1933
Dienstag, 9. Mai 1933
Dunkelheit in Drumnadrochit
Von Ann O’Shawn
Die ausgelassene Atmosphäre im Hotel hält weiter an. Noch immer spielt die halbe Nacht Musik, noch immer fließt der Alkohol in Strömen, und noch immer gehen die Gäste täglich auf die Jagd nach dem inzwischen landesweit berühmten Ungeheuer von Loch Ness.
Doch hinter all der guten Laune lauert etwas Dunkles, denn urplötzlich ist die Suche nach dem Ungeheuer nicht mehr nur ein harmloses Vergnügen, sondern eine echte Jagd.
Die allgemeine Anspannung nimmt zu, und was hat diesen Wandel ausgelöst?
Das liebe Geld.
Der reiche Unternehmer Joseph Fox wiederholte sein Angebot, dass er dem Ersten, der beweist, dass dieses Ungeheuer wirklich existiert, persönlich 20.000 Pfund bezahlt.
Nur leider hat die Sache einen Haken: Das Ungeheuer soll eingefangen und in den Zoo nach London gebracht werden.
Aus diesem Grund sind einige der einfallsreichen Touristen – wie etwa die Männer, die am Ufer Fußabdrücke platzierten, oder der Arzt, der eine gefälschte Aufnahme der Bestie verbreitete – inzwischen wieder heimgekehrt. Das Personal des Drum Hotels ist aufgeweckt, ihm entgeht kaum etwas.
Inzwischen aber hat die Aussicht auf das Geld die ernsthafteren Jäger an den See gelockt. Die Londoner Daily Mail hat einen Großwildjäger hierhergeschickt, für den die Suche nach dem Ungeheuer von Loch Ness nicht nur ein Abenteuer oder der Stoff für eine lustige Geschichte ist.
Seit so viel Geld auf dem Spiel steht und die Männer statt mit Kameras mit Harpunen auf den See fahren, ist es mit dem Spaß am Loch Ness vorbei.
»Davina, hast du mein Notizbuch gesehen?«, erkundigte ich mich.
Zu meiner Freude würden wir endlich ins Hotel zurückziehen. Die meisten Ungeheuer-Touristen waren abgereist, dennoch mussten Davina und ich uns mein kleines Zimmer in der obersten Etage teilen.
Es machte mir nichts aus, den Raum zu teilen, aber als wir unsere Sachen packten, konnte ich nicht alles finden, und das machte mich nervös.
»Wo soll ich das denn gesehen haben? Ich habe deine Schürze neben meiner auf das Bett gelegt, weiter nichts.«
»Und davon abgesehen warst du nicht an meinen Sachen?« Ich wagte kaum zu fragen, weil Davina ziemlich aufbrausend und schnell beleidigt war.
»Warum hätte ich an deine Sachen gehen sollen? Dein Krempel interessiert mich nicht.«
Da hatten wir es.
»Es ist nur ein Notizbuch. Vielleicht habe ich es irgendwo vergessen«, sagte ich beschwichtigend, obwohl ich nicht recht daran glaubte. Ich wusste nicht mehr genau, wo ich es zum letzten Mal gesehen hatte. Ich hatte darin die Geschichten festgehalten, die das Personal sich an den Sonntagabenden in der Bar erzählte, ehe diese schöne Tradition nach der Ankunft all der Touristen eingeschlafen war.
Ich tastete in meiner Schürzentasche nach dem anderen Notizbuch, in dem ich als Ann O’Shawn die Texte über unsere Gäste schrieb. Zum Glück war es noch da. Ich ließ es niemals aus den Augen, damit niemand sähe, dass ich die Verfasserin der Artikel war. Genau wie meine Tätigkeit als Journalistin liebte ich auch die Arbeit im Hotel und wollte sie nicht verlieren.
»Na los.« Davina nahm ihre Sachen auf die Arme und ging Richtung Tür. »Dann schleppen wir das Zeug jetzt erst mal ins Hotel zurück.«
»Bin sofort da.«
Sie verließ das Zimmer, und ich beäugte kritisch meine Sachen auf dem Bett. Ob ich die wohl in einem Schwung ins Haus bekäme? Wenn ich alles in die Reisetasche packte, mit der ich aus London hergekommen war, würde es gehen.
Ich bückte mich nach dem Gepäckstück, aber es lag nicht mehr unter meinem Bett.
Das war seltsam, denn noch am Morgen hatte ich die Tasche mit dem Fuß ein Stück zurückgeschoben, als sie mir im Weg gewesen war. Ich legte mich bäuchlings auf den Boden, um zu schauen, ob ich sie vielleicht eine Spur zu weit nach hinten geschoben hatte. Das Feldbett war so niedrig, dass ich kaum darunter passte, doch entschlossen quetschte ich mich unter die Matratze, blickte mich um und stellte fest, dass meine Tasche dort nicht lag. Bevor ich mich mühsam wieder unter dem Bett hervorrobben konnte, trat jemand durch die Tür.
Das konnte nur Davina oder eins der Mädchen sein, die mit uns in diesem Raum geschlafen hatten, doch dann sah ich von meinem Versteck unter dem Bett aus einen … blank geputzten Männerschuh.
Die Ungeheuer-Touristen trugen alle Gummistiefel, und Tobias’ abgetretene Schuhe hätten niemals so geglänzt. Reglos blieb ich liegen und wartete ab.
Der Mann ging durch den Raum, ließ etwas auf den Boden fallen und schob es mit dem Fuß unter mein Bett. Ich riss die Augen auf und unterdrückte einen Aufschrei.
Tatsächlich hatte dieser Kerl meine Reisetasche wieder zurückgebracht. Ich streckte meine feuchten Hände danach aus, doch erst, nachdem der Unbekannte das Zimmer verlassen hatte, schob ich mich wieder unter dem Bett hervor und lief zum Fenster, um zu gucken, ob ich ihn erkennen konnte. Anscheinend war der Mann jedoch im Wald verschwunden, denn ich konnte ihn auf dem Weg zum Hotel nirgends sehen.
Verwirrt ging ich zum Bett, wo meine Tasche lag, und zog sie auf. Tatsächlich lag dort das Notizbuch. Aber weshalb hätte jemand meine Tasche stehlen und dann wiederbringen sollen? Vielleicht war alles nur ein Missverständnis, oder vielleicht hatte sich ein Gast einen dummen Scherz mit mir erlaubt?
Auf jeden Fall war nichts passiert, und ich versuchte, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln. Ich legte meine Tasche auf das Bett, und während ich packte, fiel mein Blick auf den Gepäckanhänger, der zwar nicht meinen Namen, aber meine neuen Initialen trug. Ich hatte diesen Anhänger von Tante Beatrice bekommen, als ich Lawrence’ Frau geworden war, und musste einfach hoffen, dass sie dem unbekannten Mann nicht aufgefallen waren. Und selbst, wenn sein Blick darauf gefallen wäre, hätte er nicht wissen können, dass sich hinter diesen Initialen Hannah Wetherby verbarg.
Der Einzige, der diesen Schluss vielleicht gezogen hätte, wäre Lawrence …
Zu beiden würde die Art von handgenähten Schuhen passen, wie ich sie aus meinem Versteck heraus gesehen hatte.
»Reiß dich zusammen, Hannah«, wies ich mich mit lauter Stimme an. »Du machst dich lächerlich.«
Ich löste den Anhänger mit den Initialen vom Griff und stopfte ihn in meine Schürzentasche. Ich würde ihn später verbrennen, wenn es niemand sah. Dann packte ich den Rest meiner Sachen ein und wandte mich zum Gehen. Ich hatte keinen Grund, derart nervös zu sein. Nicht den allerkleinsten Grund.
*
Ich nahm den Pfad zum Hotel hinüber, als eine Stimme mich zusammenfahren ließ.
»Hannah?«
Ich fuhr herum.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Mein Herz schlug mir vor Schreck, vor Freude und Verlegenheit bis zum Hals, weil ich an mein letztes Treffen mit Angus dachte, an unseren Kuss …
»Ich war heute hier und habe diesen Großwildjäger Webster interviewt und wollte fragen, ob ich deinen neuesten Film mitnehmen soll.«
»Warst du im Wald?«, erkundigte ich mich. Seine Schuhe glichen denjenigen, die der Unbekannte in meinem Zimmer getragen hatte. »Hast du dort jemanden gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich war mit Webster und seiner Crew am See.«
»Und du hast dort niemanden in einer Anzughose und mit frisch geputzten, handgenähten Schuhen gesehen?«
»Nein. Geht es dir gut, Hannah?«
»Natürlich«, log ich. Dann holte ich tief Luft, riss mich zusammen und sagte lächelnd: »Schön, dich zu sehen.«
»Das finde ich auch.« Er legte kurz die Hand auf meinen Arm. »Es freut mich, dass wir weiter Freunde sind.«
»Mich auch.«
Wir lächelten einander an, und mir ging der Gedanke durch den Kopf, wie ungerecht das Leben war. Wieso hatte ich nicht Angus kennenlernen können, ehe Lawrie mir begegnet war?
»Wie sieht es aus, hast du einen vollen Film für mich?«
»O ja.« Ich stellte meine Reisetasche ab, und als ich in den Seitentaschen nach der kleinen Dose suchte, nutzte ich die Chance, mir Angus’ Schuhe noch mal aus der Nähe anzusehen.
Warum nur war ich derart aufgeregt? Das war doch nur Angus. Weshalb hätte er mir meine Tasche stehlen sollen?
Männerschuhe sahen in meinen Augen alle ähnlich aus, ich erinnerte mich nicht an Details der Schuhe des Unbekannten.
Dann hatte ich den Film gefunden, richtete mich wieder auf und drückte ihm die Dose in die Hand. »Darauf sind jede Menge Bilder von den neuen Leuten, auch von dem Großwildjäger und seinem Trupp. Sie haben Harpunen mitgebracht, hast du gesehen?«
Angus erschauderte. »Das habe ich. Ich verstehe nicht, weswegen jemand dieses Ungeheuer – falls es denn existiert und friedlich ist – zur Strecke bringen will.«
»Glaubst du, es geht dabei um Angst? Denken sie, dass sie das Ungeheuer töten müssen, bevor es ihnen etwas anhaben kann?«
»Aus meiner Sicht geht es dabei eher um Arroganz.« Mit einem Blick auf das Wasser fügte er hinzu: »Um den Beweis, dass man es selbst mit einem riesigen Ungeheuer aufnehmen kann.«
Ich schnaubte. »Solche Männer habe ich in London häufiger erlebt. Sie haben immer recht, sie wissen immer alles besser, sie sind immer schneller, stärker und …«
»… natürlich mächtiger als jeder andere.«
»Genau.« Mit einem Seufzer fügte ich hinzu: »Wobei bereits das Wasser sie in ihre Schranken weist. Erst gestern ist eins der Boote gekentert, und wahrscheinlich wären die Touristen ertrunken, hätten nicht die Männer aus dem Dorf, die gerade in der Nähe angeln waren, sie aus dem See gerettet.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, pflichtete mir Angus leise lachend bei.
»Ich muss jetzt leider los, meine Sachen in mein Zimmer bringen und dann den Speisesaal für das Abendessen eindecken.«
»Ich sollte mich auch allmählich auf den Weg nach Inverness machen.«
Wir sahen uns verlegen an, dann ging ich zum Haus. Ich war mir sicher, dass Angus mir folgen würde, weil sein Wagen auf dem Parkplatz stand, aber er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück zum See.
Mit einem Mal war ich völlig erschöpft und schleppte mich zur Hintertreppe und von dort nach oben in meine kleine Kemenate unter dem Dach.
Die Tür stand offen, und ich nahm an, Davina wäre dort, doch als ich eintrat, war das Zimmer leer, und alle unseren Sachen waren durchwühlt.
Die Bettdecken und Kissen waren auf den Boden gefallen, die Matratzen lagen schief, das Nachtschränkchen war umgekippt, und selbst den Teppich hatte jemand hochgehoben und dann achtlos wieder fallen gelassen.
Ich rang nach Luft und stürzte zum Kamin, um mich zu vergewissern, dass mein Film nicht gestohlen worden war. Er lag noch auf dem Vorsprung – Gott sei Dank. Zitternd sank ich auf mein zerwühltes Bett.
Was war passiert, worauf hatte der Eindringling es abgesehen?
Dann stand mit einem Mal Davina in der Tür, stemmte ihre Hände in die Hüften und sah sich mit großen Augen um. »Was ist denn hier passiert? Hast du hier solche Unordnung gemacht?«
»Das war ich nicht.«
Sie sah mich unter hochgezogenen Brauen hervor an. »Wer soll es denn sonst gewesen sein?«
Mit wurde schlecht. »Ich fürchte, dass das vielleicht Angus war.«