Zehntes Kapitel

Es war etwas ganz anderes, mit Madame Joyce durch die Straßen der Five Points zu gehen als allein. Überall standen hohe Mietshäuser mit offenen Fenstern, aus denen Wäsche hing. Die Frauen hatten es sich auf den Fensterbrettern bequem gemacht und führten laute Gespräche mit den Frauen auf der anderen Straßenseite. Ihr derbes Lachen und die rohe Sprache schüchterten Susanne ein wenig ein, obwohl sie in ihrem Leben weiß Gott genug Grobheiten gehört hatte. Auf den Gehsteigen drängten sich die Leute, kauften Obst und Gemüse bei fliegenden Händlern, tratschten an den Straßenecken, ohrfeigten ihre kleinen Kinder, die im Rinnstein im Abfall wühlten. Über den heruntergekommenen Geschäften standen irische, italienische, deutsche und jiddische Namen, die Inhaber lungerten mit verschränkten Armen in den Türen und spuckten auf den Gehsteig. Ein Polizist schlenderte im Getümmel herum, den Schlagstock griffbereit an der Seite. Karren rumpelten über die gepflasterten Gassen, Fuhrmänner und Kutscher ließen die Peitschen knallen oder schrien ihre Pferde an, räudige Katzen brachen sich ihre Bahn durch unzählige Füße, die nach ihnen stießen, ein dreibeiniger Hund winselte vor einer koscheren Metzgerei. Das ganze Viertel brodelte, kreischte, wimmelte und summte vor sich hin. Es roch nach den Garküchen, nach ungewaschenen Menschen, nach Kohl, Pferdepisse und nach Armut. Aber wie anders war es, an der Seite von Madame Joyce durch dieses Gewühl zu laufen! Gestern hatte sich Susanne vor dem eigenen Schatten gefürchtet, heute genoss sie das Leben in den Five Points beinahe. Kinder rannten hin und her, stahlen Obst von den fliegenden Händlern, brüllten die Schlagzeilen der Zeitungen in die taube Menge, Jugendliche sammelten sich drohend an den Straßenecken, tuschelten und beäugten dabei die Vorbeikommenden. Junge Männer ohne Arbeit hockten auf den Treppenstufen, die zu den Mietskasernen führten, spuckten Kautabak auf die Straße und hielten unter ihren abgerissenen Jacken Whiskeyflaschen versteckt.

«Hier entlang!» Madame Joyce fasste Susanne beim Arm und zog sie zu einem Platz, auf dem eine Art Markt stattfand.

«Was soll ich kaufen?», fragte Susanne, der von all den Eindrücken die Augen tränten, die Ohren brausten und die Haut kribbelte.

Madame Joyce stemmte die Hände in die Hüften. «Was habe ich dir vorhin gesagt? Du musst dich selbst um dein Glück kümmern.» Sie hob die Hand und klopfte Susanne mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. «Denk nach.»

Susanne nickte. «Ich brauche ein Federbett und warme Sachen, nicht wahr?»

Madame Joyce lächelte zufrieden und fügte hinzu: «Eine Mütze, einen Schal und Handschuhe, warme Socken, warmes Unterzeug.»

«Und Seife und Waschlauge, ein wenig Medizin und ein paar Kochgeräte.»

Madame Joyce strahlte sie an, als habe sie einen schwierigen Wettbewerb gewonnen. «Du brauchst ein Seil, Wachs, Öl, ein Taschenmesser, eine Schere, Nähgarn, Zucker und Salz.»

Jetzt strahlte auch Susanne. «Und ich brauche Schwefelhölzer, ein paar Lederriemen und ein Blechgeschirr.»

«Und für das Baby ein paar Decken und ein paar Windeln.»

«Oh!» Susanne sah an sich herab, legte die Hände auf ihren Bauch. Für eine kurze Zeit hatte sie vergessen, dass sie schwanger war. Sie war so leicht gewesen, hatte sich beinahe schon frei gefühlt. Ihr Kind. Das Kind des Grobians. Nein, der Grobian war tot. Das Kind hier war nur ihres. Ihres ganz allein. Wenn sie ihren Bauch streichelte, dann lächelte sie gewöhnlich. Heute nicht. Heute bekam sie ein wenig Angst.

«Wird es gehen mit dem Kind?»

Madame Joyce zuckte mit den Schultern. «Warum sollte es nicht gehen? Du wirst es auf der Reise bekommen. Meine Mädchen sind alle ganz verrückt nach Kindern. Ich glaube, es wird sehr verwöhnt werden.»

Madame Joyce sagte das so ruhig, so überzeugt, als ob es ein Klacks wäre, auf einer Reise im Planwagen ein Kind zu bekommen. Susanne hätte sich gewünscht, das Kind in einer warmen Kammer zur Welt zu bringen. Mit einer Hebamme an ihrer Seite und draußen vor der Tür einem werdenden Vater, der vor Ungeduld und Furcht die Hände rang.

«Sie haben recht. Ich brauche noch ein paar Dinge für das Baby.»

«Gut, dann lasse ich dich jetzt allein. Ich habe noch einen Weg zu besorgen. Komm dann zurück zum Haus.»

Madame Joyce drückte kurz ihre Schulter, dann wandte sie sich ab und ging. Susanne stand allein auf dem Markt, mitten im Getümmel. Hinter ihr drehte ein Mann einem gackernden Huhn den Hals um, neben ihr feilschte eine Frau lautstark um einen Ochsenschwanz. Direkt an ihrer Seite fuhr mit lautem Geklingel ein von Pferden gezogener Feuerwehrwagen vorbei, zwei Polizisten folgten. Am Ende des Marktes sah sie eine Kirche. Dorthin drängte es sie. Sie wusste genau, warum. Sie war eine Mörderin und wollte ihre Schuld bekennen. Langsam schritt sie durch die Marktgänge, ließ sich anrempeln und anstoßen. Sie ging wie im Traum, und als endlich die schwere Kirchentür hinter ihr ins Schloss fiel, da wurde sie beinahe erdrückt von ihrer Schuld. Sie ging nach vorn zum Altar, sank auf die Knie und faltete die Hände. Sie wollte mit dem Herrn sprechen, aber es gelang ihr nicht. Sie faltete die Hände fester, sodass sie schmerzten. Sie schloss die Augen, aber sosehr sie sich auch anstrengte, es wollte einfach keine Reue in ihr Herz einziehen. Also stand sie auf, entzündete eine Kerze, dann hockte sie sich wieder hin und versuchte es noch einmal. Aber in ihrem Inneren rührte sich nichts. In ihrem Kopf fanden sich Worte, die ihre Seele nicht empfand. Sie suchte nach Tränen, aber alles in ihr war trocken. Sie konnte nicht bereuen, sosehr sie es auch wollte. Das ließ sie verzweifeln. Die fehlende Reue, nicht die Tat. Schließlich erhob sie sich und begab sich in einen der Beichtstühle. Sie hatte Glück, dass ein Priester anwesend war. Ihm erzählte sie von dem Mord an ihrem Mann. Der Priester hörte zu, dann sagte er: «Du hast eine Todsünde begangen, die ich dir nicht vergeben kann. Du wirst lange, lange büßen müssen, aber der Herr wird dir dabei eine Hilfe sein. Unser Gott ist ein barmherziger, gnädiger Gott.»

«Ich bin schwanger. Schwanger von dem Mann, den ich getötet habe.»

Der Priester schwieg eine Weile, ehe er sagte: «So wirst du immer ein Zeichen deiner Schuld vor dir haben. Du wirst in die Augen des Kindes schauen und darin deine Sünde sehen.»

Da brach etwas in Susanne. Brach in dem Augenblick, als der Priester von ihrem Kind sprach. «Nein», rief sie. «Mein Kind ist unschuldig. Und mein Mann, er war ein schlechter Mensch. Wenn es einen gerechten Gott gibt, dann wird er mir vergeben.»

Als der Priester das hörte, machte er ein Kreuzzeichen. «In diesem Falle kann dir niemand helfen», erklärte er kalt. «Du bist nicht mehr Gottes Kind, sondern ein Kind des Teufels. Du wirst die Hölle auf Erden erleiden, denn Gott straft die, die ohne Reue sind. Und er straft nicht nur dich, sondern er straft auch deine Kinder und Kindeskinder. So steht es in der Schrift.» Mit diesen Worten ließ er die Tür des Beichtstuhls hinter sich zufallen, und Susanne hörte seine Schritte über den gefliesten Kirchenboden hallen. Sie aber blieb sitzen. Dann ist es eben so, dachte sie, mit einem Mal von Trotz erfüllt. Dann bin ich eben eine Mörderin in den Augen der Menschen. Aber mein Kind darf davon nichts erfahren, soll dadurch nichts erdulden. Es ist meine Schuld, ich werde alles dafür tun, dass mein Kind diese Schuld nicht tragen muss.