Elftes Kapitel

«Ich?», rief Annett ungläubig.

«Ja. Du. Ich bitte dich sehr darum. Weißt du, ich habe keine Zeit, mich mit Journalisten zu unterhalten. Ich habe ein Treffen mit den führenden Ingenieuren, und danach bin ich mit zwei Drahtseilfabrikanten verabredet.»

Annett nickte und seufzte aus tiefstem Herzen.

«Du würdest mir damit sehr helfen», fügte Emily an, und Annett wusste, dass sie auf gar keinen Fall nein sagen konnte. «Ja. Ich mache es. Ich treffe mich mit diesem unsäglichen Journalisten, mit diesem widerlichen, bösartigen und spießigen Arthur Munroe. Warum lächelst du da so?» Annett zog die Stirne kraus.

«Weil du so schimpfst. Aber nach allem, was er über Washington und mich geschrieben hat, kann ich es dir nicht verübeln. Auch ein Grund, warum es mir lieber ist, wenn ich ihm nicht persönlich unter die Augen treten muss. Ihr trefft euch im Cooper Institute an der Third Avenue, Ecke Astor Place. Am besten nimmst du zuerst die Fähre über den East River und dann, wenn du in Manhattan bist, eine Mietkutsche.» Emily blickte auf ihre Uhr. «Nun, es ist jetzt eins. Das Treffen sollte um drei Uhr nachmittags stattfinden. Es wäre ratsam, in der nächsten Stunde aufzubrechen.»

Annett nickte. Sie war zwar schon einige Wochen in New York, hatte es aber bisher noch nie auf die andere Flussseite geschafft. Und jetzt sollte sie sich allein auf den Weg durch Manhattan machen, das, so hatte es Emily ihr erzählt, schon jetzt beinahe eine Million Einwohner hatte. Eigentlich war Annett nicht gerade ängstlich, aber sie kam aus einer kleinen Stadt mit gerade mal zwanzigtausend Einwohnern. Sie kannte keine Mietdroschken, weil man in Mühlhausen alle Orte zu Fuß erreichen konnte. Es gab auch nur eine einzige Zeitung, den «Mühlheimer Anzeiger» nämlich, und dessen Redakteur, Herr Zöllner, war dick, alt und über die Maßen gutmütig. Und nun sollte sie ganz auf sich gestellt mit einem Mann reden, der ihr zutiefst unsympathisch war und vor dem sie – sie gab es nur sehr ungern zu – Angst hatte. Würde sie alles verstehen, was er sagte? Würde er sich über ihr Englisch lustig machen? Würde sie die richtigen Antworten wissen? Mein Gott, sie hatte doch erst wenig Ahnung vom Bau der Brücke, durchschaute noch immer nicht das Zusammenspiel der einzelnen Gewerke. Was sollte sie ihm erzählen?

«Ich weiß nicht», begann sie zaghaft, «ob ich diesem Mann gewachsen bin. Er wird mich Sachen über die Baustelle fragen, die ich nicht weiß. Was soll ich ihm sagen? Was macht das für einen Eindruck, wenn ich ihm keine Antworten geben kann?» Annett war auf einmal richtiggehend verzweifelt. Emily legte ihr eine Hand auf die Schulter, streichelte sie kurz. «Er hat sein Urteil über den Bau doch ohnehin schon gefällt. Und wenn du eine Frage nicht beantworten kannst, sage ihm einfach, dass du seine Fragen mit uns besprichst und dich bei ihm meldest. Erzähle ihm, dass du extra aus Deutschland gekommen bist, um beim Bau dabei zu sein, und dass du von nun an meine persönliche Assistentin bist, und vor allem sage ihm, er soll sich in Zukunft in allen Dingen an dich wenden und Washington und mich meine Arbeit machen lassen.» Emily betrachtete Annett aufmerksam. «Ich weiß, dass ich sehr viel von dir verlange. Wirklich, es ist mir bewusst. Aber ich traue dir zu, diese Aufgabe mit Bravour zu erfüllen. Meinst du, du schaffst das?»

Was sollte Annett sagen? Sagen zu einer Frau, die praktisch die Bauleitung für die größte Baustelle der Welt in den Händen hatte? Also nickte sie nachdenklich, räusperte sich dann.

«Was ist noch, meine Liebe?», wollte Emily wissen.

«Eine Bücherei. Ich würde gern in eine große Bücherei gehen und schauen, ob ich mir dort Bücher über den Brückenbau ausleihen kann. Es gibt doch eine Bücherei in New York, nicht wahr?»

«Aber natürlich, Liebes. Die New York Library befindet sich in der Fifth Avenue. Lass dich von einer Droschke dorthin bringen und sieh dich um. Aber auch wir haben eine recht umfangreiche Bibliothek im Hause, das weißt du, und ich bin sicher, dass wir dort das Richtige für dich finden.»

Emily nickte ihr noch einmal zu und machte Anstalten, den Raum zu verlassen, als ihr noch etwas einfiel. «Geld», sagte sie. «Du brauchst doch Geld.»

Annett biss sich auf die Unterlippe. Sie hätte gern gesagt, dass das nicht der Fall war, dass sie Geld hatte, aber sie hatte Susanne ihre letzten und einzigen zwanzig Dollar gegeben. Jetzt kramte Emily in ihrer Geldbörse, holte drei Zehndollarscheine, einen Zwanzigdollarschein und einen Fünfzigdollarschein heraus, dazu eine Handvoll Kleingeld. «Eine Kutsche von der Fähre bis zum Cooper Institute kostet ungefähr einen halben Dollar, für die Fähre selbst musst du nichts bezahlen, weil du zur Baustelle gehörst. Hier!» Emily reichte Annett einen auf ihren Namen ausgestellten Passierschein, der sie berechtigte, die Baustelle zu betreten und kostenlos die Fähre zu benutzen. «Ach, und wenn du noch etwas Zeit hast, kauf dir ein paar neue Sachen, natürlich auf unsere Kosten. Du wirst sie brauchen, wenn ich dich in Zukunft öfter nach Manhattan zu Besprechungen schicke. Ich drücke dir beide Daumen. Du wirst sehen, alles wird gutgehen.»

Da war sich Annett nicht so sicher, doch nun musste sie sich mit der Frage befassen, was sie anziehen sollte. Sie hatte schon in Batterfield Park bemerkt, dass ihre Garderobe im Vergleich zur Kleidung der New Yorkerinnen mehr als provinziell wirkte. Aber was sollte sie tun? In der Heimat waren für Mädchen in ihrem Alter noch gerüschte Hauben à la mode gewesen, hier trugen die jungen Mädchen Hüte oder ließen ihr Haar gleich ganz unbedeckt. Auch die Reifröcke, die in Mühlhausen jede Frau trug, die etwas auf sich hielt, waren in New York kaum mehr zu sehen. Die meisten Kleider hatten eine schmale Silhouette und reichten nicht einmal bis ganz auf den Boden, sondern nur bis zur Spitze der geknöpften kleinen Stiefel, die hier so gerne getragen wurden. Die Zeit drängte, und Annett konnte ihre Garderobe noch so oft hin und her wenden, sie blieb provinziell. Sie schürzte die Lippen. «Pft», machte sie. «Ich treffe mich mit dem abscheulichsten Mann der ganzen Stadt und mache mir Gedanken über meine Kleider? Ich muss verrückt sein. Der Flegel sollte Gott danken, dass sich überhaupt eine Frau mit ihm unterhält.» Sie zog ein dunkelrotes Kleid an, dessen Ausschnitt ein wenig gerüscht war, legte sich ein dünnes Cape um die Schultern, setzte ihre deutsche Haube auf und ging. Auf dem Weg die Brooklyn Heights hinab zum Fähranleger am East River beschloss sie allerdings, dass sie auf den Besuch in der Library verzichten und sich lieber einen Hut kaufen würde. Annett war jung und eitel, und ohne einen neuen Hut würde sie sich fühlen wie der letzte Dorftrampel. Am besten wäre es, dachte sie sogar, wenn sie sich jetzt gleich einen neuen Hut kaufte, anstatt so altbacken bei dem grauslichen Mann aufzutauchen. Und kaum war sie drüben in Manhattan, kaum saß sie in der Mietdroschke, da bat sie den Kutscher auch schon, er möge anhalten und auf sie warten. Dann verschwand sie in einem kleinen Putzmachergeschäft, dessen Ladenschild verkündete, dass es von einer Elisabeth Lange geführt wurde, kaufte sich rasch einen Hut, der, wie sie im Nachhinein feststellte, ein wenig zu groß, ein wenig zu grell und zu sehr geschmückt war, aber all das machte jetzt erst einmal nichts, weil dieser Hut viel besser war als ihre altmodische Haube, und im Übrigen hatte sie jetzt auch gar keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen, denn es war bereits ein Viertel nach drei, und sie kam zu ihrem allerersten Termin schon zu spät.