28

Hannah

1933

Ich ging mit Angus zur Post, und da ich keine Ahnung hatte, wo sich Lawrie aufhielt, gab ich drei Telegramme mit demselben Inhalt auf, einmal an die Adresse in London, einmal an sein Büro im Parlament und zuletzt an das Haus in Sussex. Ich musste einfach hoffen, dass er nicht gerade im Ausland war.

Da Telegramme teuer waren, fasste ich mich kurz, und die Postmeisterin gab eilig meine Nachricht durch:

In Drumnadrochit. Simon hier. Bitte komm. Schick Ankunftszeit.

Dann warteten wir auf die Antwort meines Mannes. Während sich Angus an die Wand des Postgebäudes lehnte und nervös mit einem Fuß wippte, lief ich aufgeregt den Gehweg auf und ab.

»Und er wird sicher wissen, was du damit meinst?«, fragte er mich zum wiederholten Mal.

»Er wird es schon verstehen«, antwortete ich und hoffte nur, es wäre so. Doch Lawrie war nicht dumm, und da er ein Büro voller Mitarbeiter hatte, die die Reise für ihn buchen konnten, hoffte ich, er käme möglichst schnell – denn ganz alleine würde ich mit Simon sicher nicht zurechtkommen.

Dann rief die Postangestellte von drinnen: »Sie haben eine Antwort!«, und ich blickte Angus angespannt an.

»Was schreibt er denn?«, rief ich zurück.

»›Nehme den Nachtzug.‹«

»Gott sei Dank.« Ich blickte auf die Uhr, die außen an dem Postgebäude hing, und wandte mich mit einem Seufzer Angus zu. »Meinst du, dass er es schafft, bevor ich mich mit Simon treffen muss?«

»Wahrscheinlich wird es ziemlich knapp, aber ich denke schon.«

»Gut, dass ich heute Abend arbeite. Da bin ich wenigstens abgelenkt.«

»Ich auch. Ich muss zurück nach Inverness und den Artikel über diesen Großwildjäger schreiben.«

»Oh, da fällt mir etwas ein. Ich wollte dir noch erzählen, dass er Simon kennt. Die beiden waren zusammen auf dem Internat, und Webster hält ihn für einen Sadisten.«

»Mir hat er auch erzählt, er hätte dort die Hölle durchgemacht.«

»Ich denke, das war Simons Schuld.«

»Er scheint ein wirklich schlechter Mensch zu sein.«

»Für mich sieht es auf jeden Fall so aus.«

»Ich könnte ihn ja auch mal porträtieren«, schlug Angus augenzwinkernd vor. Dann nahm er mich ein wenig unbeholfen in den Arm und meinte: »Also, dann bis morgen früh.«

»Bis dann«, erwiderte ich lächelnd, und er drückte mir die Hand.

»Es wird sich alles fügen. Du wirst sehen.«

*

Doch leider fügten sich die Dinge nicht.

Wegen der Arbeit war ich erst nach Mitternacht ins Bett gekommen und wachte am nächsten Morgen nach Davina auf. Als ich die Augen aufschlug, saß sie auf ihrem Bett und sah mich seltsam an.

Ich blinzelte und richtete mich eilig auf. »Was ist?«

»Als Erstes wollte ich dir sagen, dass ich niemals wollte, dass so was passiert«, fing sie mit leiser Stimme an, und plötzlich ahnte ich, weshalb sie derart kleinlaut war.

»Du hast Simon Wetherby verraten, wo ich bin, und jetzt tut es dir leid, dass er mich gefunden hat? Was hast du denn gedacht, was er mit dieser Information macht?«

»Darüber habe ich im Grunde gar nicht nachgedacht«, gab sie verlegen zu.

»Ach was.« Obwohl mein Nachthemd mich bestimmt alles andere als bedrohlich wirken ließ, war mir sicher anzusehen, wie erbost ich war.

Zum ersten Mal, seit ich Davina kannte, wirkte sie aufrichtig beschämt. »Ich habe nur an die hundert Pfund gedacht, die er mir angeboten hat.«

»Und, fühlt es sich gut an, mich verraten zu haben?«

»Ich dachte, dass ich mich dann endlich sicher fühlen würde«, gab sie widerstrebend zu.

Ich zog die Knie an, und gegen meinen Willen tat sie mir leid. »Aber du hast doch eine Arbeit und ein Dach über dem Kopf.«

»Beides kann man im Handumdrehen verlieren. Das habe ich dir doch erzählt.« Urplötzlich sah sie verärgert aus. »Du weißt doch selbst, wie das ist, schließlich standest du urplötzlich ohne Eltern da.«

»Das stimmt.« Mit einem leisen Seufzer fügte ich hinzu: »Ich kann dich ja verstehen, aber genauso kannst du sicher nachvollziehen, dass ich sauer auf dich bin.«

»Bestimmt wirst du noch wütender, wenn du auch noch den Rest erfährst.«

Ich sah sie ängstlich an. »Den Rest?«

»Ich habe gestern Mittag im Speisesaal bedient, und dann kam plötzlich Mr Wetherby und war entsetzlich aufgeregt.«

Ich nickte schlecht gelaunt. »Ich weiß, ich habe ihn auch gesehen.«

»Ich hatte ihn mir völlig anders vorgestellt. Er war betrunken und sah so abgerissen aus, als hätte er im Wald geschlafen.«

Ich nickte abermals.

»Er sagte, dass ich dich nicht mehr aus den Augen lassen darf.«

»Ach was.«

Davina warf sich unglücklich die Hände vor das Gesicht. »Er war so laut, dass jeder mitbekommen hat, worum es ging.«

Obwohl ich mir die Antwort schon denken konnte, fragte ich: »Dann wart ihr beiden also nicht allein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Zum Beispiel war da auch noch Matthew Clayton, dieser Kerl, der für den Daily Mirror schreibt.«

Ich kniff die Augen zusammen.

»Er kannte Mr Wetherby«, fuhr sie verzweifelt fort. »Ich wollte deinen Schwager ja nach draußen lotsen, aber er hat rumgeschrien, dass keine Wetherby es nötig habe, als Zimmermädchen zu arbeiten, und als er das gesagt hat, verstummten plötzlich alle anderen Gespräche. Die Leute saßen mit gespitzten Ohren da, und dann hat Mr Clayton sein Notizbuch aufgeklappt und Mr Wetherby gefragt, ob er ihn auf einen Drink in die Bar einladen dürfe. Und keine Stunde später hat er Mrs M gefragt, ob er ihr Telefon benutzen kann. Und jetzt –« Den Tränen nahe brach sie ab.

»Und jetzt?«, fuhr ich sie ungehalten an.

»Guck selbst.«

Sie zog den Daily Mirror unter ihrer Bettdecke hervor und hielt ihn so, dass ich den Titel auf der ersten Seite sah. Vermisste Frau von Parlamentsmitglied arbeitet als Zimmermädchen am Loch Ness.

Entgeistert starrte ich Davina an. »Und was steht sonst noch in dem Artikel?«

»Ich kann nicht so gut … Tobias hat ihn mir vorgelesen.«

»Also weiß Tobias ebenfalls Bescheid?«

Sie nickte unglücklich. »Er hat gesagt, ich solle Mr Wetherby nichts davon erzählen, was da steht.«

Zornbebend riss ich ihr die Zeitung aus der Hand und überflog den Text. Zwar gab es keine Fotos, und auch die Geschichte selbst war ziemlich dünn, Davina aber räumte widerstrebend ein: »Das Telefon steht nicht mehr still, und Mrs M hat mir erzählt, dass nach den Nessie-Touristen jetzt Leute hierherkommen wollen, die sich für deinen Fall interessieren.«

»Na toll. Dann weiß sie also auch Bescheid?«

Davina fuhr sich durch das Haar und nickte. »Zumindest aber sagt sie den Reportern, die sich deinetwegen bei uns einquartieren wollen, wir wären ausgebucht. Sie meint, es gehe niemanden was an, was du hier machst, und dass sie nichts erzählen würde, falls jemand nach dir fragt.«

»Das hat sie tatsächlich gesagt?«

»Sie war so wütend, dass sie mich bestimmt gefeuert hätte, wenn Tobias sie nicht daran erinnert hätte, dass sie selbst als junges Mädchen auch nicht anders war als ich. Da hat sie laut gelacht und nur gesagt, dass ich mir nicht noch mal etwas zuschulden kommen lassen darf, wenn ich nicht meine Stelle verlieren will.«

»Das war nett von ihr.«

»Das war es. Was wirst du tun, Hannah? Wirst du ihm geben, was er will?«

»Das kann ich nicht. Das stünde mir nicht zu.«

»Ich finde es unglaublich mutig, wie du diesem Kerl die Stirn bietest.«

»Im Grunde geht es bei dieser Sache mehr um seinen Bruder als um mich.«

»Nachdem der dich betrogen hat, kann es dir doch schnuppe sein, wenn er Probleme kriegt.«

»So einfach ist das nicht. Und die Geschichte in der Zeitung macht es noch komplizierter, als es ohnehin schon war. Ich habe wirklich Angst um meinen Mann, denn wenn die Leute anfangen, sein Privatleben unter die Lupe zu nehmen, könnte alles auseinanderfallen.«

Davina brach in Tränen aus. »Es tut mir wirklich leid.«

»Ich weiß.«

»Und was wirst du jetzt tun?«

»Jetzt ziehe ich mich erst mal an und suche nach Simon.«

»Soll ich mitkommen?«

»Würdest du das tun?«

»Natürlich. Mrs M und Tobias kommen sicher auch mit, wenn du willst.«

»Angus auch.«

Zum ersten Mal an diesem Morgen grinste mich Davina an. »Wenn dieser Kerl es mit uns allen aufnehmen muss, stehen seine Chancen schlecht.«

»Und selbst mein Mann ist auf dem Weg hierher.« Entschlossen stand ich auf und zog ein sauberes Kleid aus meinem schmalen Schrank.

»Weiß er, dass die Geschichte in der Zeitung stand?«

»Falls es im Zug den Daily Mirror gab, wird er es wohl gesehen haben.«

»Manchmal bringen sie in Edinburgh die neuen Zeitungen an Bord.«

»Dann schätze ich, dass er es weiß.«

»Wird er deswegen wütend ein?«

Ich zog mich an und dachte über ihre Frage nach. »Ich glaube nicht. Wahrscheinlich hat er eher Angst.«

»Hat er was falsch gemacht?«

»Das dachte ich zuerst, aber inzwischen ist mir klar, dass das ein Irrtum war.«

Statt weiter in mich einzudringen, fragte sie mit einem gleichmütigen Achselzucken: »Wollen wir?«

»Sofort.« Ich fuhr mir schnell mit einer Bürste durch mein kurzes Haar und atmete tief durch. »Auf geht’s.«

*

Als wir nach unten kamen, warteten Tobias und Mrs M schon auf uns. Ich kämpfte mit den Tränen, als sie mir die Schulter drückte und Tobias mit Empörung in der Stimme sagte: »Höchste Zeit, dass jemand diesem Wetherby mal zeigt, was eine Harke ist. Also, wie gehen wir es an?«

Als ich in die erwartungsvollen Gesichter der drei blickte, gab ich schulterzuckend zu: »Ich weiß es nicht.«

»Aber du wirst dich mit ihm treffen?«

»Ja. Vor allem, weil er jetzt kein Druckmittel mehr hat.« Ich zeigte schnaubend auf die Zeitung, die Davina in den Händen hielt. »Er hat damit gedroht, mit der Geschichte zu den Zeitungen zu gehen, ich bin dem Verfasser des Artikels also fast zu Dank verpflichtet.«

»Wir müssen den Reportern etwas anderes geben, worüber sie schreiben können«, sagte Angus, der in diesem Augenblick hereingekommen war. Ich war so glücklich, ihn zu sehen, dass ich mich ihm beinah an die Brust geworfen hätte, doch ich hielt mich zurück. Er hatte eine Ausgabe des Mirror unter den Arm geklemmt und sagte: »Nach dem Artikel sehen die Dinge ein wenig anders aus.«

Tobias nickte nachdrücklich. »Wobei wir diesem Wetherby trotz allem deutlich zu verstehen geben sollten, dass er so nicht mit den Frauen, die hier angestellt sind, umspringen kann.«

»Angus hat recht, wir sollten den Journalisten einfach ein anderes Thema liefern«, griff ich seinen Vorschlag auf. »Wie wäre es damit, dass jemand das Ungeheuer gesehen hat? Allerdings kämen dann alle an den See, wo ich mich gleich mit Simon treffen will.«

»Und was ist mit Loch Lochy?«, schlug Davina vor und war so aufgeregt, dass sie Tobias’ Arm ergriff. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, doch ohne es zu registrieren, fuhr sie fort: »Es gibt doch auch dort Geschichten über ein Ungeheuer. Wir könnten behaupten, dass es gesichtet wurde. Dann blieben die Reporter und Touristen erst mal im Hotel, um zu erfahren, was es damit auf sich hat.«

»Das ist natürlich clever«, stellte Angus anerkennend fest. »Wobei derjenige, der das Ungeheuer gesehen haben will, sehr vertrauenswürdig sein sollte. Wie beispielsweise Sie.« Er zeigte auf Tobias, der erstaunt die Augen aufriss.

»Ich soll mit den Reportern reden?«

»Ja. Wo sind sie denn im Augenblick?«

»Die meisten sind noch drüben in der Bar«, sagte Mrs M.

»Dann gehen Sie jetzt raus, Tobias, und in fünf Minuten kommen Sie wieder herein und rufen aufgeregt, Sie hätten gerade im Loch Lochy eine seltsame Beobachtung gemacht. Dann dürften die Reporter erst einmal beschäftigt sein.«

Ich lachte leise auf und fragte nervös: »Und was, wenn wir daraufhin einen Großteil unserer Gäste los sind?«

Mit einem gleichmütigen Achselzucken meinte Mrs M: »Ich glaube nicht, dass irgendjemand sich die Mühe machen wird.«

»Ich kann ja auch zurückrudern und sagen, dass sich ein längerer Besuch dort meiner Meinung nach nicht lohnt«, schlug Tobias vor.

»In Ordnung«, sagte ich. »Angus, könntest du vor dem Haus auf Lawrie warten und ihm kurz erklären, worum es geht? Und bitte nehmt dann einen Weg zum See, auf dem euch keiner von den Reportern sieht.« Ich atmete tief durch. »Dann gehe ich jetzt schon mal los.«

»Ich weiß nicht, Hannah«, widersprach Angus mir. »Ich möchte nicht, dass du allein zu diesem Treffen gehst. Der Kerl hat ein Problem mit Alkohol und ist verzweifelt, ihm ist alles zuzutrauen.«

»Ich werde sie begleiten«, sagte Davina.

»Wirklich?«, fragte ich, wobei mir meine Zweifel deutlich anzuhören waren.

»Ja, natürlich. Habe ich dir nicht gesagt, es tut mir leid? Also lass mich jetzt beweisen, dass ich dir niemals was Böses wollte.«

»Meinetwegen«, gab ich mich geschlagen, denn ich hätte meinem Schwager nicht noch mal alleine gegenüber treten wollen.

Angus warf einen Blick auf seine Uhr. »Inzwischen dürfte Lawrie auf dem Weg nach Drumnadrochit sein. Wenn Simon nicht hier übernachtet hat, hat er wahrscheinlich ein Hotelzimmer in Inverness gebucht. Wir müssen also hoffen, dass es nicht bereits im Bus zu einem Wiedersehen der Brüder kommt.«

»Mein Mann kommt ganz bestimmt nicht mit dem Bus«, erklärte ich. »Ich glaube nicht, dass er in seinem Leben jemals Bus gefahren ist.«

Tobias schnaubte laut. »Wie kann sich jemand Volksvertreter nennen, der nicht das Geringste über unser Leben weiß?«

Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf sagen sollte, doch zu meinem Glück kam Mrs M mir zuvor. »Ich glaube, dieser Simon ist schon hier. Zumindest nehme ich an, dass er es war, der gestern Abend sturzbetrunken unter einer Hecke hinter dem Hotel lag. Ich habe ihn zusammen mit Tobias in das kleine Nebenhaus geschleppt, damit er erst mal seinen Rausch ausschläft.«

»Der armselige Kerl war Simon Wetherby?« Tobias klang enttäuscht. »Den hatte ich mir anders vorgestellt.«

»Anscheinend hat er sich vom Leben mehr erhofft, und jetzt ist er enttäuscht.« Ich rückte meine Schürze und mein Häubchen zurecht und wandte mich zum Gehen. »Dann mache ich mich jetzt auf den Weg.«

»Sei vorsichtig«, bat Angus mich und drückte mir die Hand.

»Wenn Lawrie kommt, bring ihn zum See«, bat ich und wandte mich Tobias zu. »Wenn du den Journalisten von dem Ungeheuer erzählst, trag ruhig dick auf.«

»Ich werde ihm ein bisschen dabei helfen«, sagte Mrs M und zwinkerte mir zu.

»Sehr gut. Na los, Davina, lass uns sehen, wo Simon steckt.«