der Grund für diese hohen Wellen war.«

»Und was war es?«, fragte Davina atemlos, und unsere Chefin richtete sich kerzengerade auf.

»Eine riesengroße Bestie, die das Wasser wie in einem Hexenkessel brodeln ließ.«

»Eine Bestie? So wie King Kong in dem Film?«, erkundigte sich Marjorie.

»O nein, es sah eher aus wie ein Wal mit einem riesengroßen Buckel«, erklärte Mrs M.

»War es vielleicht ein auffällig großer Fisch?«, mischte jetzt auch ich mich ein.

Sie schüttelte den Kopf und stieß ein lautes Schnauben aus. »O nein. Das war ein Ungeheuer und kein Fisch.«

Wir alle schwiegen überrascht, und eine der zwei Schwestern stieß ein unterdrücktes Kichern aus.

»Ein … Ungeheuer? So was wie ein Drache?«, fragte Marjorie und kämpfte gegen einen Lacher an.

»Es war kein Drache«, widersprach Mrs M und klang verletzt.

Dann brach auch Davina in leises Kichern aus und fragte: »Haben Sie sich vielleicht schon im Golfclub ein paar Sherry genehmigt, Mrs M?«

Wir alle lachten, und auch wenn die arme Mrs M betroffen wirkte, war sie sich anscheinend plötzlich selbst nicht mehr so sicher, was sie dort im See gesehen hatte.

»Sie haben mir dort zwar ein, zwei Gläschen angeboten, aber ich war vollkommen nüchtern und bin schließlich noch den ganzen Weg allein gefahren. Wobei ich mich beim Anblick dieses Ungeheuers so erschrocken habe, dass ich meinen Wagen habe stehen lassen und den Rest des Wegs gelaufen bin. Er steht noch immer dort am Straßenrand.«

»Dann werde ich ihn holen«, bot Tobias seufzend an. Er war auffällig still gewesen, während Mrs M von dem Vorfall berichtete. »Ihr kennt doch sicher alle die Geschichte, oder nicht? Die von der Bestie auf dem Grund des Sees?«

»Es gibt dort eine wilde Bestie?«, fragte ich ihn aufgeregt.

»Natürlich. Die Geschichte kennt in Drumnadrochit jedes Kind.«

»Erzähl sie uns«, bat ihn Davina, und mit einem neuerlichen Seufzer nahm er wieder Platz.

»Vor langer Zeit, als noch die Pikten hier in Schottland lebten, kam ein Mönch namens Columba dazu, als eine Gruppe Männer einen Toten dort am Seeufer begrub. Und als er fragte, wie ihr Freund gestorben sei, sagten sie, genau dort, wo sie ihn begraben würden, hätte eine riesengroße Bestie ihn attackiert und umgebracht.«

Mit einem enttäuschten Seufzer meinte Marjorie: »Ach, die Geschichte kenne ich.«

»Dann hole ich jetzt mal den Wagen, denn schließlich habe ich euch gleich gesagt, dass jeder die Geschichte kennt.« Mit diesen Worten stand Tobias auf und wandte sich zum Gehen.

»Ich kenne die Geschichte nicht«, sagte ich laut. »Was ist dann passiert? Wurde der Mönch dann auch von der Bestie attackiert?«

Mit einem übertriebenen Augenrollen meinte Marjorie: »Das Biest kam aus dem Wasser, ist dann aber wieder weggerannt, als sich der Mönch bekreuzigt hat.«

»Es ist nicht weggelaufen, sondern weggeschwommen«, verbesserte Davina sie.

»Und wo ist da der Unterschied? Wie dem auch sei, ich gehe jetzt schlafen, ich bin morgen mit dem Frühstück dran.«

»Vielleicht haben Sie sich dieses Ungeheuer ja nur eingebildet?«, wandte ich mich sanft an Mrs M. »Möglicherweise war es ein Boot oder ein Ast, der auf dem Wasser schwamm und Sie an die Geschichte von dem Mönch erinnert hat?«

Mit einem gleichmütigen Achselzucken meinte sie »Vielleicht« und klappte ihre Puderdose auf. Dann korrigierte sie den verwischten Lippenstift, strich sich die Haare glatt und atmete tief durch.

»In Ordnung«, meinte sie, stand auf und ging zur Bar. »Wer hat noch Lust auf einen Drink?«