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Scarlett

Heute

Nach einer ordentlichen Mütze Schlaf sprang ich am nächsten Morgen voller Energie aus dem Bett.

Inzwischen hatte ich beschlossen, dass das Ungeheuer von Loch Ness der Schlüssel meiner Sendung werden sollte, weil die Leute davon auch nach all den Jahren noch begeistert waren. Ich würde meine Sendezeit mit Storys über Nessie füllen, eine unheimliche Atmosphäre schaffen, und dann bliebe mir nur noch zu hoffen, dass ich bis zur zweiten Sendung mehr Konkretes über meinen Vermisstenfall zu sagen haben würde.

Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass ich Robyn etwas anderes versprochen hatte, und beschloss, mit der Vorbereitung der Sendung auf dem Parkplatz des Hotels zu beginnen. Ich wollte einen der anderen Podcaster interviewen und das Geräusch der Wellen aufnehmen, die sich am Ufer brachen. Möglicherweise würde ich ein Stück durch das Wasser waten müssen, um die Geräuschkulisse einzufangen. Ich musste einfach hoffen, dass es nicht zu eisig war. Am besten würde ich damit beginnen und – UFF.

Ich stieß ich gegen etwas Großes, prallte ab und landete nicht gerade elegant auf meinem Hinterteil. Ich schaffte es mit Mühe, meinen Laptop festzuhalten, aber meine Papiere flatterten auf den Asphalt.

Ich blickte auf, und vor dem hellen Himmel zeichnete sich die Silhouette eines muskulösen Mannes ab.

»Verdammt. Es tut mir leid.« Er gab mir eine Hand, zog mich hoch, und ich erkannte Lucas. »Ich habe einen Schritt zurück gemacht, ohne mich vorher umzusehen.«

Tatsächlich hatte auch ich in meiner Eile, hinunter an den See zu kommen, nicht aufgepasst, war also selbst schuld an dem Zusammenstoß.

»Geht’s Ihnen gut?«, erkundigte er sich und folgte mit den Augen meinen Notizen, die der Wind über den Parkplatz wehte.

»Hervorragend.« Ich nickte nachdrücklich.

Und dann brach ich in Tränen aus.

»Verdammt! Sind Sie verletzt? Habe ich Ihnen etwa wehgetan?«

Ich atmete tief durch, fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich bin nur erschrocken, davon abgesehen geht es mir gut.«

»Aber so sehen Sie nicht aus.«

»Na, vielen Dank.«

»Tja, wenn es einem gut geht, bricht man nicht in Tränen aus.« Er lächelte mich freundlich an, und plötzlich huschte auch ein Lächeln über mein Gesicht.

»Ich stehe zeitlich etwas unter Druck. Wahrscheinlich bin ich deswegen gestresst.«

»Geht es um Ihren Podcast?«

»Nein, um meine Radiosendung. Einen Podcast könnte ich auch einfach später bringen, aber diese Sendung nicht.« Ich putzte mir die Nase mit dem Taschentuch, das ich in meiner Hosentasche gefunden hatte. »Die erste Folge ist für morgen angesetzt, und bisher habe ich für die Sendung nur das, was ich von Ihnen über Nessie weiß.«

Er bückte sich nach einem der Blätter, die ich fallen gelassen hatte, drückte es mir in die Hand und sah mich fragend an. »Ich könnte Ihnen helfen, wenn Sie wollen.«

»Wobei?«

»Ich könnte für Sie recherchieren«, schlug er achselzuckend vor. »Ich grabe gerne irgendwelche Sachen aus.«

»Für Ihren Podcast?«

»Ja, aber auch für meinem Job.«

Ich sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Sie sind doch wohl kein Detektiv?«

Mit einem angenehmen Lachen, das von Herzen kam, erklärte er: »Nein. Ich arbeite als Wirtschaftsprüfer.«

»Und deswegen kennen Sie sich mit Recherchen aus?«

»Allerdings, weil ich in der Forensik tätig bin.«

»Aber dabei geht es doch um Leichen, Fingerabdrücke und anderes Zeug.«

Er lachte wieder, und ich merkte, dass das eine dumme Frage gewesen war.

»Mein Gott, was rede ich da? Sie recherchieren unter anderem zu Betrügereien, stimmt’s?«, erkundigte ich mich.

»Genau. Und dabei stöbere ich häufig kleine Ungereimtheiten auf, die zeigen, dass etwas nicht stimmt.«

Ich war so gestresst, dass ich fast nachgegeben hätte, doch ich wusste, ich musste die Sendung alleine gestalten, wenn ich mir selbst und allen anderen etwas beweisen wollte, deshalb schüttelte ich den Kopf.

»Das ist ein nettes Angebot, aber ich komme auch allein klar.«

»Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn ich mich einer anderen Aufgabe widmen könnte, da es über die geheimnisvolle Bestie von Loch Lochy praktisch nichts herauszufinden gibt.«

»Das biestige McBeast.«

»Genau.«

»Noch mal: Das ist ein nettes Angebot, aber ich komme wirklich gut zurecht.«

»Okay.«

»Dann werde ich mal weitermachen.«

Bevor mein Laptop doch noch zu Boden fiel, klemmte ich ihn fester unter meinen Arm und sagte leicht verlegen: »Vielen Dank, dass Sie mir hochgeholfen haben.«

»Gern geschehen.«

Wir blieben reglos voreinander stehen, und schließlich sagte er: »Sie haben wahrscheinlich keine Lust, mit mir in den Pub zu gehen? Bei mir läuft die Recherche immer besser, wenn ich was zu trinken habe, und ich verspreche Ihnen auch, keinen Ton zu sagen, bis Sie mit der Arbeit fertig sind.«

»Einverstanden.«

*

Wir gingen in das Black Friar, wo bereits eine Handvoll anderer Gäste saßen, nahmen an einem großen Ecktisch Platz, und während Lucas die Getränke holte, breitete ich meine Aufzeichnungen aus, die ich noch vor dem Wind hatte retten können.

»Was haben Sie bisher?«, erkundigte er sich und stellte ein Bier aus Italien vor mir auf den Tisch. »Erzählen Sie mir die Geschichte von Anfang an.«

Als ich nach meinen Notizen greifen wollte, legte er die Hand auf meinen Arm und schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie mir einfach alles, was Ihnen in Erinnerung geblieben ist, ohne sich die Aufzeichnungen anzusehen.«

Als ich die Brauen hochzog, fügte er hinzu: »Die Taktik nutze ich in meinem Job. Auf diese Weise kommt man gleich zum Punkt und filtert automatisch alles Unwichtige aus.«

»Okay.« Ich trank den ersten Schluck von meinem Bier und begann, von den Ereignissen im März 1933 zu erzählen.

»Und die Ehefrau Hannah ist nie wieder aufgetaucht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist es ja, ein paar Wochen nach ihrem Verschwinden hieß es, die Meldung sei falsch gewesen, Hannah sei niemals weggewesen, obwohl Lawrence’ Bruder sie nicht in London, sondern am Loch Ness vermutete.«

»Warum denn das?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Lucas runzelte die Stirn. »Aber in Wahrheit war es Lawrence, der verschwunden ist, nicht wahr?«

Ich nickte. »Wobei er erst im Mai verschwunden ist, was ebenfalls ein bisschen seltsam ist.«

»Und niemand wusste, wo er steckt?«

»Verschwunden heißt, dass niemand weiß, wo jemand ist.«

Als Reaktion auf meinen kleinen Scherz stieß Lucas ein leises Lachen aus.

»Und wo wurde der Mann zum letzten Mal gesehen?«

»In London. An einem Abend war er noch im Parlament, aber am nächsten Morgen kam er nicht zurück. Und dann gab es Gerüchte, dass auch er hier oben am Loch Ness gesehen wurde.«

»Was haben Sie sonst noch?«

»Hm, an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag im Oktober jenes Jahres hätte er ein Erbe ausbezahlt bekommen, das entweder er selbst oder jemand anderes dann auch angetreten hat.«

»Und sonst?«

»Er hatte einen Neffen, Quentin Wetherby.«

»Das Parlamentsmitglied?«

»Dann haben Sie schon mal von ihm gehört?«

»Eher von seinem Familienunternehmen, das, soweit ich weiß, im Augenblick zu kämpfen hat.«

»Wegen des Brexits«, vermutete ich, und Lucas zog die Brauen hoch.

»Und allem anderen.«

»Quentin denkt, seinem Vater Simon hätte dieses Erbe zugestanden.«

»Das wäre nach Lawrence’ Tod wahrscheinlich auch so gewesen.«

»Das ist der Grund«, ich trank den nächsten Schluck von meinem Bier, »aus dem uns Quentin mit Nachforschungen beauftragt hat.«

»Sie arbeiten für Quentin Wetherby?«

»Auf keinen Fall!« Ich schlug so kräftig auf den Tisch, dass ein paar andere Gäste sich verwundert nach mir umsahen. »Er sucht nach einem Beweis dafür, dass Hannah ihren Mann damals aus dem Weg geräumt und sich das Erbe unter den Nagel gerissen hat. Ich dagegen will beweisen, dass sie ihn nicht ermordet hat.«

»Das klingt nach einer wirklich guten Story«, stellte Lucas anerkennend fest.

Ich richtete mich auf. Dass er das Potenzial in meiner Geschichte sah, rief neue Hoffnung in mir wach.

»Für die erste Folge will ich zunächst die Atmosphäre einfangen. Immerhin haben sich die beiden Vermisstenfälle zugetragen, als Nessie zum ersten Mal gesichtet wurde und die ganze Welt auf der Jagd nach ihr hierhergekommen ist. Ich habe mich gefragt, ob Hannah auch deshalb hier oben war – weil sie das Ungeheuer sehen wollte. Aber die Daten passen einfach nicht.«

»Das ist wirklich spannend«, stieß Lucas etwas neidisch aus. »Auf jeden Fall besser als meine Story über Loch Lochy ...«

Ich lachte leise auf. »Joyce’ Enkeltochter Bonnie hat für mich nach alten Zeitungen gesucht, aber wahrscheinlich gehe ich auch selbst noch einmal ins Archiv, suche die alten Regionalteile über diese Gegend heraus und mache mir ein Bild der Zeit.«

»Das klingt nach einem guten Plan«, stimmte mir Lucas zu. »Und ich kann versuchen, etwas über das Verschwinden dieses Parlamentsmitglieds herauszufinden, wenn Sie wollen.«

»Nein«, sagte ich lauter als geplant, und Lucas sah etwas gekränkt aus.

»Ich würde niemals Ihre Story klauen, falls es das ist, was Sie fürchten.«

»Nein, das ist es nicht.« Mit einem leisen Seufzer fügte ich hinzu: »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, aber das ist einfach meine ganz persönliche Story, verstehen Sie?«

Er sah nicht überzeugt aus, aber schließlich nickte er. »Okay. Soll ich Sie dann lieber in Ruhe Ihre Arbeit machen lassen?«

»Wenn das für Sie in Ordnung ist«, sagte ich etwas kleinlaut.

»Na klar. Und wenn Sie nicht weiterkommen, können Sie ja mal auf diese Seite gehen.« Er schrieb einen Link auf einen Bierdeckel und fügte noch hinzu: »Das könnte durchaus hilfreich sein.«

Dann leerte er sein Glas und verließ, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, den Pub. Am liebsten hätte ich ihm hinterhergerufen, dass er wiederkommen sollte, doch dann dachte ich an die Zusammenarbeit mit meinem Ex und ließ es sein. Meist hatte ich seinen Teil der Arbeit noch mal durchsehen müssen, und am Ende hatte ich dann oft die von ihm begonnene Recherche fortgesetzt und meine eigenen Aufgaben in den späten Abendstunden oder nachts erledigt. Es wäre also einfacher, die Sache diesmal ganz allein durchzuziehen.

Ich blickte auf den Bierdeckel, auf dem eine Webadresse neben einem Benutzernamen – Obiwandenobi – sowie einem Passwort stand.

Neugierig gab ich die Adresse in den Laptop ein und gelangte auf eine Homepage mit den Personalakten der Polizei und einer Suchfunktion, die mir aus anderen Archiven bekannt vorkam. Wahrscheinlich nutzte Lucas diese Seite, um sich die Gehälter der Beamten anzusehen. Ich wusste nicht, wie mir das weiterhelfen sollte, gab dann aber auf gut Glück Lawrence’ Namen ein, und als ich ein Ergebnis hatte, stellte ich triumphierend meine Flasche auf den Tisch. Es war die Akte eines Sergeants namens Vassily, der 1938 in Pension gegangen war. Nachdem der Krieg begonnen hatte, war er in den Dienst zurückgekehrt und 1945 dafür ausgezeichnet worden.

»Sehr löblich«, murmelte ich leise vor mich hin. Auch meine Mutter hatte sich nach ihrer Pensionierung in den Zeiten von Corona an ihrer alten Schule engagiert, worauf ich furchtbar stolz gewesen war.

Ich überflog den Bericht über die Ehrung des Sergeants, las über Luftangriffe, Verdunkelungen und die Rettung eines Lebens, ehe ich zu einer Stelle kam, die von größerem Interesse für mich war.

Es hieß, der Sergeant sei 1933 in Ermittlungen über das Verschwinden eines Parlamentsmitgliedes involviert gewesen, und zwar als Verbindungsmann zur Polizei in Inverness.

»Sieh einer an«, entfuhr es mir. »Das heißt, dass Lawrence tatsächlich hier oben war.«

Sofort schrieb ich Robyn eine kurze Nachricht und sagte ihr die erste Folge meiner Sendung für den nächsten Morgen zu.

Es geht darin um jede Menge Nessie-Jäger und um Leute, die nach etwas suchen, was es vielleicht gar nicht gibt.

Sehr gut, schrieb sie sofort zurück. Wo hast du in so kurzer Zeit die Infos her?

Ich wollte nicht verraten, dass man mir geholfen hatte, deshalb antwortete ich nur: Harte Arbeit, wie wohl sonst?

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit meinem Skript und fühlte mich großartig. Ich machte meinen Job, und zwar so gut, dass ich zum ersten Mal seit Langem rundherum zufrieden mit mir war.

Als ich zurück ins Hostel kam, saß dort zu meiner Freude Lucas an der Bar und unterhielt sich angeregt mit Joyce und Bonnie.

»Sie haben meinen Job gerettet, Lucas.« Strahlend setzte ich mich neben ihn. »Und den meiner besten Freundin auch.«

»Tatsächlich?«, fragte er amüsiert. »Normalerweise ruiniere ich Karrieren eher.«

»Der Vorteil, nicht gerade reich zu sein, besteht darin, dass man mit seinem Geld nichts Illegales machen kann«, sagte ich gut gelaunt. »Aber Ihnen würde ich zum Dank für Ihre Mühe gern einen Kaffee spendieren. Oder gern auch ein zweites Bier.«

»Ein Kaffee wäre wunderbar.«

Als Joyce den Kaffee machen ging, sah Lucas auf sein Smartphone und erinnerte mich mit seinem langen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haar wieder einmal an einen Wikinger. Ich stellte mir Charlie vor. Er ging so gut wie jeden Tag trainieren, aber trotzdem wirkte er eher groß und hager neben dem muskulösen Lucas.

»Also, was haben Sie herausgefunden?«, fragte er und sah von seinem Smartphone auf.

Enthusiastisch erzählte ich von dem Sergeant, dessen Personalakte ich eingesehen hatte, und davon, dass Lawrence wirklich hier gewesen war.

»Möglicherweise hat damals jemand Lawrence einen Tipp gegeben, dass Hannah am Loch Ness gesichtet wurde, und er war ihretwegen hier?«

»Und dann hat Hannah ihn verschwinden lassen.«

»Auf keinen Fall!« Ich blätterte noch mal in meinen Aufzeichnungen und fügte etwas kleinlaut hinzu: »Ich hoffe nicht.«

»Das würde bedeuten, es sieht nicht gut für Hannah aus.«

»Seien Sie still!«

Er grinste breit. »Und all das ist passiert, während der Ort voll von Nessie-Jägern war.«

»Am besten konzentriere ich mich erst mal auf die Tatsache, dass zum Zeitpunkt des Verschwindens auch das Ungeheuer im See zum ersten Mal gesehen wurde. Ich fange für die erste Folge die besondere Atmosphäre ein, die zu der Zeit hier geherrscht hat. Zum Beispiel gab es damals im Lokalblatt eine eigene Kolumne, in der ausführlich das Leben hier in Drumnadrochit geschildert wurde. Es scheint, als ob die Nessie-Touristen alle hier waren.«

Ich wandte mich an Joyce, die inzwischen mit dem Kaffee zurückgekommen war. Sie sagte: »Damals war dies noch ein ziemlich schickes Hotel. Auch meine Mutter, damals noch ein junges Mädchen vom Land, war hier als Zimmermädchen tätig.«

»Vielleicht haben ja die Wetherbys auch hier gewohnt, und Ihre Mutter ist ihnen begegnet?«, fragte ich mit hoffnungsvoller Stimme.

»Das könnte durchaus sein. Das Dorf war damals winzig und dies das einzige Hotel. Bevor der Irrsinn mit dem Ungeheuer losging ...«

»Was für eine aufregende Zeit das hier gewesen sein muss.«

»Dann zeigen Sie mir die Kolumne doch mal«, bat Lucas mich. »Was steht denn drin?«