21

Hannah

1933

Auf dem Weg nach Inverness erzählte Angus amüsante Anekdoten von den Leuten in der Redaktion und ahmte seinen Redakteur und die Kollegen aus dem Sportressort so treffend nach, dass ich vor lauter Lachen Bauchschmerzen bekam.

»Wie können Sie so etwas Lustiges erzählen und nebenher noch Auto fahren?«, fragte ich beeindruckt, und er grinste breit.

»Als ich beim Herald angefangen habe, war mein Redakteur ein Mann namens Fergus, der zwar einen Wagen hatte, aber sich nicht traute, ihn zu fahren. Also habe ich mir selbst das Fahren beigebracht und ihn chauffiert, damit er mich bemerkt.«

»Das war ein kluger Schachzug«, lobte ich. »Sie sind anscheinend skrupelloser, als ich dachte.«

Obwohl Angus weiter auf die Straße blickte, sah ich sein zufriedenes Lächeln.

»Können Sie Auto fahren?«

Ich schüttelte den Kopf. »In London war das nicht erforderlich. Ich bin dort immer …« Beinahe wäre mir herausgerutscht, dass ich dort häufig Lawries Chauffeur gerufen hatte. »Ich habe dort immer die Tube oder den Bus genommen«, sagte ich lahm.

Angus sah mich reglos von der Seite an, und um die Stille zu durchbrechen, wechselte ich übertrieben gut gelaunt das Thema.

»Ich kann es kaum erwarten, mir die Dunkelkammer anzusehen. Für mich ist Fotografie die reinste Zauberei.«

»Das ist sie auch«, stimmte er mir zu. »Und es ist wunderbar zu sehen, wie ein Bild auf dem Papier erscheint.«

Bei unserer Ankunft leerte sich die Redaktion bereits, und es war niemand mehr da, der die Dunkelkammer nutzen wollte.

»Wir haben alle Zeit der Welt«, erklärte Angus mir und öffnete die Tür.

Der Raum war klein, doch mit so interessanten Gegenständen vollgepackt, dass ich nicht wusste, was ich mir zuerst ansehen sollte.

Es gab Regale voller Flaschen mit diversen Chemikalien, eine Spüle und verschiedene Arbeitstische voller Töpfe und Tabletts. Dazu war eine Art Wäscheleine durch den Raum gespannt, an der zahlreiche Fotos hingen. Das Fenster hatte einen schwarzen Anstrich und war zusätzlich mit einem dicken Wollvorhang verhängt, durch den nicht mal der allerkleinste Lichtstrahl drang.

Angus schaltete die Deckenlampe ein und sah mich fragend an. »Haben Sie Ihren Film dabei? Wenn wir uns an die Arbeit machen, schalte ich das Rotlicht ein.«

Ich hatte jede Menge Bilder von den Touristen im Hotel gemacht und überreichte ihm den vollen Film.

»In Ordnung«, meinte er. »Damit wir den entwickeln können, muss es dunkel sein.«

Mit diesen Worten löschte er das Licht, und alles um mich herum wurde schwarz. Ich spürte deutlich, wo Angus stand. Ich konnte seinen Atem hören und die Wärme seines Körpers fühlen und nahm ihn stärker wahr als zuvor. Im Gegensatz zu Lawrie, der sich wie ein Schmetterling nur kurz in meiner Nähe hatte ausruhen wollen, bevor er weiterflog, war Angus durch und durch real und unglaublich präsent.

»Hier, fühlen Sie«, bat er mich und tastete nach meiner Hand. »Nehmen Sie die Enden Ihres Films und ziehen Sie ihn auseinander.«

Obwohl ich ihn immer noch nicht wieder sehen konnte, wusste ich, dass Angus direkt vor mir stand. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht, ich roch sein Aftershave, und seine Finger lagen warm auf meiner Hand.

»Verstanden?«, fragte er.

Ich räusperte mich leise. »Ja.«

»Sehr gut.«

Er machte einen Schritt zurück, und mir kam es so vor, als wehe plötzlich ein kalter Luftzug durch den dunklen Raum. Dann ging das Rotlicht an, ich konnte Angus wieder sehen, und als sich unsere Blicke trafen, breitete sich ein erregtes Kribbeln in mir aus. Ich mochte diesen Mann. Nicht so wie Lawrie, voll Bewunderung und Dankbarkeit und Pflichtgefühl. Das hier war etwas völlig anderes.

»Bereit?«

Obwohl ich keine Ahnung hatte, was er meinte, nickte ich. »Bereit.«

Er nahm den Film, und ich beobachtete fasziniert, wie er ihn in unterschiedliche Schalen tauchte und durch Chemikalien zog, die für die Entwicklung meiner Aufnahmen notwendig waren. Ich wollte von ihm wissen, ob die Chemikalien nicht gefährlich waren.

»Ich würde sie nicht unbedingt trinken«, antwortete er. »Aber die erste Flüssigkeit, wie man problemlos riechen kann, ist nur Essig. Und jetzt ordentlich schütteln, ja, genau.«

Ich schnupperte und stellte fest, er hatte recht. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Jetzt spülen wir den Film ab und hängen ihn zum Trocknen auf.«

»So wie man es mit seiner Wäsche macht.«

»Genau.«

Statt wie erwartet an die Leine hängte er den Film in einen Schrank.

»Ist das der Wäscheschrank?«, hakte ich scherzhaft nach.

»Genau. Dort ist ein Ventilator eingebaut, damit die Trocknung schneller geht.«

»Und wie lange müssen wir jetzt warten?«

»Vielleicht eine Viertelstunde. Falls Sie sich langweilen, können wir uns gerne draußen einen Tee holen«, bot er an und zeigte auf die Tür.

Ich schüttelte den Kopf und legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich bleibe lieber hier. Erzählen Sie mir doch schon mal, wie es weitergeht.«

Er räumte die benutzten Chemikalien fort, und dann setzten wir uns auf die Arbeitsplatte und lehnten uns gegen die Wand.

»Die nächsten Arbeitsschritte sind die besten.« Er erklärte mir, wie man die Negative auf Metallplatten befestigte, um sie in der Zeitung abzudrucken. Obwohl mich das alles sehr interessierte, konnte ich mich nicht konzentrieren, denn seine Hand lag so nah neben meiner auf dem Tisch, dass sich unsere kleinen Finger fast berührten. Und dann saßen wir plötzlich mit ineinander verschränkten Händen da. Ich wusste nicht, ob Angus meine Hand ergriffen hatte oder ich die seine, aber die Berührung fühlte sich gut an.

»Und was ist mit den Abzügen?«, erkundigte ich mich und hörte selbst, dass meine Stimme etwas höher klang als gewöhnlich. »Mrs M will nämlich ein paar Bilder rahmen und aufhängen.«

»Die Abzüge sind noch mal etwas anderes …«, fing Angus an. Inzwischen konnte ich auch sein Bein und die Schulter an meinem Körper spüren, und ich atmete tief ein.

»Angus«, fiel ich ihm ins Wort.

Er wandte sich mir zu, und dank des Rotlichts nahm ich seine scharf geschnittenen Züge überdeutlich wahr. »Ich bin sehr gern mit Ihnen hier …«

Bevor ich meinen Satz beenden konnte, küsste er mich auf den Mund, und ich erwiderte den Kuss voller Leidenschaft. Es war erstaunlich. Alle Nerven meines Körpers schienen zu vibrieren, und ich spürte, dass sich Küssen genau so anfühlen musste. Jetzt verstand ich, warum der arme Lawrie derart unglücklich gewesen war. Bestimmt hatte Freddie ähnlich warme, wohlige Gefühle in ihm wachgerufen.

Dann fiel mir wieder ein, dass ich offiziell noch immer Lawries Frau war, ich sah die Geschehnisse in meiner Hochzeitsnacht wieder vor mir und wusste, dass es für mich um so viel mehr ging als um das wilde Klopfen meines Herzens und das Glück, das ich bei diesem Kuss empfand. Widerstrebend machte ich mich von ihm los.

»Ich kann nicht …«

Angus riss die Augen auf. »Es tut mir leid. Ich hätte nicht …«

»O nein! Ich möchte nicht, dass es dir leidtut, es war sogar sehr schön.« Ich drückte traurig seine Hand. »Es ist nur so …« Ich atmete tief durch. »Ich bin verheiratet.«

Er rutschte von der Arbeitsplatte und sah mich verwundert an. »Du bist verheiratet?«

»Das war ich jedenfalls. Ich dachte kurz, dass er gestorben sei, doch das war alles ein großes Missverständnis, und ich bin noch immer seine Frau.«

Er streckte abwehrend die Hände aus. »Ich weiß, was du mir sagen willst. Du bist die Frau von Lawrence Wetherby?«

Ich starrte ihn entgeistert an. »Woher …«

»Wir Journalisten sind nun einmal krankhaft neugierig. Du heißt Hannah und hast mich nach diesem Lawrence ausgefragt. Der Rückschluss liegt doch nahe.«

»Aber warum hast du das bisher mit keinem Wort erwähnt?«

»Ich bin erst vor zwei Tagen draufgekommen, als du meintest, dass du dein Foto nicht in der Zeitung sehen willst.« Er runzelte die Stirn. »Weswegen bist du weggelaufen? Hat dein Mann dir wehgetan?«

»Nein, zumindest nicht körperlich. Ich fühlte mich von ihm erniedrigt, auch wenn das nicht seine Absicht war.«

Angus setzte sich wieder auf den Tisch, diesmal mit etwas Abstand zu mir.

»Erzähl mir alles ganz genau.«

Ich sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Und woher weiß ich, dass ich dir vertrauen kann?«

»Natürlich kannst du mir vertrauen.«

»Ich weiß, dass wir … befreundet sind. Aber ich muss wissen, dass du niemandem von dieser Angelegenheit erzählst, denn dabei steht für mich und Lawrie einfach zu viel auf dem Spiel. Und du hast selbst gesagt, du wärst sehr neugierig.«

»Ich schwöre dir, die Angelegenheit bleibt unter uns.«

Und während ich mich noch fragte, ob ich den Verstand verloren hatte, weil ich eine so pikante Geschichte einem Journalisten anvertraute, begann ich von meiner Hochzeitsnacht zu erzählen. Um Lawrie zu beschützen, machte ich Freddie abermals zu einer Frau.

»Du dachtest wirklich, dass er nicht mehr lebt?«

»Ich dachte wirklich, dass er nicht mehr lebt.«

»Und du hast nicht nach seinem Puls gefühlt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich war vor Schreck wie gelähmt und hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Und Lawries … Geliebte … hat behauptet, er sei tot.«

Ich hätte Angus nicht gestatten sollen, meine Hand zu nehmen, aber die Berührung tat mir einfach gut.

»Das alles ist nicht deine Schuld, Hannah.«

»Aber so fühlt es sich für mich an.«

»Aber ich verstehe nicht, warum du noch hier bist«, sagte Angus. »Warum bist du nicht nach London zurückgekehrt, nachdem du wusstest, dass er lebt.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Das ist alles nicht so einfach, wie du denkst.«

»Weil er eine Geliebte hat?«

»Deshalb, ja. Und aus anderen Gründen«, wich ich aus und wünschte mir, ich könnte noch unendlich lange Hand in Hand mit Angus auf der Arbeitsplatte sitzen bleiben. »Bei dieser Sache steht viel auf dem Spiel.«

»Sprichst du von Geld?«

»Von Geld und Lawries Ruf.« Mit einem Seufzer fügte ich hinzu: »Die Wetherbys sind nicht wie du und ich, Angus. Wenn diese Leute einen Raum betreten, gibt es immer irgendjemanden, der ihnen die Tür aufhält. Die Dinge laufen einfach so, wie sie es wollen.« Mit rauer Stimme fügte ich hinzu: »Lawrie ist ein netter Mensch. Freundlich, klug und lustig, aber …. jemand hat mir mal gesagt, er sei rücksichtslos. Das stimmt. Aber das ist er nur, weil er nie gelernt hat, Rücksicht zu nehmen.«

Als Angus nickte, fuhr ich fort: »Wogegen Lawries Bruder Simon ein ganz anderes Kaliber ist. Er ist verbittert, arrogant, und er nutzt seine Privilegien, um jedem, der ihm im Weg steht, wehzutun.«

»Und du stehst ihm im Weg?«

Ich verzog unglücklich das Gesicht. »Das tue ich.«

»Und warum fährst du nicht zurück nach London und stellst dich dem Bruder zusammen mit Lawrie weiter in den Weg?«

»Das geht nicht. Dafür ist es jetzt zu spät.«

»Und du hast keine Angst, dass sie dich aufspüren könnten und zwingen heimzukehren?«

»Ein wenig schon. Deshalb will ich ja auch nicht, dass jemand erfährt, wo ich bin.«

Er sah mich forschend an. »Aber du siehst nicht aus, als würdest du dir Sorgen machen.«

»Für Lawrie ist es besser, wenn ich nicht in London bin. So kommt er an sein Erbe und kann weiterhin tun und lassen, was er will«, gab ich mit einem schmalen Lächeln zu.

Ich überlegte, ob ich ihm auch etwas von den Bildern erzählen sollte, aber dann sagte ich nur: »Ich habe etwas mitgebracht, von dem er sicherlich nicht will, dass jemand es sieht. Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.«

»Erzähl mir, was es ist«, bat Angus mich, und seine Augen blitzten neugierig.

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist zu kompliziert.«

Er sah mich lange an und sagte schließlich: »Warum schreibst du nicht über diese Geschichte?«

»Auf keinen Fall!«

»Im Ernst, das solltest du. Bevor es jemand anderes tut.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte ich und schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht, dass jemand weiß, dass ich hier im Norden bin.«

»Früher oder später wird jemand herausfinden, wer du bist. Und selbst, wenn du noch einmal weiterziehen würdest, könnte man dich aufspüren und es deinem Mann erzählen. Vor allem ist die Geschichte wirklich gut, Hannah. Die Leute würden sie lesen wollen. Sie würden wissen wollen, warum die Braut von Lawrence Wetherby – der vielleicht irgendwann Premierminister wird – gezwungen war, als Zimmermädchen in einem Hotel zu arbeiten.«

»Ich musste dort nicht arbeiten«, erklärte ich erbost.

»Wenn du diese Geschichte selbst erzählst, hast du auch die Kontrolle über sie. Dann kannst du selbst bestimmen, was die Außenwelt erfährt.«

»Hör auf.« Ich glitt von der Arbeitsplatte. »Dies ist mein Leben, Angus, und das Leben meines Mannes, und du hast keine Ahnung, was bei dieser Sache auf dem Spiel steht.«

»Dann sag es mir.«

»Damit du alles aufschreibst und dazu benutzt, diese schicke Stelle in Edinburgh zu bekommen?«, fuhr ich ihn an. »Ich glaube nicht.« Ich blickte Richtung Tür und sagte: »Ich sollte langsam gehen.«

Jetzt sprang er ebenfalls vom Tisch und packte meine Hand. »Geh nicht. Es tut mir leid. Ich hätte mich nicht so hinreißen lassen sollen.«

»Tatsächlich gibt es im Leben Dinge, die wichtiger sind als eine gute Geschichte«, fuhr ich ihn an, blieb aber stehen.

Wir sahen einander an, und lachend sagte er: »Du bist die mutigste Person, die mir in meinem ganzen Leben je begegnet ist.«

»Ich bin nicht mutig«, widersprach ich ihm. »Kaum wurde es etwas schwierig, habe ich die Beine in die Hand genommen und bin weggerannt.«

»Auch dafür braucht es Mut.« Seine Miene wurde weich. »Es tut mir leid, dass Lawrence dich betrogen und in deiner Hochzeitsnacht erniedrigt hat.«

»Es tat mir leid, als es passiert ist, aber jetzt nicht mehr.«

»Das muss doch grauenhaft für dich gewesen sein.«

»Als ich ins Zimmer kam und sie dort sah, war ich schockiert, verlegen und völlig durcheinander«, gab ich zu und spürte, wie mir eine heiße Röte in die Wangen stieg. »Aber Lawrie … Lawrie wollte nicht, dass das passiert.«

»Tatsächlich nicht?«, fragte mich Angus misstrauisch. »Heißt das, dass du ihm sein Verhalten nicht mehr übel nimmst?«

Ich schüttelte den Kopf. »Obwohl ich inzwischen weiß, dass Lawrie lebt, habe ich das Grauen, als er plötzlich auf dem Boden lag, und meine Schuldgefühle noch nicht völlig überwunden, deshalb kann ich ihm einfach nicht böse sein.«

Angus runzelte die Stirn und dachte nach. »Und Lawrie brauchte eine Ehefrau, damit er an sein Erbe kommt? Aber nicht zwingend dich?«

»Natürlich nicht. Ich kannte seinen Vater nicht, aber nach allem, was ich über ihn gehört habe, hätte er sich wohl eine andere Frau für seinen Sohn gewünscht.«

»Und warum hat er dann nicht einfach diese andere Frau geheiratet?«

Ich starrte ihn verwundert an. »Die andere Frau?«

»Na, die Frau aus dem Hotelzimmer!«, rief er und lachte auf. »Die Frau, mit der er dich betrogen hat.«

»Ach, die.« Ich wich seinem Blick aus und sagte vage: »Wie gesagt, das ist alles furchtbar kompliziert.«