Neuntes Kapitel

Gottwitha hörte die Hähne krähen, aber noch war es draußen dunkel. Aus der Küche drangen die ersten Geräusche, und schon klopfte es an ihrer Tür. Widerwillig erhob sie sich, wusch sich in einer Schüssel mit kaltem Wasser – warmes Wasser für die Körperpflege galt den Amischen als verdammenswerter Luxus –, dann zog sie sich an. Ein blaues Kleid, ganz neu noch und genäht von der Mutter in Deutschland, darüber eine weiße Schürze. Gottwitha strich seufzend über diese Schürze, das Zeichen der unverheirateten Frauen, das sie heute zum letzten Mal bei ihrem Hochzeitsgottesdienst tragen durfte. Der Hochzeitsgottesdienst. Wie sie ihn fürchtete. Ob sie da auch in dieser seltsamen Sprache miteinander redeten wie sonst? Zwar hatte Gottwitha jedes der wenigen Worte von Samuel verstanden, doch eigentlich hatte sie den Sinn des Gesagten mehr aus seiner Miene abgelesen. Seine Worte kamen gequetscht heraus, und die Alte sprach dazu noch so schnell, dass Gottwitha erst nach einigen Augenblicken verstand, was diese gesagt hatte. Ja, das war noch so ein Unglück. Sie verstand alles, aber nicht sofort. Und sie konnte diese merkwürdige Sprache, dieses Pennsylvania-Dutch, nicht sprechen. Schon das allein machte sie zu einer Außenseiterin hier in diesem Dorf.

Sie bürstete ihr Haar, steckte es dann unter einer schwarzen Gebetshaube fest und verließ die karge Kammer.

In der Küche lag noch immer der Sarg mit der Leiche, und der Gestank war noch schlimmer geworden, wenn das überhaupt möglich war. Sie hatte sich schon gestern gefragt, warum man die Großmutter nicht in der Tenne oder in der Scheune aufbewahrte, doch dann hatte sie selbst die Ratten und Mäuse gesehen und gewusst, dass man dort keine Leiche lassen konnte.

«Guten Morgen, Gott zum Gruße», sagte Gottwitha beim Anblick ihrer Schwiegermutter. Die Alte drehte sich halb zu ihr um und bedachte sie schweigend mit einem langen Blick. Sie wird mir niemals verzeihen, wusste Gottwitha in diesem Augenblick.

«Bist du bereit?», fragte die Mutter nach langem Schweigen. Gottwitha nickte.

«Während wir die Oma zu Grabe tragen, kannst du den Tisch decken und alles für das Hochzeitsmahl vorbereiten.»

«Ich dachte, ich könnte mit zum Grab. Ich möchte es so gern. Möchte es ganz unbedingt.» Sie klammerte sich an die Beerdigung, als könnte sie nur dadurch ihr gestriges Verhalten ungeschehen machen. «Ich hätte sie so gern kennengelernt. Sicher war sie eine gütige und weise Frau.»

«Was weißt du schon?» Samuels Mutter verzog abschätzig die Mundwinkel. «Eines aber ist sicher: Sie hätte dich nicht gemocht.» Die Worte kamen bitter und spitz, sodass sich Gottwitha unter ihnen zusammenkrümmte.

«Woher wollen Sie das wissen? Sie kennen mich doch noch gar nicht.»

«Was ich von dir kennengelernt habe, reicht mir. Du bist eine genudelte Gans, die man leider nicht schlachten kann.»

Gottwitha schluckte und nickte. Die Mutter würde ihr niemals gestatten, der Beerdigung beizuwohnen. Und die anderen amischen Brüder und Schwestern würden, noch ehe sie sie gesehen hatten, wissen, dass sie ein schlechter Mensch war. Mit keiner anderen Geste hätte die Mutter Gottwitha so herabsetzen können, wie sie es nun tat.

«Ich will aber mit!» Sie hörte selbst den Trotz in ihrer Stimme, hörte, dass sie klang wie ein quengeliges Kind. Aber sie musste doch nun einmal mit, sie durfte doch nicht schon an ihrem ersten Tag bei allen hier einen bösen Stempel aufgedrückt bekommen!

Die Alte drehte sich um, musterte Gottwitha verächtlich, sagte aber kein Wort. Von draußen war das Geräusch eines Buggys zu hören. Die Alte wischte sich die Hände an der Schürze ab. «Der Bischof ist da. Ich habe dir die Tischwäsche herausgelegt.»

Mit diesen Worten strich sie sich ihr Kleid glatt, richtete die Haube und betrachtete noch einmal den Sarg, aus dem Myriaden von Fliegen aufstiegen. Schon wurde geklopft, schon kamen Samuel und seine Brüder oder Vettern herein, nahmen den Sarg auf die Schultern und trugen ihn hinaus. Gottwitha blieb allein zurück und riss als Erstes die beiden Fenster auf, um den Geruch zu vertreiben. Samuel, dachte sie, hat mich nicht einmal angesehen. Für ihn bin ich schon vor der Heirat ein unsichtbares Ding. Was soll nur werden? Und sie setzte sich an den Tisch, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte herzzerreißend, während das Dorf die alte Frau begrub.

Hernach ging alles ganz schnell. Viel schneller, als Gottwitha erwartet hatte. Obwohl der Gottesdienst drei Stunden dauerte und mit einer Lesung aus einer deutschen Lutherbibel begann, raste die Zeit für sie. Nur noch zwei Stunden, dachte sie, nur noch eine Stunde, nur noch ein paar Minuten. Dann wurden Samuel und sie nach vorn gerufen und mit kurzen Worten vermählt. Gottwitha tauschte die weiße Schürze der Unverheirateten gegen die schwarze Schürze der Ehefrau, sprach wie alle anderen das Vaterunser. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie einmal ein Gebet mit solcher Inbrunst gesprochen hätte. Normalerweise leierte sie die Worte herunter, begierig darauf, den Gottesdienst, der sie über die Maßen langweilte und ermüdete, zu verlassen. Heute aber klammerte sie sich an jedes einzelne Wort, als würde das noch helfen:

Unsah Faddah im Himmel,

dei Nohma loss heilich sei,

Dei Reich loss kumma.

Dei Villa loss gedu sei,

uf di Eaht vi im Himmel.

Unsah tayklich Broht gebb uns heit,

Un fagebb unsah Shulda,

vi miah dee fagevva vo uns shuldich sinn.

Un fiah uns naett in di Fasuchung,

avvah hald uns fu’m Eevila.

Fa dei is es Reich, di Graft

un di Hallichkeit in Ayvichkeit.

Amen.

Als sie bei der Zeile «und vergib uns unsere Schuld» angelangt war, schaute sie rasch zu ihrer Schwiegermutter hinüber, doch die blickte auf ihre gefalteten Hände und tat, als bemerke sie nichts.

Und dann war sie verheiratet, war innerhalb von wenigen Augenblicken Gottwitha Stoltzfuß geworden und saß in der großen Küche mit der schwarzen Schürze um den Bauch, aß das typische Hochzeitsmahl, Truthahn mit Brotfüllung, Kartoffeln, Mais, Krautsalat und Apfelkompott, sie trank Apfelsaft und Wasser, und sie wünschte sich weit weg in diesem Moment, sehnte sich nach der Mutter, dem Vater und den Geschwistern, war so allein, so mutterseelenallein. Die wenigsten sprachen mit ihr. Aber sie wurde von allen heimlich gemustert, von oben bis unten, vorn und hinten, links und rechts, und sie wurde von den meisten als zu leicht befunden. Sie, die nicht einmal an der Beerdigung der Großmutter hatte teilnehmen dürfen. Da steckten am Ende der Tafel zwei Frauen in mittleren Jahren ihre rotwangigen Köpfe zusammen und tuschelten, während sie sie heimlich im Auge behielten. Da wischte sich der Tischnachbar, Samuels ältester Bruder, verstohlen die Hand am Tischtuch ab, als er sie aus Versehen berührt hatte. Und Samuel, der sah sie nicht an, und als sie einmal das Wort ergriff, da hörte ihr niemand zu, und ihre Worte versickerten wie Regen im ausgedörrten Boden. Dann war das Hochzeitsfest zu Ende, ohne Tanz, ohne Spiele, und ihr Mann Samuel Stoltzfuß erhob sich, fasste sie kurz an der Hand und zog sie hoch, und die Frauen schauten allesamt zu Boden, weil sie wussten, was nun kam. Und Gottwitha ging neben ihrem Mann in das Haus, das neben dem seiner Mutter stand und von dem Gottwitha wusste, dass Samuel es selbst gebaut hatte. In der Küche ließ er sie los, steckte ratlos beide Hände in die Taschen und sagte: «Das ist von nun an dein Reich. Ich hoffe, du wirst darin umsichtig walten.» Seine Stimme klang streng dabei, als wüsste er schon im Voraus, dass sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen war. «Die Schlafkammer ist die Treppe hoch, gleich die erste Tür», fügte er noch an, dann löste er einen Hosenträger und ging schon voran. Gottwitha blieb in der Küche stehen und wusste nicht, was nun zu tun war. Sie blickte sich um in dem großen Raum mit den verschalten Wänden, der mit dem blanken Dielenboden und den einfachen Kiefernholzmöbeln hell und freundlich aussah. In der Mitte prangte ein großer Tisch, darum standen sechs Stühle und eine bequeme Bank. Die Herdstelle war sauber gefegt, und davor auf dem Boden stand ein Weidenkorb, der mit Holz und Koksstücken gefüllt war. Die Anrichte war mit irdenem Geschirr gefüllt, grau und blau lasiert, die Töpfe hingen von einem eisernen Gestell über der Herdstelle herab. In den Fensterbrettern befanden sich kleine Töpfe, in denen sich zartes Grün reckte, und Gottwitha fragte sich, wer dieses Haus wohl eingerichtet hatte. Es schien ganz, als hätte schon vor ihr eine Hausfrau hier gewirkt, eine, die die hellen Vorhänge vor den Fenstern genäht und den Teppich auf dem Boden gewebt hatte. Samuels Bart fiel ihr ein, den sie zuerst in Batterfield Park bemerkt hatte. Der Bart der verheirateten Männer. Und nun das fertige Haus. Sie musste ihn unbedingt danach fragen, auch wenn er ihre Frage bestimmt unwirsch aus der Welt fegen würde.

Nach einer ganzen Weile entschloss sie sich, ebenfalls in die Schlafkammer zu gehen. Sie öffnete die Tür, trat ein in den stockfinsteren Raum, in dem kein Talglicht brannte und auch kein Mond durch das Fenster schien. Sie stieß mit dem Schienbein gegen einen Gegenstand und schrie kurz auf. Dann tastete sie sich ein Stück in den Raum hinein.

«Es ist so dunkel hier», sagte sie.

«Ja», erwiderte ihr Mann. «Das ist in Schlafkammern nun einmal so.»

Gottwitha schluckte, tastete mit den Händen in der Luft herum, doch sie fand keinen Halt. «Kannst du nicht einmal kurz das Talglicht anmachen?», fragte sie zaghaft. «Ich war noch nie in diesem Raum, weiß nicht, wo die Nägel für die Kleider sind, weiß nicht einmal, wo genau das Bett steht.»

«In Schlafkammern ist es dunkel und bleibt es dunkel. Das, was hier geschieht, scheut nicht umsonst das Licht des Tages.»

Gottwitha seufzte. Dann öffnete sie ihr Kleid, zog es aus und ließ es einfach auf den Boden fallen. Sie wusste nicht, wo ihr Nachthemd war, konnte es in der Dunkelheit auch nicht finden, also ließ sie das Unterkleid an. Dann streckte sie die Hände aus, machte mutig einige Schritte nach vorn, bis sie an das Bett stieß.

«Siehst du», brummte ihr Mann. «Du brauchst kein Licht.»

Gottwitha erwiderte nichts, tastete sich zur Seite, bekam einen Bettzipfel zu fassen, setzte sich auf den Bettrand, zog die Schuhe aus und ließ sich einfach in die Federn fallen. Sie fiel auf ihren Mann. Wie ein Stein. Sie fiel, wie eine Kuh umfiel. Samuel seufzte. «Deine Seite ist die andere des Bettes.» Gottwitha erschrak. Sie war auf der falschen Seite eingestiegen. Kurz stieg ihr ein Lachen in die Kehle ob ihres Ungeschicks, aber sie erstickte es auf der Stelle, denn sie wusste schon, dass für Heiterkeit hier kein Platz war. Also erhob sie sich wieder, tastete sich am Bettgestell entlang und landete schließlich auf ihrer Seite. Sie legte sich hin, auf den Rücken, und zog die Bettdecke bis an ihr Kinn. Dann wartete sie. Sie wusste natürlich, dass in der Hochzeitsnacht die Dinge ihren Anfang nahmen, bei dem am Ende Kinder zur Welt kamen, aber sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was genau da vor sich gehen würde. Also wartete sie, lauschte auf den Atem ihres Mannes und wartete weiter. Als sie schon glaubte, Samuel wäre eingeschlafen, sagte er plötzlich dicht neben ihrem Ohr: «So, nun ist es wohl so weit.»

«Was wirst du mit mir machen?»

Samuel schnaubte entrüstet. «Du erwartest doch wohl nicht, dass ich diese Dinge in Worte fasse.» Er hob ihre Bettdecke hoch, warf sie auf den Boden, fingerte an ihrem Unterkleid herum.

«Was machst du da?», flüsterte Gottwitha ängstlich. Sie mochte seine harten kalten Hände nicht auf ihrem Leib, nicht auf ihren Brüsten. Auf dem Schiff hatte sie öfter gesehen, wie Männer die Frauen befingerten und dabei gierige Augen bekamen. Ja, sie hatte sogar erlebt, dass die Männer auf den Frauen lagen und dass die Paare sich umeinanderwälzten, aber immer, wenn das geschah, hatte sie mit brennendem Gesicht in eine andere Richtung geschaut. Und nie hätte sie gedacht, dass auch sie dies einmal erdulden müsste.

«Ich mache das, was Gott uns befohlen hat zu tun», antwortete ihr Mann, spreizte ihr die Beine, warf sich auf sie, und Gottwitha riss die Augen auf, starrte in die Dunkelheit und wimmerte vor Angst und Schreck: «O Gott, o Gott, was machst du da?» Sie war so erschrocken, dass sie den Oberkörper hob, sich auf die Ellenbogen stützte und versuchte, Samuel zu entgehen. «Was machst DU da?», wollte er nun von ihr wissen.

«Ich weiß es nicht.»

Sie hörte Samuel seufzen. «Hat deine Mutter nicht mit dir gesprochen?»

«Worüber?»

«Über das, was in der Hochzeitsnacht vor sich geht.»

«Nein.»

«Und meine Mutter hat dich heute auch nicht zur Seite genommen?»

«Nein.»

«Herrgott!!!»

Samuel erhob sich. Gottwitha hörte, wie er Hose und Hemd überstreifte und die Kammer verließ. Er trampelte die Treppe hinab und aus der Haustür heraus. Gottwitha hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Deshalb blieb sie einfach liegen, presste ihre Schenkel zusammen und lauschte in die Nacht. Es dauerte nicht lange, da hörte sie die Haustür wieder klappen und zwei Menschen die Treppe heraufkommen.

«Erkläre ihr, was sie wissen muss», hörte sie die Stimme Samuels befehlen.

«Ich dachte, dass sie das schon längst wüsste, so, wie sie sich benimmt», erklang die Stimme ihrer Schwiegermutter.

«Ruf mich, wenn du fertig bist. Ich brauche meinen Schlaf. Morgen muss ich beim Morgengrauen aufstehen.» Dann verließ Samuel die Schlafkammer. Gottwitha lag noch immer starr und stumm, hatte ihre Bettdecke vom Boden geangelt und sie bis zum Kinn hochgezogen. Die Schwiegermutter seufzte. «Was willst du wissen?», fragte sie barsch.

«Ich weiß nicht genau. Ich möchte wohl wissen, was jetzt geschehen soll.»

«Du musst deinem Mann zu Willen sein.»

«Und was heißt das? Was muss ich tun?»

«Du bist nicht nur fett wie eine Weihnachtsgans, sondern obendrein noch so dumm wie eine. Schieb dein Nachthemd nach oben, mache die Beine breit und erdulde, was dir geschieht. Das ist schon alles.»

Gottwitha verstand nicht. «Aber warum?»

«Was meinst du mit ‹warum›?»

«Warum soll ich das machen? Warum können wir nicht einfach nebeneinander schlafen? Wenigstens bis wir uns aneinander gewöhnt haben.»

Die Alte seufzte laut auf, dann brach es aus ihr hervor: «Herr im Himmel, warum strafst du mich so? Warum bringst du dieses Mädchen in unser Dorf? Sie fragt und fragt und fragt, statt darauf zu vertrauen, dass du, Herr, und ihr Mann ihr schon sagen, was zu tun ist. Eine Frau, die Fragen stellt, ist ungefähr so nützlich wie ein Wasserfass mit einem Loch.»

Obwohl es dunkel war, duckte sich Gottwitha unter den groben Worten. In der kurzen Zeit, die seit ihrer Ankunft vergangen war, hatte sie öfter als jemals zuvor in ihrem Leben hören müssen, wie nutzlos und schlecht sie war.

«Ich werde tun, was mir gesagt wird», versprach sie eilig und hoffte, dass dieses Gespräch bald vorüber wäre.

«Dann ist ja alles gut. Mach, was dein Mann von dir verlangt. Er ist gottesfürchtig, er tut nichts, was er vor Gottes Antlitz verstecken müsste.»

Damit stand die Alte auf, seufzte noch einmal so schwer, als wäre eine Plage über sie gekommen, und verließ die Schlafkammer. Wenig später hörte Gottwitha Samuels Schritte die Treppe heraufstapfen. Sie legte sich in die Mitte des Bettes, spreizte die Beine, schrie nur einmal kurz auf, als ihr Mann in sie eindrang, ansonsten schwieg sie und versuchte, an nichts zu denken.