Dreizehntes Kapitel

Gottwitha sollte die Kühe melken, danach den Stall ausmisten, sich um den Gemüsegarten kümmern, die Wäsche besorgen, das Essen kochen, das Haus reinhalten und obendrein noch Quilte nähen. Ihr Tag begann um 4.30 Uhr. Samuel wachte jeden Morgen um dieselbe Zeit auf. Er griff nach ihr, rüttelte an ihrer Schulter und erklärte regelmäßig: «Der Herr hat einen neuen Tag geschaffen. Wir sollten ihn nutzen.» Und dann sprang er aus dem Bett, wusch sich, rasierte sich, und währenddessen kochte Gottwitha, halbblind und taumelnd vor Müdigkeit, den Milchbrei für das Frühstück. Dann erst wusch sie sich und begab sich in den Stall.

Der Stall beherbergte zwei Dutzend Milchkühe. Auf der linken Seite standen die Tiere der Yoders, auf der rechten Seite die Stoltzfuß-Kühe. Kaum betrat Gottwitha den Stall, schallte schon ein fröhliches «Grüß Gott» durch den Gang. Und dann kam Rebecca auf sie zugeeilt, hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und lachte sie an. Rebecca. Rebecca Yoder. Sie war so alt wie Gottwitha, also gerade 18 Jahre. Sie war die Ehefrau des Nachbarn, Noah Yoder, und im Gegensatz zu Gottwitha und Samuel liebten sich die Yoders von Herzen. Rebecca war stets gutgelaunt, und einmal hatte Gottwitha sie gefragt: «Dankst du dem Herrn jeden Tag aus vollem Herzen für dein Leben?», und Rebecca hatte erwidert: «Natürlich tue ich das. Ich liebe Noah, bin gern in unserer Gemeinschaft, und ich arbeite gern.»

Und Gottwitha hatte geschluckt und erwidert: «Würdest du das auch tun, wenn du meinen Mann und meine Schwiegermutter hättest?»

Rebecca ließ die Forke sinken, mit der sie gerade ausgemistet hatte. Ihr Gesicht wurde beinahe ernst. «Gottwitha, deine Schwiegermutter hatte kein leichtes Leben», erklärte sie.

«Was ist passiert?», wollte Gottwitha wissen.

Rebecca zuckte mit den Schultern, blickte sich im Stall um, dann aber schüttelte sie den Kopf. «Es ist nicht meine Sache, darüber zu sprechen.»

«Und Samuel? Hatte er auch ein schweres Leben?»

Dieses Mal erwiderte Rebecca gar nichts, sondern schaute nur auf den Stallboden. «Du musst ihn selber fragen. Es ist seine Angelegenheit. Aber du kannst mir glauben, dass auch er es nicht leicht gehabt hat.»

Gottwitha breitete die Arme ein wenig aus. «Er spricht nicht mit mir», gab sie zu. «Er erteilt mir Anweisungen, aber er redet niemals mit mir. Manchmal glaube ich gar, dass er kein Herz hat, keine Gefühle.»

Rebecca kam zu ihr, strich ihr sanft über die Schulter. «Ja, das mag so scheinen. Aber ich kann dir versichern, dass Samuel voller Gefühle ist.»

«Woher willst du das wissen? Er behandelt mich, als wäre ich irgendein Kochtopf oder der Wassereimer unter dem Spülstein.»

Wieder blickte sich Rebecca nach allen Seiten um, dann flüsterte sie: «Er war schon einmal verheiratet. Vor dir.»

«Wirklich?» Gottwitha tat sehr erstaunt, obwohl sie dies insgeheim schon lange vermutet hatte.

«Niemand von uns spricht darüber. Es war ein schwerer Schlag für die ganze Familie. Samuel wollte Bischof werden. Nun wird es wohl niemals dazu kommen.»

Gottwitha spürte ein Kribbeln im Rücken. «Erzähle mir genau, was geschehen ist.»

In diesem Augenblick betrat Noah den Stall. Er lachte, als er die beiden jungen Frauen im Gang stehen sah. «Dachte ich es mir doch, dass ihr die Gelegenheit zu einem Schwätzchen nutzt.» Er gab seiner Frau einen knallenden Kuss auf die Wange und nahm ihr die Forke ab. «Ich werde dir ein wenig helfen. Lange wirst du das hier ohnehin nicht mehr machen können.»

Gottwitha verzog fragend das Gesicht, doch Rebecca lächelte nur voller Glück und legte die Hand auf ihren Bauch.

Am Abend, Gottwitha hatte Kartoffeln gekocht und einen Salat aus Bohnen und Zwiebeln gemacht, saß sich das Ehepaar am Küchentisch gegenüber. Wie immer nahmen sie ihre Mahlzeit schweigend ein. Nachdem Samuel das Dankgebet gesprochen hatte, legte Gottwitha ihrem Mann eine Hand auf den Arm. «Du warst schon einmal verheiratet, habe ich gehört.»

Samuel entzog ihr die Hand. «Das hast du also gehört.»

«Ja.»

«Nun, dann weißt du es ja.» Er machte Anstalten, sich zu erheben, aber Gottwitha packte ihn beim Ärmel. «Ich möchte wissen, was passiert ist», verlangte sie.

Samuels Gesicht, gerade noch beinahe ausdruckslos, veränderte sich. Er runzelte die Stirn, zog die Augenbrauen zusammen und den Mund nach unten. «Da gibt es nichts, was du wissen musst.» Seine Stimme war so barsch, dass Gottwitha es nicht wagte, weiter nachzufragen.

«Aber es stimmt, oder?», war alles, was sie rausbrachte.

«Ja. Es stimmt. Doch was vorbei ist, ist vorbei. Und du solltest deine Nase nicht in Angelegenheiten stecken, die dich nichts angehen. Oder hast du nicht genug zu tun?»

Doch, das hatte sie wahrlich. Montags wusch sie die Wäsche, dienstags machte sie Butter, mittwochs putzte sie das Haus, donnerstags buk sie das Brot für die ganze Woche, und freitags kümmerte sie sich um den Gemüsegarten. Dazu kamen das Melken der Kühe, das tägliche Kochen und das abendliche Quiltnähen am Küchentisch. Und danach? O Gott, Gottwitha wollte nicht einmal daran denken. Dann nämlich begaben sie sich zu Bett, löschten das Licht, noch bevor sie ausgezogen waren. Und wenn Gottwitha sich endlich auf das Kissen legte, dann griff Samuels harte Hand nach ihr. Wenig später lag er auf ihr, drang in sie ein und rollte sich auf seine Seite, wenn er fertig war. Sie hatte noch nie ein liebes Wort von ihm gehört, eine zärtliche Geste erlebt. Rebecca hat es gut, dachte sie. Sie führt das Leben, das ich mir für mich gewünscht habe. Sie ist glücklich, ist angekommen. Liegt es daran, dass ich eine Fremde bin? Oder liegt es daran, dass ich seine Großmutter besudelt habe?

Es musste wohl so sein, denn die anderen Männer im Dorf behandelten ihre Frauen mit Respekt und Liebe. Was war geschehen? Früher, vor ihrer Zeit. Was hatte Samuel so verändert? Sie wollte über ihren Mann nachdenken, wollte ihn verstehen, denn sie musste den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen. Aber sosehr sie sich auch mühte, es gelang ihr nicht. Plötzlich fiel ihr das Schränkchen ein, das auf Samuels Seite neben seinem Bett stand. Er hielt es verschlossen, und als Gottwitha ihn einmal fragte, was darin wäre, erklärte er knapp, es wären persönliche Sachen, die sie nichts angingen. Er hatte den Schlüssel abgezogen und trug ihn an einem Lederband um den Hals. Sie seufzte und überlegte, wie sie an den Inhalt des Schränkchens gelangen könnte, und darüber schlief sie ein.

Der nächste Tag war ein Dienstag. Der Tag, an dem die Butter gemacht wurde. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da schleppte Gottwitha schon die schweren Milchkannen in die Milchküche, die sich direkt an den Stall anschloss. Rebecca, wie immer lächelnd, band sich die Butterschürze um, goss die wässrige Flüssigkeit vom Rahm und begann, den Rahm zu stampfen. Sie arbeitete eine Weile, während Gottwitha das Gleiche tat, ehe sie fragte: «Warum kommst du eigentlich am Abend nicht zu uns? Wir spielen Dutch-Blitz und singen am Samstag den Liederkranz.»

«Dutch-Blitz?»

Rebecca hielt kurz inne und schob sich eine Haarsträhne zurück unter die Haube. «Das ist ein Kartenspiel. Es ist leicht zu lernen und macht großen Spaß. Wir lachen viel dabei, weißt du.»

«Lachen?» Gottwitha kam das Wort so fremd vor, als wüsste sie seine Bedeutung nicht mehr. Sie hatte nicht mehr gelacht, seit sie hier war. Ja, sie hatte sogar den Eindruck, dass das Lachen in ihrem Haus als Sünde galt.

«Ist Samuel denn dabei?», wollte sie wissen.

Rebecca schüttelte den Kopf. «Nein. Nicht mehr seit damals. Das ist schade, denn er hat eine wundervolle Stimme. Mit ihm klang der Liederkranz beinahe wie ein Himmelschor. Lässt er dich nicht gehen?»

Gottwitha zuckte mit den Achseln. «Ich weiß nicht. Ich habe ja nicht einmal gewusst, dass ihr euch am Abend trefft.»

«Nun, du bist herzlich eingeladen. Ich würde mich freuen, wenn du kämest.»

«Wer ist denn noch dabei?», fragte Gottwitha.

«Die anderen jungen Frauen des Dorfes. Sarah, Mirjam, Judith, Afra und Barbara.»

Gottwitha nickte. Sarah, die schöne Sarah mit den langen blonden Haaren und dem herzförmigen Gesicht. Sie war Samuels Cousine, und bisher hatte sich Gottwitha von ihr ferngehalten aus Angst, auch sie würde ihr das Besudeln der Leiche, die einst auch ihre Großmutter gewesen war, übelnehmen. Und dann Mirjam. Sie war Rachels jüngere Schwester, war ein mächtiges Weib mit einer mächtigen Stimme, die durch das ganze Dorf schallte, wenn sie eines ihrer Kinder rief. Und die anderen drei. Allesamt verheiratet und Mütter. Oh, wie gern wäre sie wieder einmal unbeschwert und leicht, wie gern würde sie wieder einmal von ganzem Herzen lachen! Seit sie hier war, hatte sie dafür noch keinen Grund gehabt. Es war nicht so, dass Gottwitha durch und durch unglücklich war, aber es war so, dass sie sich vor Samuel ein wenig fürchtete. Er war so verbissen fromm, hielt sich so fest an die Gesetze der Amischen, dass für Frohsinn einfach kein Platz mehr war. Schlimmer noch: Sie befürchtete, ihn mit einem winzigen Lächeln schon zu verärgern. Niemals lachte sie deshalb in seiner Gegenwart, niemals führte sie belanglose Gespräche mit ihm, denn selbst ein paar harmlose, spontane Worte, die keinem erkennbaren Zweck dienten, waren für Samuel schon eine Sünde. Und ihre Schwiegermutter? Nun, wo Gottwitha konnte, mied sie ihre Schwiegermutter. Auch diese war meist barsch, kannte kein Lachen, keine Freude. Und immer, wenn Gottwitha in der Nähe ihres Mannes oder ihrer Schwiegermutter war, dann fühlte sie sich unzulänglich, beinahe schon flatterhaft.

Gottwitha schüttelte den Kopf. Samuel würde sie nicht gehen lassen, das wusste sie jetzt schon.

«Die frühere Frau von Samuel, war sie bei euren Treffen?», wollte Gottwitha wissen.

Rachel hielt erneut inne. «Du solltest mich so etwas nicht fragen, Gottwitha. Du weißt doch: Wenn eine oder einer von der Gemeinde gebannt und verstoßen wurde, so darf man deren Namen nicht mehr nennen, darf nicht mehr darüber sprechen.»

Jetzt wusste Gottwitha es also. Samuels erste Frau war nicht tot, sondern, viel schlimmer, sie war verstoßen worden. Das war furchtbar. Dort, wo sie herkam, in Deutschland, da hatte man einmal einen Mann verstoßen. Zuerst nur für ein paar Monate, später dann für immer. Der Mann war ein Schläger gewesen, ein Spieler und Schlimmeres noch, der sich nicht an Gottes Wort gehalten hat. Die ganze Gemeinde hatte er mit seiner Schande befleckt. Gottwitha war damals noch ein Kind gewesen, das nicht viel davon verstanden hatte. Aber an die Anspannung in der Gemeinde, an die schlechte Stimmung und an das Entsetzen der Erwachsenen konnte sie sich noch gut erinnern. Ein Bann. Das war wirklich das Härteste, was einen Amischen treffen konnte. Und eben das war Samuels Frau geschehen. Sie schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Jetzt begriff sie, warum Samuel so ernsthaft war, wie besessen darauf bedacht, nur ja keinen Anstoß zu erregen. Beinahe tat er ihr leid.