Heute
Der Zug von Inverness nach London ging um acht, daher musste ich schon früh am Morgen aus dem Hostel auschecken. Zumindest hätte ich also noch das ganze Wochenende Zeit, um mich zu erholen. Am Montag sollte ich die Breakfast Show übernehmen und würde bereits in aller Herrgottsfrühe in die Redaktion fahren müssen.
Da mein Zug so früh ging, hatte ich Lucas’ Angebot, mich abends in den Pub zum Essen einzuladen, ausgeschlagen und war schlecht gelaunt ins Bett gegangen, ohne mich richtig von den anderen zu verabschieden.
Ich ließ meinen Rucksack am Empfangstisch auf den Boden fallen. Er war ziemlich leicht, doch mir war umso schwerer ums Herz. Ich hätte den Podcast ordentlich zu Ende bringen sollen – und auch die Sache zwischen Lucas und mir, doch beides war mir nicht gelungen.
»Es tut mir leid, dass Sie nicht bleiben können«, sagte Joyce, als ich ihr meinen Zimmerschlüssel gab. »Aber vielleicht kommen Sie ja bald schon wieder und finden heraus, wie es mit Hannah weiterging.«
»Vielleicht«, gab ich zurück, obwohl inzwischen sicher Charlie auf dem Weg nach Schottland war, um irgendwelche dubiosen Beweise dafür zu finden, dass Hannah Lawrence doch ermordet hatte. Obwohl sie sich erst Jahre nach der angeblichen Bluttat hatten scheiden lassen und sie vollkommen unschuldig war. Wahrscheinlich würde ich ihn in der ersten Klasse sitzen sehen, wenn sein Zug mir auf dem Weg nach Inverness entgegenkam.
»Alles in Ordnung, Scarlett?«, fragte Joyce besorgt.
»Sie sahen für einen Augenblick sehr wütend aus.«
»Ich will nicht weg«, gestand ich ihr.
Sie sah mich unter hochgezogenen Brauen hervor an. »Nicht weg aus Drumnadrochit oder von dem netten Lucas?«
»Beides«, gab ich leicht errötend zu.
Sie tätschelte mir mitfühlend die Hand. »Ich habe das Gefühl, dass das mit Lucas noch nicht vorbei ist, auch wenn Sie erst mal zurück nach London reisen.«
»Vielleicht. Wobei ich erst mal eine richtige Beziehung mit ihm eingehen müsste, ehe ich mir überhaupt über eine Fernbeziehung Gedanken machen sollte.«
»Wie heißt es doch so schön? Sag niemals nie«, versuchte Joyce mich aufzumuntern, als die Standuhr in der Halle schlug.
»Schon sieben Uhr! Ich sollte langsam los.« Mit einem leisen Seufzer hob ich meinen Rucksack auf. »Danke für alles.«
»Dann bis bald.«
»Das hoffe ich.«
Gesenkten Hauptes verließ ich das Hostel und blieb wie erstarrt stehen, als ich im Hof auf Lucas traf. Er hatte sein Red-Dwarf-Shirt an und hielt mir einen Kaffeebecher hin.
»Ich dachte, dass du dich auf der Fahrt nach Inverness über Gesellschaft freuen würdest.«
»Sei ja nicht so nett zu mir«, bat ich und nahm ihm im Vorbeigehen den Becher aus der Hand. »Denn wenn ich anfange zu heulen, wirst du es bereuen.«
»Dann bist du also keine hübsche Heulsuse?«, erkundigte er sich und sah mich von der Seite an.
»Ganz sicher nicht«, sagte ich, plötzlich wieder gut gelaunt, weil er an meiner Seite war. »Ich habe dann verquollene Augen, und meine Nase läuft wie verrückt.«
»Nett.«
Ich lachte auf. »Glaub mir, das würdest du nicht sehen wollen.«
Inzwischen standen wir am Rand der Straße, lehnten uns an eine Mauer und sahen hinunter auf den See.
Nach einem ersten Schluck Kaffee starrte ich den Plastikdeckel des Bechers an. »Vielen Dank, dass du gekommen bist.«
»Ich wollte …« Lucas hielt inne, und als ich ihn fragend ansah, wirkte seine Miene ungewöhnlich ernst. »Ich wollte mich zumindest ordentlich von dir verabschieden.«
»Das ist sehr nett von dir.«
Er stieß mich sanft mit der Schulter an. »Können wir in Kontakt bleiben?«
»Ja, das würde mich freuen.«
»Gut.«
Ich trank den nächsten Schluck Kaffee und sah dem Bus entgegen, der den Weg heraufgerumpelt kam. Ich wollte Lucas sagen, dass ich ihn sehr gern hatte und mehr als in Kontakt bleiben wollte, doch ich wusste nicht, wie ich das formulieren sollte, und vor allem fehlte mir der Mut. Und außerdem war der verdammte Bus gleich da, es wäre also sowieso zu spät.
»Hast du alles?«, fragte er. »Wie sieht’s mit deinem Zugticket aus?«
Ich zog mein Smartphone aus der Tasche und hielt ihm das Bild des Tickets hin. »Hier, Grandad.«
»Augenblick.« Er schaute sich das Bild genauer an. »Heute ist der siebzehnte, nicht wahr?«
Ich sah auf meine Uhr. »Das stimmt.«
»Aber die Fahrkarte ist für den vierundzwanzigsten ausgestellt, du musst also wohl oder übel noch eine Woche bleiben.«
»Was?« Verwundert riss ich ihm mein Smartphone aus der Hand. »O nein, du hast recht!«
Lucas wirkte alles andere als enttäuscht über meine falsche Buchung. »Tja, du kannst leider nicht fahren.«
»Da kennst du Kevin aber schlecht. Er wird mir einfach ein neues Ticket schicken«, widersprach ich ihm und sah noch mal auf meine Uhr. »Obwohl er erst in ein paar Stunden zur Arbeit kommt. Wir könnten also wenigstens noch irgendwo zusammen frühstücken.«
»Das ist besser als nichts«, sagte er, und als der Bus kam, winkte er ihn kurzerhand an uns vorbei. »Das Café hat um diese Zeit schon auf. Wie wäre es mit Rührei und Würstchen?«, schlug er vor.
»Klingt gut.« Ich setzte meinen Rucksack wieder auf und schrieb Robyn, um ihr zu erklären, was geschehen war.
Sie rief mich sofort an, und als ich dran ging, meinte sie: »Bleib, wo du bist.«
Verwundert blieb ich stehen.
»Was meinst du, Robyn?«
»Bleib am Loch Ness«, wies sie mich an. »Das ist ein Zeichen, Scarlett.«
»Allerdings, und zwar dafür, dass jemand bei der Buchung sehr unaufmerksam war.«
»Das meinte ich nicht ...« Robyn klang, als wäre sie den Tränen nah.
»Alles in Ordnung, Rob?«
Schniefend sagte sie: »Es geht mir gut. Das sind nur die Hormone.«
»Wenigstens kann ich mich wieder um dich kümmern, wenn ich zu Hause bin.«
»Aber ich will nicht, dass du kommst!«
»Kevin kommt erst am Dienstag wieder ins Büro, weil er auf irgendeinem Junggesellenabschied ist. Und weißt du noch, als ich Ricks Spesenabrechnung genehmigt habe und er deshalb völlig ausgerastet ist? Er sagte, das zu genehmigen hätte mir nicht zugestanden, obwohl das schon immer Teil meiner Arbeit war. Also …«
»… kann mir niemand eine andere Fahrkarte besorgen?«, führte ich den Satz zu Ende, und als Lucas mich mit einem hoffnungsvollen Blick bedachte, fügte ich hinzu: »Zumindest nicht vor Dienstag. Und schließlich kann man kaum von mir erwarten, selbst eine zu bezahlen.« Das war nicht einmal übertrieben, denn die Tickets waren so kurzfristig sicher alles andere als günstig, und ich hatte meine Kreditkarte auch so schon überstrapaziert.
»Genau«, stimmte mir Robyn triumphierend zu. »Das heißt, du sitzt dort oben erst mal fest. Zumindest für die nächsten Tage, und weil ich die Breakfast Show übernommen habe, habe ich im Augenblick zu viel zu tun, um irgendwas zu redigieren, was du mir schickst …«
»Willst du damit sagen, dass ich meine eigene Sendung machen soll?«
»Genau. Die ersten beiden Folgen waren der Hit, Scarlett. Auf Twitter liegt Loch Ness …«
»… total im Trend, ich weiß.«
»Also musst du unbedingt die dritte Folge machen. Da Kevin nie einen Blick auf unsere Social-Media-Seiten wirft, werden wir dort ankündigen, wann du auf Sendung gehst.«
»Aber was ist mit Quentin Wetherby? Mein Dad sagt, dass er ein paar ziemlich fiese Leute kennt.«
»Die übernehme ich«, mischte Lucas sich ein. »Ich finde etwas, was sich gegen ihn verwenden lässt, es gibt immer irgendwas.«
»Im Ernst?« Ich sah ihn halb entsetzt und halb beeindruckt an.
»Auf jeden Fall.«
»Ich könnte meinen Job verlieren.« Ich sah zum morgendlichen Himmel auf. »Das heißt, ich werde ihn auf jeden Fall verlieren.«
»Dann suchst du dir was Besseres oder machst dich selbstständig. Ich schätze, dass man sich nach dieser Sendung um dich reißen wird.«
Ich starrte ihn nachdenklich an, dann nickte ich. »Warum eigentlich nicht? Ich könnte mir im Grunde gut vorstellen, selbstständig zu sein.«
»Also, was ist jetzt?«, drang Robyns Stimme aus dem Smartphone.
Ich blickte Lucas an, der aufgeregt in seinen Stiefeln wippte, und stieß einen leisen Seufzer aus.
»Okay. Dann werde ich jetzt erst mal weiterrecherchieren. Auch wenn ich nicht versprechen kann, dass es für eine dritte Folge reichen wird ...«
»Aber wie sollen wir die Sendung nennen?«, fragte Robyn und klang schon wieder erschreckend weinerlich. »Burns’ ungelöste Fälle, aber ohne Burns klingt dämlich, also stehen wir jetzt ohne Namen da.«
Auch wenn ihr die Stimmungsschwankungen sicherlich zu schaffen machten, musste ich darüber schmunzeln. »Uns fällt schon etwas ein. Aber nach deiner Sendung fährst du besser erst mal heim und legst dich hin, okay? Ich rufe dich dann später noch mal an.«
Sie schniefte abermals. »Okay. Viel Glück.«
Ich legte auf und wandte mich an Lucas. »Wann musst du zurück nach Edinburgh?«
Er kratzte sich am Bart. »Am Montagnachmittag.«
Ich sah ihn fragend an. »Willst du mir dann vielleicht bei einem Podcast helfen?«
Er stieß sein wunderbares, lautes, volles Lachen aus. »Natürlich will ich das.«
Erleichtert schlang ich ihm die Arme um den Hals. Ich konnte nicht sagen, wie es dazu kam und wer den Anfang machte, aber plötzlich küssten wir uns, und ich nahm das angenehme Kratzen seines Barts auf meiner Haut und den Duft von Kaffee und Zitrone wahr.
Nach einem Moment machten wir uns voneinander los und mussten beide lächeln.
»Das hatte ich so nicht geplant«, sagte er.
»Ich auch nicht, aber ich bin froh, dass es passiert ist«, gab ich unumwunden zu.
Wir blieben noch kurz dicht beieinander stehen, bis ein paar Schülerinnen kamen, sich in unserer Nähe auf die Mauer setzten und anscheinend hofften, dass das Schauspiel weiterging.
»Lasst euch von uns nicht stören«, sagte eins der Mädchen, und die anderen zückten kichernd ihre Smartphones.
Leise sagte ich zu Lucas: »Vielleicht gehen wir besser erst einmal zurück. Ich hoffe nur, dass Joyce mein Zimmer nicht schon einem anderen Gast gegeben hat.«
Noch immer lächelnd nahm er meine Hand. »Ich hoffe fast, dass sie das doch getan hat.«
Vor Aufregung und Glück war mir ein bisschen schwindelig. So hatte ich mich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gefühlt, und es war einfach wunderbar.
Hand in Hand gingen wir die Straße entlang, als Lucas plötzlich sagte: »Das ist für mich schon eine ganze Weile her.«
»Dein letztes Date?«
»Genau. Nach meiner Scheidung war ich jahrelang allein, deshalb bin ich etwas …«
»Nervös? Ich auch. Obwohl Charlie mich nicht betrogen hat, hat es meinem Selbstvertrauen nicht gutgetan, wie schnell er eine andere gefunden hat.«
»Da kann ich dich beruhigen, denn in dieser Hinsicht bin ich alles andere als schnell.«
Ich drückte seine Hand und nahm mit einem wohligen Schaudern wahr, wie er den Händedruck erwiderte. »Dafür verspreche ich, mit keinem anderen zu knutschen, bis du so weit bist.«
»Das klingt nach einem guten Anfang. Einem guten Anfang einer guten Sache«, antwortete er.
Ich blickte lächelnd zu ihm auf, und zärtlich zog er mich zu sich heran. »Am Ende wird es immer gut, nicht wahr?«
Inzwischen waren wir beim Hostel angekommen, und ich sagte: »Hoffentlich hat sich auch für Hannah am Ende alles zum Guten gefügt.«
»Das musst du herausfinden.«
»Wir beide müssen das«, sagte ich. »Schließlich hast du zugesagt, mir zu helfen.«
»Aber vorher muss ich etwas finden, was sich gegen diesen Quentin Wetherby verwenden lässt, und zwar noch heute. Immerhin ist Freitag, und so, wie ich die Kollegen kenne, machen sie gern um zwölf Uhr Schluss.«
Ein Lächeln auf den Lippen, stellte ich mich auf die Zehenspitzen, gab ihm einen Kuss und sagte: »Ich dachte schon, dass du mich einfach meinem Schicksal überlassen willst.«
»Das tue ich leider auch, doch nur für kurze Zeit.«
»Dann treffen wir uns mittags in der Lounge?«
»Perfekt.«
Er schlenderte davon, und mir kam es so vor, als hätten seine Schritte eine neue Leichtigkeit. Dann drehte auch ich mich um und lief beschwingt ins Haus, um wieder in mein altes Zimmer zu ziehen.
*
Zwar hatte Joyce mein Zimmer bereits einem anderen Gast versprochen, aber der war noch nicht eingezogen. Obwohl ich ihr erklärte, dass ich auch ein anderes Zimmer nehmen würde, meinte sie, das WiFi in den anderen freien Räumen sei zu schlecht für einen Podcast, drückte mir den Schlüssel wieder in die Hand und sah mir lächelnd hinterher, als ich nach oben ging. Ich hoffte nur, sie wäre nicht enttäuscht, falls ich am Ende nicht genug Material für eine dritte Folge fände. Aber Robyn hatte recht: Die Story war gut, und einen Versuch wäre es wert.
Ich packte meine Aufzeichnungen, das Aufnahmegerät und meinen Laptop wieder aus und legte alles auf das Bett.
»Okay. Wie fange ich jetzt an?«
Auf meinem Stapel mit Notizen lag der Ausdruck einer der Kolumnen, die von einer gewissen Ann O’Shawn geschrieben worden waren. Die Formulierungen waren so treffend, dass man sich beim Lesen bildlich vorstellen konnte, wie es damals hier gewesen sein musste. Vor allem der Text über das Dunkle hinter dem Vergnügen an der Suche nach dem Ungeheuer hatte mir gefallen, deswegen hatte Joyce ihn für mich ausgedruckt. Warum fing ich nicht einfach damit an? Schließlich ging es hier um einen angeblichen Mord, eine durchaus finstere Angelegenheit.
Ich setzte mich aufs Bett, ordnete die Kissen so, dass ich gemütlich saß, und griff nach meinem Notizbuch, um zumindest einen vorläufigen Plan für die nächste Folge zu erstellen. Ich musste mir notieren, worum es gehen sollte, was ich schon herausgefunden hatte und was es noch zu recherchieren gab.
Zuoberst auf der Seite schrieb ich Hannah Snow ist unschuldig und unterstrich den Satz.
Am besten sollte ich zuerst aus einigen Kolumnen von Ann O’Shawn zitieren. Ich brachte ihren Namen zu Papier, und dabei fiel mir etwas auf.
Ich strich das A in Ann und in Hannah durch. Danach das N und die anderen Buchstaben. Fasziniert starrte ich auf das Papier. Wenn man ein H ausklammerte, war der Name ein Anagramm von Hannah Snow.
»Das ist ja sehr interessant«, murmelte ich.
Hatte nicht in Lawrence’ Testament gestanden, dass das Geld an Hannah gehen sollte, welchen Namen sie auch immer trug? Und hatte sie nicht auf dem Foto der Hotelangestellten auf der Veranda eine Kamera um ihren Hals getragen?
Das hieß, sie war hierhergekommen, hatte sich einen anderen Namen gegeben und heimlich Texte für die Lokalzeitung über die verrückten Nessie-Touristen verfasst, die in das verschlafene Drumnadrochit eingefallen waren.
Sie war unglaublich.
Oder irrte ich mich?
Aus welchem Grund war sie in der Hochzeitsnacht verschwunden, wenn die Scheidung zwischen ihr und Lawrence all die Jahre später offenbar durchaus freundschaftlich und friedlich abgelaufen war? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie grundlos weggelaufen war.
Ich lehnte mich ans Kopfteil meines Betts und schaute blinzelnd auf mein Notizbuch.
Womöglich hatte ihr Verschwinden etwas mit ihrem Schwager zu tun gehabt. Er war es schließlich auch gewesen, der in dem Artikel, den Bonnie im Archiv gefunden hatte, behauptet hatte, Hannah wäre am Loch Ness. Womöglich war sie ja vor ihm geflüchtet. Nachvollziehbar, falls er auch nur halb so fies und ruchlos war wie sein Sohn Quentin.
Jetzt galt es nur noch rauszufinden, was aus Ann O’Shawn geworden war.
@britainLive hat geschrieben:
Fans des Rätsels von Loch Ness, haltet die Augen offen, denn bald erscheint eine neue, aufregende Folge unseres Podcasts, die ihr auf keinen Fall verpassen wollt! #hannahsnow
Freitag, 17. Juni
Verpasster Anruf
Charlie
Freitag, 17. Juni
Charlie hat geschrieben:
Verdammt, Scarlett, was geht ab? Ruf mich gefälligst an.